Transkript
INTERVIEW
Im Gespräch mit Prof. Thomas Lüscher
«Man muss für seine Arbeit brennen»
Alljährlich findet der Kongress der European Society of Cardiology (ESC) statt, in diesem Jahr in Madrid. Er ist mittlerweile einer der grössten Medizinkongresse weltweit. Zurzeit wird er von Prof. Dr. Thomas F. Lüscher, Zürich/London, präsidiert. Zum Kongress, über die Entwicklung der europäischen und der Forschung in der Schweiz, die künstliche Intelligenz in der Kardiologie und die weiteren Projekte der europäischen Kardiologie-Gesellschaft sprach der ESC-Präsident im Interview mit «Ars Medici».
(Foto: zVg)
Zur Person
Thomas Lüscher Prof. Dr. Thomas F. Lüscher, vormals
Direktor der Kardiologie und des Herzzentrums am Universitätsspital Zürich, jetzt Forschungs- und Ausbil-
dungsleiter Kardiologie im Royal Brompton Hospital und King’s College
und Imperial College London sowie Chairman des Center for Molecular Cardiology der Universität Zürich,
Campus Schlieren, ist seit 2024 Präsident der European Society of
Cardiology (ESC).
Der ESC-Kongress ist vorbei, was ist Ihre Bilanz? Prof. Thomas Lüscher: Das war der erfolgreichste Kongress, den wir je hatten. Wir hatten 33 300 Teilnehmer aus 167 Ländern. Darunter sogar 123 aus der Ukraine, was mich sehr berührt hat. Über 1600 Teilnehmer kamen aus den USA – trotz Ängsten bezüglich Rückreisemöglichkeiten im jetzigen Umfeld – und etwa 2800 aus Lateinamerika. Die Schweiz rangierte mit 900 Teilnehmern an sechster Stelle. Wir hatten 1100 Vorträge, darunter 10 Hotline-Ses sions mit vielen neuen Studien. Davon wurden 20 im «New England Journal of Medicine» simultan publiziert – ein absoluter Rekord – und 33 im «European Heart Journal», davon auch eine Studie aus meiner Gruppe. Weitere simultane Publikationen von LateBreaking-Studien erschienen im «Lancet» und im «JAMA». Ich muss sagen, alle waren begeistert. Ich habe noch selten so viele Komplimente erhalten.
Was war das Wichtigste an diesem Kongress? In diesem Jahr wurden fünf Guidelines vorgestellt. Ich glaube, die meisten Ärzte waren interessiert an jenen über Klappenerkrankungen und Dyslipidämien. Myokarditis und Perikarditis sind eher selten, aber klinisch wichtig. Neu als Thema haben wir Schwangerschaft bei kardiovaskulären Erkrankungen aufgenommen, doch hat das wohl etwas weniger Teilnehmer interessiert. Auch neu war das Thema psychische Gesundheit, wozu es ein klinisches Konsensus-Papier gab. Es ist ein sehr wichtiges Thema, leider gibt es noch nicht so viel Evidenz dazu.
Was waren Ihre persönlichen Highlights? Ein Highlight war zweifellos die Aufwartung Seiner Majestät des Königs von Spanien, Don Felipe VI. Die Sicherheitsvorkehrungen dafür waren enorm, und wir mussten Spalier laufen. Das war eine ziemlich interessante Erfahrung. Am Kongress waren weiter alle 48 nationalen Kardiologiegesellschaften der ESC vertreten. Wir haben überdies 47 «affiliated Societies», darunter auch China, das sich wissenschaftlich so stark entwickelt, dass wir ein Büro in Peking eröffnet haben. Erfreulicherweise hat die ESC fast eine halbe Million Euro für Travel Grants für junge Teilnehmer aus diesen Ländern bereitgestellt.
Sie haben ein ESC-ConsensusStatement zu Impfungen als kardiovaskuläre Prävention verfasst ... Man weiss aus der Corona-Zeit aus einer israelischen Studie, dass Geimpfte weniger kardiovaskuläre Ereignisse erleiden als Ungeimpfte. Auch die Influenzaimpfung ist nicht nur gut gegen Influenza, sondern sie reduziert auch kardiovaskuläre Ereignisse. Der Grund dafür ist, dass jede Infektion einen Entzündungsschub auslöst, der Plaques destabilisiert und Plaquerupturen oder Erosionen und damit gegebenenfalls Myokardinfarkte induziert. Das lässt sich mit Impfungen verhindern, weshalb die ESC Impfungen bei kardiovaskulären Patienten empfiehlt. Eigentlich sollte man allen Patienten raten, sich alljährlich gegen Influenza und gegen COVID-19 zu impfen. Die Krankheit einfach zu durchseuchen ist wegen des Risikos für Plaqueruptur eine schlechte Alternative, gerade bei Älteren, die bereits eine Athero-
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INTERVIEW
sklerose haben. Die Empfehlung gilt auch für die Pneumokokken- und RSV-Impfung und theoretisch für alle Impfungen. Denn der Mechanismus ist überall derselbe.
Die künstliche Intelligenz etabliert sich mehr und mehr. Welchen Stellenwert hat sie heute in der Kardiologie? Künstliche Intelligenz ist ein wichtiges Werkzeug. Wir haben sie beispielsweise in die ESC-Guidelines integriert. Die Guidelines sind zweifellos das wichtigste Produkt der ESC. Sie generieren acht Millionen Downloads pro Jahr. Es ist aber niemandem wirklich möglich, diese Werke mit teilweise
«Man stellt dem Chatbot eine klinische Frage (...) und erhält mit der KI die Antwort mit Quellenangabe»
über hundert Seiten zu lesen, wenn es darum geht, eine klinische Frage zu lösen. Deshalb haben wir im letzten Jahr prioritär ein Tool mit künstlicher Intelligenz (KI) entwickelt, das erlaubt, auf eine klinische Frage eine Guideline- bzw. evidenzbasierte Antwort zu erhalten. Herausgekommen ist das Produkt «ESC Chat – Your Guidelines Companion», das bereits verfügbar ist (Kasten). Man stellt dem Chatbot eine klinische Frage, und die KI durchsucht die Guidelines und präsentiert die Antwort mit Quellenangabe. Die Fragen können in mehreren Sprachen gestellt werden, die Antworten sind aber auf Englisch.
Welche weiteren Ziele haben Sie sich für Ihre Präsidentschaft noch vorgenommen? Die ESC hat mehr Projekte als je zuvor. Das Hauptprojekt ist natürlich der «European Union Cardiovascular Health Plan». Damit bin ich ziemlich in der Politik gelandet. Ich habe mit europäischen Gesundheitsministern und Gesundheitskommissionsmitgliedern zu tun, und ich möchte die europäische Forschung wieder voranbringen. Denn was Europa in der Vergangenheit in der kardiovaskulären Medizin geleistet hat, ist phänomenal. Das soll wieder so werden. Wir hoffen, dass wir von der EU einige Milliarden für die kardiovaskuläre Forschung gesprochen erhalten. Das Budget für HORIZON wurde bereits verdoppelt – das sind schon einmal gute Nachrichten.
Ein weiteres Projekt ist der sogenannte «Digital Twin» des Patienten. Das ist eine Art digitaler Co-Pilot für den Patienten, der auf dem Mobiltelefon alle Dokumente enthält und mittels KI alle Fragen beantwortet und ihm sagt, was er, im Moment in der sekundären Prävention nach Infarkt, machen soll.
Wir veranstalten auch neue Kongresse, wie beispielsweise den KardioonkologieKongress im Juni in Florenz oder den «Digital Health & AI»-Kongress in Berlin im November, zu dem vielleicht Mario Draghi kommt.
Eine weitere, ja historische Entscheidung ist, dass wir die Kongresse rund um die interventionelle Kardiologie nun selber veranstalten wollen. Das erlaubt der EAPCI, der Assoziation für interventionelle Kardiologie der ESC, einen eigenen Kongress – erstmals als «EAPCI Interventional Summit» in München im Februar 2026 – und weitere Fortbildungen zu organisieren. Das ist nun alles aufgegleist.
Ein weiteres Projekt ist der «Health Check», der damit in Europa einheitlich als
EU-Policy verwendet werden soll. Darin enthalten sind nicht nur die Messung von Lipiden, Blutdruck und des HbA1c, sondern auch des Kreatinins und des Lp(a). In Planung ist auch eine Guideline zur Adipositas.
«Die Generation, die
derzeit in der Schweiz
in Führungspositionen
der Kardiologie tätig ist,
ist sehr gut vertreten.»
Wie steht es um die Schweizer Kardiologie? Die Generation, die derzeit in der Schweiz in Führungspositionen der Kardiologie tätig ist, ist sehr gut vertreten. Bei den Meistzitierten sind Schweizer Kardiologen weit oben. Das erfordert natürlich viel Engagement und passt nicht in einen Nine-to-Five-Job oder in eine ausgewogene Work-Life-Balance. Es ist eine Entscheidung, man muss für seine Arbeit brennen. Nur so kann man innovative Forschung betreiben. Wenn Präsident Eisenhower heute seinen Herzinfarkt gehabt hätte, wäre er mit einem Stent nach vier Tagen wieder im Oval Office gesessen. Vor 60 Jahren war das meist ein Todesurteil. Die ESC, die in diesem Jahr ihr 75-jähriges Bestehen feiert, blickt auf eindrückliche, vorwiegend europäische Forschungserfolge zurück, wie z.B. den Schrittmacher, die Ballon angioplastie, danach mit einem Stent, den perkutanen Klappenersatz der Pulmonalund später der Aortenklappe, den MitraClip und schliesslich den TriClip und nicht zuletzt die Ablation des Vorhofflimmerns. Solche Erfolge entstehen nicht nebenher.
ESC Guideline Chat
Auf eine klinische Frage durchforstet der Chatbot mittels künstlicher Intelligenz alle bestehenden ESC-Guidelines. Die Antwort enthält die entsprechenden Passagen der Guideline mit Quellenangabe.
Das Interview führten Christine Mücke und Valérie Herzog.
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