Transkript
INTERVIEW
Schmerzen – Chronifizierung vermeiden
«Der Hausarzt ist die wichtigste Anlaufstelle»
Die Behandlung von Schmerzen ist komplex. Oft geht es nicht nur um die Kupierung eines akuten Schmerzes. Es gilt auch, dessen Chronifizierung zu verhindern. Ist der Schmerz erst einmal chronisch, kommt man ihm kaum oder nur schwer bei, zumal neben biologischen auch psychosoziale Faktoren mitspielen. Worauf zu achten ist und wann die Therapie interdisziplinär und multimodal erfolgen sollte, erklärt Prof. Dr. Konrad Streitberger, Leiter des Schmerzzentrums am Inselspital, Bern, in einem Interview.
to: Inselgruppe)
(Fo
Zur Person
Konrad Streitberger Prof. Dr. med. Konrad Streitberger ist
Facharzt für Anästhesiologie, mit interdisziplinären Schwerpunkten für
Interventionelle Schmerztherapie (SSIPM), Manuelle Medizin (SAMM) und Psychosomatische und Psychoso ziale Medizin (SAPPM) sowie Fähig keitsausweisen in Akupunktur – Chine sische Arzneitherapie – TCM (ASA) und
Point of Care-Ultraschall POCUS (SGUM). Er ist Leitender Arzt der Universitätsklinik für Anästhesiologie und Schmerzmedizin sowie Leiter des Schmerzzentrums des Inselspitals,
Bern.
Wie gut ist die Schweiz in Sachen Schmerzbekämpfung? Im Bereich der Akutschmerztherapie mit Schmerzmedikamenten und Infiltrationen ist die Schweiz sehr gut. Hingegen steckt die Behandlung von chronischen Schmerzen mit interprofessionellen und interdisziplinären Ansätzen einer multimodalen Schmerzthera pie eher noch in den Kinderschuhen. Dazu trägt sicher auch das Tarifsystem bei, das mit dem TARMED bisher attraktiv für die interventio nelle Schmerztherapie war und weniger für integrierte Versorgung mit ambulanten multi modalen Konzepten. Mit dem nun eingeführten TARDOC zeigen sich neue Herausforderungen, indem viele schmerztherapeutische Interven tionen jetzt auch von nicht schmerzmedizinisch ausgebildeten Ärzten abgerechnet werden. Dies führt zu einer weiteren Mengenauswei tung oft auch nicht indizierter Therapien von Ärzten, die nicht dafür ausgebildet sind.
In der Schweiz gibt es eine sehr fundierte Ausbildung für interventionelle Schmerzthe rapie mit Infiltrationen (siehe Linktipps). Die se sollte Voraussetzung für die Durchführung von Interventionen bei Patienten mit chroni schen Schmerzen bleiben. Andererseits ist sie immer noch viel zu wenig in eine interdiszi plinäre Zusammenarbeit und die inzwischen international zum Standard gehörende mul timodale Schmerztherapie eingebunden.
Leider sind gerade an den universitären Einrichtungen diese interdisziplinären und interprofessionellen Angebote aufgrund ei nes zunehmenden Spardrucks und Schwer punkten auf anderen, gewinnbringenderen Therapien gefährdet. Im Vergleich zu EU und USA gibt es sehr wenig durch Drittmittel geförderte Forschungsprojekte im Bereich Schmerzmedizin.
Was müsste sich verbessern? Die Schmerzmedizin in der Schweiz ist immer noch sehr mechanistisch und interventionell orientiert. Im Sinne des wissenschaftlich gut belegten biopsychosozialen Modells der Krankheitsentstehung chronischer Schmer zen müsste bereits frühzeitig bei anhalten den akuten Schmerzen nach psychosozialen Belastungsfaktoren gefragt und diese müss ten in der Behandlung berücksichtigt werden. Es ist einfacher, ein Schmerzmedikament oder eine Spritze zu verabreichen als nachzu schauen, welche Einflüsse psychosoziale Faktoren wie finanzielle Nöte, Schwierigkei ten beim Arbeitsplatz, Stigmatisierungen oder fehlendes soziales Netzwerk haben. Daher müsste ein gesellschaftliches und politisches Interesse bestehen, präventive und gesund heitsfördernde soziale Leistungen wie Case Management und Klinische Soziale Arbeit analog zu anderen medizinischen Professio nen im TARDOC als ärztlich delegierte Leis tung abrechnen zu können. Das würde auch die Grundversorger in ihrer täglichen Arbeit entlasten. Dazu sollten Arbeitgebende, Kran kenversicherer, Taggeldversicherer, Unfall versicherer und Invalidenversicherung (IV) mit den Leistungserbringenden an einem Strang ziehen.
Um diese Situation zu verbessern, arbei ten wir seit über einem Jahr an einem von der Gesundheitsförderung Schweiz geförderten Projekt zur Prävention chronischer Schmerzen (PrePaC; mehr dazu auf S. 461 unter der Frage «Das Schmerzzentrum des Inselspitals hat das Projekt PrePaC ins Leben gerufen. Was ist das Ziel?» sowie ab S. 464).
Für bereits erkrankte Menschen bräuchte es mehr Einrichtungen mit ambulanten und stationären Angeboten für multimodale
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Schmerztherapie, insbesondere auch in uni versitären Einrichtungen. Und schliesslich müssten die Fachgesellschaften, die die Ärzte in der Schmerzmedizin vertreten, an einem Strang ziehen, um einen gemeinsamen, vom Schweizerischen Institut für ärztliche Weiterund Fortbildung (SIWF) anerkannten inter disziplinären Schwerpunkt für Schmerzme dizin zu ermöglichen.
Es gibt nämlich bislang in der Schweiz nur den einen von der FMH tariflich anerkannten Fähigkeitsausweis für interventionelle Schmerz therapie durch die Swiss Society for Inter ventional Pain Management (SSIPM). Für die Akzeptanz des biopsychosozialen Behand lungsmodells bei Fachpersonen wäre es wichtig, einen anerkannten Fähigkeitsausweis auch für nicht interventionell tätige Schmerz mediziner zu entwickeln. Ansatzpunkte hier für bieten verschiedene Ausbildungsmög lichkeiten der Swiss Pain Society (SPS), der Schweizerischen Akademie für Psychosoma tische und Psychosoziale Medizin (SAPPM) und der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin (SAMM), siehe Linktipps. Eine gesamtschweizerische Koordination die ser Aktivitäten mit Ziel eines interdisziplinären Schwerpunktes für Schmerzmedizin würde
aus meiner Sicht wesentlich zu einer optima len Prävention und Behandlung chronischer Schmerzen beitragen.
Welche Altersgruppen sind betroffen? Es können alle Altersgruppen betroffen sein. Eine besondere Herausforderung sind zuneh mend Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen. Für diese gibt es eine eigene Kin derschmerzsprechstunde wie z.B. am Insel spital, in der auch Eltern und das Schulumfeld einbezogen werden.
Am anderen Ende gibt es auch immer mehr alte Patienten mit multiplen degenerativen Erkrankungen am Bewegungsapparat. Dazwi schen gibt es viele Schmerzbetroffene, die durch die Erkrankung gefährdet sind, den Arbeitsplatz zu verlieren, oder die ihn schon verloren haben.
Welche Schmerzen müssen Sie am häufigsten behandeln? Rückenschmerzen sind weltweit die Volks krankheit Nr. 1 mit den meisten Einschrän kungen für die Patienten und gehören damit wahrscheinlich, ohne eine Statistik zu nennen, auch bei mir zu den am häufigsten behandel ten Schmerzen. Dazu kommen auch viele
Patienten mit Schmerzen an grossen Gelen ken wie Schulter, Hüfte und Knie. Oft sind diese muskuloskelettalen Schmerzen aber nicht mehr nur auf eine Region beschränkt. Dies kann dann aufgrund von zentralen Sen sibilisierungsmechanismen zu einer Schmerz ausweitung mit Schmerzen am ganzen Kör per führen. Weiter behandeln wir häufig Patienten mit Nervenschmerzen infolge von Nervenerkrankungen, z.B. Herpes Zoster oder Nervenverletzungen. Auch Kopfschmerzen sind sehr häufig. Doch dafür gibt es eine eigene Kopfschmerzsprechstunde.
Wie wichtig sind Medikamente für die Behandlung? Bei starken akuten Schmerzen, wie z.B. nach schlimmen Verletzungen oder grösseren Ope rationen, sind wir froh, dass es gut wirksame Schmerzmittel gibt, die auch so früh wie möglich eingenommen werden sollen. Dabei hat der kontrollierte Einsatz von Opioiden einen wichtigen Stellenwert. Eine schlechte Schmerztherapie erhöht deutlich das Risiko einer späteren Chronifizierung der Schmerzen. Kurzfristig können Schmerzmedikamente hel fen, einen akuten Schmerz zu überbrücken, bis dieser sowieso nachlässt.
OPTOUT-Studie: Zweiphasiger Entzug bei Opioid-Langzeittherapie
Die Opioid-Langzeitbehandlung hat sich in den Industrieländern zu einer zunehmenden Belastung für viele Patienten wie auch für die Gesellschaft entwickelt. Beispielhaft wird in einer kürzlich im «European Journal of Pain» publizierten Studie des Inselspitals von einer Patientin berichtet, die für ihre chronischen Schmerzen mit Fentanyl ein Opioid verschrieben bekommen hatte, für das die Krankenkasse jährlich ca. CHF 150 000 bezahlt hat (1).
Gemäss Studienleiter Prof. Dr. Konrad Streitberger ist das leider kein Einzelfall: «Wir sehen immer wieder Patienten, die hohe Dosierungen von Opioiden einnehmen, trotzdem starke Schmerzen und Nebenwirkungen haben und diese Schmerz mittel nicht absetzen können». Für diese Patienten gibt es in der Schweiz kaum Einrichtungen, die einen Opioidentzug mit gleichzeitiger Schmerzbehandlung anbieten. Daher hat das Schmerzzentrum des Inselspitals 2018 ein interdisziplinäres und interprofessionelles stationäres Entzugsprogramm für Menschen mit nicht krebsbedingten chronischen Schmerzen und Opioid-Langzeitbehandlung gestartet und wissenschaftlich begleitet. In der nun publizierten Studie werden die Ergeb nisse von 38 Patienten vorgestellt, die mehr als sechs Monate lang hochdosiert Opioide eingenommen haben und ambu lant nicht entzogen werden konnten. Das für die Studie entwickelte stationäre Entzugsprogramm umfasste einen medika mentösen Entzug auf der allgemein-internistischen Abteilung und anschliessend eine multimodale Schmerztherapie auf der psychosomatischen Station. Der Entzug war erfolgreich bei 32 Studienteilnehmenden (84%), von denen auch nach drei Monaten 23 weiter keine Opioide einnahmen. Das Spannende daran: Die Schmerzen waren nach dem Entzug nicht schlim mer als vorher, bei manchen Patienten sogar deutlich besser. Viel wichtiger ist laut Prof. Streitberger, dass die Patienten im Rahmen der multimodalen Schmerztherapie mithilfe einer koordinierten, interprofessionellen ärztlichen, psychologi schen, physiotherapeutischen, pflegerischen und sozialberatenden Behandlung lernen konnten, auch ohne Opioide mit den Schmerzen im Leben umzugehen. Besser wäre, wenn Schmerzpatienten Zugang zu einem multimodalen Programm hätten, bevor sie mit Opioiden behandelt werden.
Referenz: 1. Streitberger K et al.: Two-Phase Inpatient Withdrawal Programme for Long-Term Opioid Use in Non-Cancer Pain. Eur J Pain. 2025;29(5):e70010. doi:10.1002/ejp.70010
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Bei chronischen Schmerzen muss die Ein nahme von Schmerzmitteln immer hinterfragt und ärztlich begleitet werden. Sorgen macht mir dabei vor allem die zunehmende Nutzung von starken Schmerzmitteln wie z.B. Opioiden bei chronischen Schmerzen. Hier wirken diese oft nicht mehr gegen die Schmerzen, und es besteht ein hohes Risiko für eine Medikamen tenabhängigkeit (siehe auch Kasten «OPTOUT- Studie»).
Richtig problematisch wird es immer dann, wenn der Griff zum Schmerzmittel zur Gewohn heit wird. Je nach Mittel können verschiedene Probleme dabei auftreten. Sogar das scheinbar harmlose Paracetamol kann bei einer regel mässigen Anwendung bei Kopfschmerz an mehr als zehn Tagen pro Monat zu chronischen Kopfschmerzen führen. Bei einer Überdosie rung droht sogar ein tödlicher Leberschaden. Nach längerer regelmässiger Einnahme haben Entzündungshemmer wie z.B. Ibuprofen zu dem ein erhöhtes Risiko für Magengeschwüre. Opioide wie z.B. Oxycodon machen zwar keine Magengeschwüre, dafür führen sie zu einer Toleranzentwicklung, d.h., sie wirken mit der Zeit nicht mehr so gut und werden dann bis zu gefährlichen Dosierungen gesteigert, die zu dem meistens kaum noch gegen die chroni schen Schmerzen helfen. Das ganze Ausmass des Problems hat sich in der Opioidkrise in den USA gezeigt. Daher bin ich froh, dass die Abgabe von Opioiden in der Schweiz streng reglementiert ist.
Wie wichtig sind alternative Methoden für die Behandlung? Alternative Methoden können dabei helfen, Medikamente zu reduzieren oder auch ganz abzusetzen bzw. gar nicht erst einzusetzen. Akupunktur, verschiedene Entspannungsthe rapien und Hypnose gehören zu den wissen schaftlich gut untersuchten Methoden, die teilweise mindestens so gute Wirkung wie Medikamente mit wesentlich geringeren Nebenwirkungen zeigen. Sicher gibt es dabei auch einen grossen Plazeboeffekt. Wichtig ist aber zu sehen, dass diese Methoden auch ganzheitlich wirken und den Patienten eine Möglichkeit zur Selbstwirksamkeit bieten.
Welche Schmerzen lassen sich gut mit Medikamenten behandeln und welche nicht? Akute Schmerzen lassen sich relativ gut mit Schmerzmedikamenten behandeln, bei chroni schen Schmerzen helfen diese oft nicht mehr
(siehe auch Frage «Wie wichtig sind Medikamente für die Behandlung?», S. 460).
Wie viel Selbstmedikation darf sein? Eine Selbstmedikation mit Schmerzmitteln sollte nur kurzfristig und nur dann erfolgen, wenn die Ursache der Schmerzen bekannt ist. Eine längerfristige Schmerzmitteleinnahme sollte in regelmässigen Abständen ärztlich kontrolliert werden.
Wo ist die Grenze? Die Grenze ist individuell je nach Medikament. Wichtige Grundregeln sind z.B.: • Bei Kopfschmerzen nie häufiger als an zehn
Tagen pro Monat Schmerzmedikamente ein nehmen, da sonst medikamenteninduzierte Kopfschmerzen auftreten können. • Paracetamol nie mehr als 4 × 1 g pro Tag einnehmen. Wichtig dabei ist zu beachten, dass es auch Kombinationspräparate gibt, bei denen nicht direkt ersichtlich ist, dass sie Paracetamol enthalten. • Keine Kombination von Schmerzmitteln ohne ärztliche Verordnung oder Begleitung einnehmen.
Welche Fehler kommen bei der Selbstmedikation am häufigsten vor? Ich verweise hier auch auf die vorangehende Frage.
Die gleichzeitige Einnahme von mehreren Medikamenten aus einer Wirkgruppe, wie z.B. Diclofenac und Ibuprofen als Entzündungs hemmer, ist ein häufiger Fehler, der zu ver mehrten Nebenwirkungen führen kann.
Stundenlang am Computer sitzen, Akkord arbeit oder Stress am Arbeitsplatz führen zu Verspannungen und Schmerzen, die für die Arbeit extrem störend sind. Da helfen Schmerz mittel erst einmal, um weiter zu funktionieren. Bestehen Schmerz und Stress fort, kommt es zur chronischen Schmerzerkrankung, bei der keine Schmerzmittel mehr helfen – doch aus Gewohnheit und infolge falscher Therapie wer den auch längerfristig haufenweise Schmerz mittel eingenommen.
Jemand leidet unter wiederkehrenden Rücken- oder Kopfschmerzen. Vieles wurde schon versucht, nichts hilft richtig. Was soll die Person tun? Sie kann sich erst einmal überlegen, ob alle Faktoren berücksichtigt wurden: • Ursachenabklärung: Gibt es eine für mich
verständliche Erklärung, woher die Schmer
zen kommen? Welche Abklärungen wären mir noch wichtig? Was erwarte ich davon? Gibt es widersprüchliche Aussagen von ver schiedenen Ärzten, die mich verunsichern? • Einflussfaktoren: Habe ich psychische oder soziale Stressfaktoren oder Ängste, die meine Schmerzen verstärken können? Kann ich diese selbst beeinflussen oder benötige ich dafür professionelle Hilfe? Siehe auch Ultra-Kurz-Screening (UKS) zur Selbstein schätzung psychosozialer Problemlagen (Linktipps). • Bisherige Therapien: Was habe ich alles gemacht? Wie konsequent war ich dabei? Was hat am ehesten geholfen?
Danach sollte die Person ihre Überlegungen mit ihrem Hausarzt besprechen. Dieser kann dann darauf eingehen und überlegen, ob Spe zialisten einbezogen werden sollten. Häufig hilft in solchen Fällen eine interdisziplinäre Schmerzsprechstunde mit verschiedenen Fach spezialisten, die sich absprechen und eine gemeinsame Empfehlung geben.
Oft ist eine ambulante oder stationäre multimodale Schmerztherapie sinnvoll, bei der Ärzte nach Bedarf mit Fachkräften verschie dener anderer Professionen wie z.B. Physio therapeuten, Psychologen, Pain Nurses und Sozialarbeitern in einem abgestimmten Pro gramm eng zusammenarbeiten.
Das Schmerzzentrum des Inselspitals hat das Projekt PrePaC ins Leben gerufen. Was ist das Ziel? Wir wollen in erster Linie Aufklärung zum Umgang mit Schmerzen bieten und vernetzte Behandlungsmöglichkeiten schaffen, damit sich Patienten ihren Schmerzen nicht ausge liefert fühlen und aktiv in die Prävention einer Chronifizierung einbezogen werden.
Das Projekt PrePaC (Prevention of Pain Chronification; siehe auch ab S. 464) wird durch die Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt. Es basiert auf der Erkenntnis, dass der Griff in den Medikamentenschrank, zur Spritze oder gar zum Skalpell sehr oft nicht ausreicht, um den von Schmerz betrof fenen Patienten nachhaltig zu helfen. Insbe sondere für Patienten mit psychosozialen Risikofaktoren ist ein interdisziplinärer Ansatz oft der einzige Weg, eine Chronifizierung der Schmerzen zu verhindern oder zumindest zu lindern. PrePaC rückt deshalb das Zusammen spiel von biologischen, psychischen und sozi alen Faktoren in den Vordergrund. Das Projekt
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setzt auf Angebote wie eine frühe aktive Physiotherapie und eine sozialmedizinische Sprechstunde, die Mediziner gemeinsam mit Sozialarbeitern führen. Letztere eröffnet die Möglichkeit, Schmerzpatienten ganzheitlich zu betrachten und zu unterstützen.
Dabei ist für uns auch klar, dass der Haus arzt die wichtigste Anlaufstelle ist, denn er kennt seine Patienten am besten und kann koordinieren, welche Behandlungen notwen dig sind. Spätestens wenn eine Schmerzpro blematik länger als einen Monat andauert, sollte er mögliche psychosoziale Probleme erkennen und gegebenenfalls eine psycho logische und/oder soziale Beurteilung und Beratung in die Wege leiten. Wir wollen Haus ärzte unterstützen, bereits in der Grundversor gung der Entwicklung chronischer Schmerzen rechtzeitig entgegenzuwirken.
Warum können Schmerzen überhaupt chronisch werden? Anhaltende Schmerzreize in Verbindung mit emotional negativen Assoziationen und Stress führen zu einer übermässigen Sensibilisie rung im zentralen Nervensystem. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass sich bei chronischen Schmerzen ma trixförmig die neuronalen Verbindungen in den Bereichen der Schmerzwahrnehmung und dem emotionalen Empfinden verän dern. Dabei spielt die biologische, psychi sche und soziale Resilienz der Betroffenen eine entscheidende Rolle. Angst, Ablehnung aus dem näheren Umfeld oder negative Denkmuster verstärken die Schmerzchroni fizierung. Wir erklären die verschiedenen Einflüsse auf die Schmerzwahrnehmung in unserer Sprechstunde mit dem biopsycho sozialen Modell. Dieses Modell ist auch die Grundlage für das Verständnis von chroni schem Schmerz als eigenständiger Erkran kung, wie er nun auch in der ICD-11 (Inter national Classification of Diseases, 11th Revision) klassifiziert werden kann.
Was versteht man unter dem Schmerzgedächtnis? Anhaltender oder wiederholt auftretender Schmerz kann wie beim Gedächtnis zu neuen Nervenzellverbindungen führen, die Schmerz auch nur durch leichte oder ohne neue Schmerzreize schneller und direkter auslö sen. Dabei entsteht eine zentrale Sensibili sierung mit Überempfindlichkeit auf ver schiedene Reize.
Wie bringt man das Hirn dazu, Schmerzen wieder zu vergessen? Das Wichtigste ist dabei, Ängste und Stress zu reduzieren und dem Schmerz so wenig wie möglich Raum zu geben, sich zu entfalten. Es gibt Übungen, über die die negativen Assozia tionen mit Schmerz neutralisiert werden kön nen und der Schmerz in den Hintergrund ge rückt wird. Dadurch kann es auch längerfristig zu einem Vergessen der Bedrohung durch den Schmerz und zu einer reduzierten Schmerz wahrnehmung kommen. • Mit Achtsamkeit kann die Körperwahrneh
mung positiv beeinflusst werden. Dabei kann durch bewusstes Wahrnehmen von schmerzfreien Körperstellen der Fokus vom eigentlichen Schmerz weggenommen und dieser dadurch auch weniger wahrgenom men werden. • Mit Selbsthypnose kann ein Trancezustand erreicht werden, in dem Schmerz direkt nicht mehr als unangenehm bedrohlich wahrgenommen wird. • Mit Atemübungen wird die Ausatmung bewusst verlängert, um einen Entspan nungszustand zu erreichen. Es hat sich dabei auch gezeigt, dass während der Ausatmung Schmerz weniger stark wahrgenommen wird.
Warum ist es verkehrt, sich nicht mehr zu bewegen, wenn man Schmerzen hat? Eine einfache Erklärung ist die Erfahrung, dass fehlende Bewegung zu erhöhter Muskel anspannung und Versteifung der Gelenke führt. Dadurch kommt es zu mehr Schmerzen und dann wieder zu vermehrter Muskelspannung.
Es ist aber noch etwas komplizierter. Bewe gungsreize haben auf Ebene des Rückenmarks hemmende Effekte auf die Schmerzweiterlei tung (Aktivierung schmerzhemmender Nerven). Fallen diese weg, werden zudem erregende Nervenzellen aktiviert, die eine Schmerzwei terleitung begünstigen. Bestätigung findet die Theorie in Resultaten aus der klinischen For schung, die zeigen, dass sich wegen Schmer zen nicht mehr zu bewegen einschneidende Konsequenzen hat (Zunahme der Behinderung und sozialen Exklusion) und dass Strategien, die darauf abzielen, sich trotz Schmerzen zu bewegen, diese verhindern.
Hatten Sie schon Fälle, die hoffnungslos schienen und bei denen es trotzdem eine Besserung oder Heilung gab?
Viele Patienten, die zu uns kommen, erschei nen hoffnungslos. Die Kunst ist, ihnen nicht eine Hoffnung auf Heilung, die oft wieder ent täuscht wird, zu geben, sondern eine realisti sche Hoffnung, mit ihrer Erkrankung umgehen zu können und dabei wieder Lebensqualität zu gewinnen. Auch dann habe ich Patienten gesehen, die wieder schmerzfreie Phasen er lebten. Häufig werden die Schmerzen auch besser, wenn Stresssituationen nachlassen, z.B. wenn die finanzielle Absicherung durch eine Rente geklärt ist.
Worüber staunen Sie in Ihrem Job am meisten? Welche unglaublichen Schicksale es gibt, die zu chronischen Schmerzen führen und über Patienten, die mit schwersten chronischen Schmerzen so umgehen können, dass sie Spass am Leben haben.
Das Interview führte Christine Mücke.
LINKTIPPS
Ausbildung interventionelle Schmerztherapie, Swiss Society for Interventional Pain Management (SSPIM)
Swiss Pain Society (SPS)
Schweizerische Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM)
Schweizerische Ärztege sellschaft für Manuelle Medizin (SAMM)
Ulta-Kurz-Screening Schmerzprävention
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