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FOKUS ERNÄHRUNGSMEDIZIN
Ultraprozessierte Nahrungsmittel
UPF – Was ist wirklich schädlich?
Die NOVA-Klassifikation teilt die Lebensmittel in vier Kategorien ein. Eine Assoziation zwischen dem Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln (UPF) und negativen gesundheitlichen Folgen konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden. Doch welche Charakteristika von UPF für die Auswirkungen verantwortlich sind, ist nicht restlos geklärt. Prof. Dr. David Fäh, Dozent an der Berner Fachhochschule für Gesundheit, präsentierte aktuelle Forschungsresultate und diskutierte offene Fragen.
Es gibt keine rechtlich verbindliche Definition von UltraProcessed Food (UPF). Grundsätzlich versteht man darunter industriell stark prozessierte Lebensmittel. Sie werden mit Produktionsmethoden und Zusatzstoffen hergestellt, die in der privaten Küche nicht möglich sind. Bei den Zusatzstoffen handelt es sich nicht nur um Substanzen, die für Sicherheit und Haltbarkeit nötig sind, sondern auch kosmetische, die zur Geschmacksverstärkung und optischen Attraktivität beitragen. Eine Studie zeigte, dass bei UPF 82% der Produkte einen oder mehrere kosmetische Zusatzstoffe wie Farbstoffe, Aromastoffe, Emulgatoren oder Süssungsmittel enthalten (1). Zudem hat der Anteil an Zusatzstoffen in den letzten Jahren zugenommen (2). Auch können den Produkten nicht notwendige Mikronährstoffe aus Promo tionsgründen zugesetzt werden.
NOVA-Klassifikation Die Klassifikation von Monteiro teilt die Nahrungsmittel in vier Gruppen ein (3). Eine Übersicht bietet Tabelle 1. Die Einteilung blieb nicht unwidersprochen (4), doch bisher konnte sich keine andere Klassifikation durchsetzen. Gerade die Differenzierung zwischen NOVA-3 und NOVA-4 ist schwierig, es sind viele arbiträre Entscheidungen nötig.
Wer konsumiert wie viel UPF? UPF werden global konsumiert. In den USA, Kanada, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich bestehen 40–60% der Ernährung aus UPF. Innerhalb von Europa gibt es ein starkes Nord-Süd-Gefälle, mit einem höheren Konsum in nördlichen Ländern, v.a. im Vereinigten Königreich, und einem höheren Anteil weniger verarbeiteter Lebens-
KURZ UND BÜNDIG
• Ultraprozessierte Lebensmittel (UPF) haben einen grossen Anteil an der Ernährung.
• UPF erhalten einen hohen, wohl auch zunehmenden Anteil an Zusatzstoffen.
• Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von UPF und kardio-metabolischen Krankheiten.
• Welche Massnahmen helfen, ungesunde UPF zu reduzieren, ist kontrovers.
mittel in südlichen Ländern (5–8). Die Schweiz liegt mit 26% UPF-Anteil etwa dazwischen. Allerdings ist der Ländervergleich schwierig. Die meisten Daten beruhen auf Einkaufsdaten und nicht auf Konsumzahlen (9).
Man vermutet, dass der Anteil an UPF an der Ernährung weiter zunehmen wird. Schichtarbeit, längere Pendlerstrecken, der höhere Anteil an Single-Haushalten und der Verlust der Ernährungskultur sind wichtige Faktoren. Es gibt aber wenig verlässliche Daten. Die NHANES-Studie (10) zeigt, dass der Konsum von UPF auf hohem Niveau stabil bleibt, während der Konsum von minimal prozessierten Nahrungsmitteln tendenziell abnimmt, wobei der Trend bei Männern ausgeprägter ist (11).
In der Schweiz gibt es kein Monitoring. Einen Hinweis kann das Natrium-Kalium-Verhältnis im Urin geben. UPF sind bis zu 80% verantwortlich für die Natriumzufuhr, hingegen erhöhen Gemüse und Früchte das Kalium. In der Swiss Salt Study 2 zeigte sich, dass Männer einen höheren NatriumKalium-Quotienten aufwiesen, was auf einen höheren Anteil an UPF zulasten von Früchten und Gemüsen hinweist, dies war besonders ausgeprägt bei den 18–29-Jährigen (12).
Machen UPF krank? Ein Zusammenhang zwischen dem Konsum von UPF und metabolischen Risiken und Erkrankungen konnte in einer Metaanalyse gezeigt werden. Es gab klar mehr Fälle von Adipositas, Typ-2-Diabetes, kardiovaskulären Erkrankungen und allgemeiner Mortalität bei Personen, die viel UPF konsumierten, verglichen mit solchen, die sehr wenige einnahmen. Allerdings sind dies nur Korrelationen und nicht unbedingt kausale Beziehungen (13).
Bei den UPF zeigt sich vor allem eine Assoziation bei tierischen UPF und gesüssten Getränken, auch wenn der Effekt nicht sehr gross war. Auch ist es heikel, die verschiedenen Lebensmittelgruppen getrennt zu betrachten. Ohne das gesamte Ernährungsmuster und den Lebensstil vollumfänglich mitberücksichtigen zu können (14).
Eine interessante Studie liess leicht übergewichtige Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) > 27 kg/m2 während zweier Wochen entweder ausschliesslich UPF oder unverarbeitete Lebensmittel essen, die Menge war nicht festgelegt. In der UPF-Gruppe war die tägliche Kalorienmenge um 500 kcal höher, was in einer Gewichtszunahme von 1 kg in
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FOKUS ERNÄHRUNGSMEDIZIN
Tabelle 1: NOVA-Klassifikation nach Monteiro
NOVA 1
NOVA 2
nicht oder minimal verarbeitet verarbeitete Küchenzutaten
z.B. schälen, zerkleinern
natürliche Zutaten NOVA-1 werden zubereitet (Salz, Zucker, Öl, Butter, Essig)
NOVA 3
NOVA 4
verarbeitete Lebensmittel
hochverarbeitete Nahrungsmittel und Getränke
Kombination von NOVA-1 und NOVA-2 (z.B. Nüsse rösten und salzen oder Kartoffeln in Fett anbraten)
industrielle Verarbeitung mit nicht allgemein verfügbaren Zutaten (z.B. Kekse, Wurst, pflanzlicher Fleischersatz)
den zwei Wochen resultierte, die andere Gruppe hingegen verlor 1 kg (15). Die zusätzliche Kalorienaufnahme war durch eine vermehrte Kohlenhydrat- und Fettaufnahme bedingt. Das ist im Einklang mit der «Protein-Leverage- Hypothese», die besagt, dass wir erst aufhören zu essen, wenn der Eiweissbedarf gedeckt ist (16).
UPF – welche Faktoren sind verantwortlich? Verschiedene Faktoren der UPF werden als Ursache für die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit diskutiert (14). UPF haben im Schnitt einen höheren Anteil an Salz, Zucker, gesättigten Fetten und Kalorien, mit einem geringeren Anteil an Fasern, Vitaminen und anderen Mikronährstoffen.
Die Food-Matrix der Textur ist so verändert, dass weniger gekaut werden muss und schneller gegessen werden kann (15,17,18). So wird mehr Nahrung aufgenommen, bis die Sättigung eintritt, was zur Gewichtszunahme beiträgt. Auch gewisse Stoffe, die Schmackhaftigkeit und Attraktivität fördern, können zum Überkonsum führen.
Es muss weiter untersucht werden, ob bestimmte Stoffe in den UPF für die ungünstigen Auswirkungen verantwortlich sind. So können während des industriellen Verarbeitungsprozesses schädliche Stoffe wie Acrylamid oder Transfettsäuren entstehen. Auch Zusatzstoffe wie Farbstoffe, Süssstoffe, Emulgatoren oder Geschmacksverstärker könnten einen ungünstigen Einfluss haben. Zudem können vom Verpackungsmaterial schädliche Stoffe wie Bisphenole, Phthalate, Mineralöle oder andere Substanzen in die Nahrungsmittel migrieren, besonders wenn dieses einen hohen Fettanteil hat.
Noch am Anfang steht die Forschung zu den Folgen von UPF auf das Mikrobiom und für den Stoffwechsel. Beim Wechsel auf eine Ernährung mit möglichst wenig prozessierten Nahrungsmitteln kann die Diversität des Mikrobioms verbessert werden. Dies korreliert mit Verbesserungen im Stoffwechsel (18).
Verarbeitete Lebensmittel – Vorteile und Nachteile Viele Faktoren von UPF bergen Risiken. Doch die Definition der UPF wird aktuell sehr breit gefasst, die höchste Kategorie 4 umfasst unproblematische bis hochproblematische Produkte (19). Deshalb ist es wichtig, die Klassifikation zu verbessern.
Man sollte die UPF also kritisch, aber nüchtern beurteilen und die Vor- und Nachteile vorurteilsfrei prüfen.
Für gewisse Nahrungsmittel bringt die Verarbeitung auch Vorteile. So liefern rohe Karotten praktisch kein Betakarotin, sind die Karotten zerkleinert, gekocht und mit Fett angereichert, ist Betakarotin besser verfügbar.
Auch Sporternährung ist zu einem hohen Prozentsatz verarbeitet. Hier ist es sinnvoll, die benötigte Energie und die Mikronährstoffe in konzentrierter Form anzubieten (20,21).
Neues Label? Ein neues Label mit der NOVA-Klassifikation 1–4 hat sich nicht durchgesetzt. Diskutiert wird, ob man bei UPF den Nutri-Score mit einem schwarzen Rahmen ergänzen könnte (14). Allerdings ist der Anteil von UPF bei Nutri-Score A–C gering. Aufgrund des Gehalts an Salz, Zucker und Fett werden die meisten UPF mit dem Nutri-Score – meist mit D und E – gut abgebildet. Hier könnte ein obligatorisches Labeling aller Lebensmittel auch Druck auf die Industrie ausüben, die Rezeptur des Nahrungsmittels zu verbessern, z.B. nach dem Vorbild Chiles oder Kanadas.
Ebenfalls charakteristisch für ein UPF ist eine lange Zutatenliste oder eine lange Haltbarkeit ohne Kühlung.
Sicher kritisch sind die Fantasie-Labels zu beurteilen, die einen gesundheitlichen Wert suggerieren, «ohne Kristallzucker» oder «ohne Zuckerzusatz» sind typische Werbebotschaften. Ein Blick auf die Zutatenliste zeigt meist, dass der Zuckergehalt dennoch hoch ist.
Weitere Forschung nötig Die verschiedenen UPF haben sehr unterschiedliche Charakteristika. Es muss weiter erforscht werden, welche Faktoren der UPF für die ungesunden Wirkungen verantwortlich sind (22,23). Auch müssen die vielen Zusatzstoffe individuell untersucht werden. Um zu wissen, welche Bevölkerungsgruppe wie viel und welche UPF konsumiert, braucht es bessere Daten. Einen Beitrag leisten könnten Treueprogramme von grossen Lebensmittelketten, die von Kunden der Forschung überlassen werden.
Barbara Elke
Quelle: Nutrition. 24. Dreiländertagung der AKE, DGE und GESKES. 22.–24. Mai 2025, St. Gallen; «Ultra-processed food: what does it mean and how do we deal with it?», Prof. Dr. med. David Fäh, Fachhochschule Bern Gesundheit
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