Transkript
INTERVIEW
Künstliche Intelligenz
Aktuelle Trends in der Medizin
Künstliche Intelligenz kommt in immer mehr Bereichen der Medizin zur Anwendung. Diesen Herbst findet an der Fachhochschule Nordwestschweiz die 2nd International Annual Conference on Artificial Intelligence in Health statt. Sie soll eine Plattform bieten für den wissenschaftlichen Austausch in diesem sich rasant entwickelnden Gebiet. Prof. Dr. Enkelejda Miho, Professorin für Digital Life Sciences und Co-Organisatorin des Kongresses, spricht mit uns über aktuelle Trends der KI im Bereich der Life Sciences und Medizin.
(Foto: zVg)
Zur Person
Enkelejda Miho Prof. Dr. Enkelejda Miho ist ordentliche Professorin für Digital Life Sciences am Institut für Medizintechnik und Medizinische Informatik der Fachhochschule Nordwestschweiz. Sie ist Gruppenleiterin am Schweizerischen Bioinformatik-Institut und Leiterin des Labors für Künstliche Intelligenz im Gesundheits-
wesen. Ihre Forschung konzentriert sich auf
den Einsatz von Informatik und künstlicher Intelligenz für die Wirkstoffforschung und personalisierte Medizin. Sie arbeitet mit Spitälern in der Schweiz und der EU zusammen, um verschiedene Datenmodalitäten in KI-gestützte medizinische Software zu
integrieren.
Wie kam es dazu, einen solchen Kongress zu organisieren? Prof. Enkelejda Miho: Der Fortschritt von KI in den Biowissenschaften, speziell auch in der Medizin, verläuft rasant, schneller als gedacht. 2018 hatte ich an einer Tagung an der ETH Zürich die Vermutung geäussert, dass es wohl noch 20 Jahre dauern würde, bis offene Fragen durch «integrative Intelligenz» beantwortet werden können, viele Teilnehmer damals beurteilten dies als zu optimistisch. Rückblickend brauchte es nur drei Jahre, bis 2021 die ersten Large Language Models (LLM) entstanden, die Grundlage für die grossen Sprachmodelle wie ChatGPT sind.
Es ist selbst für Fachleute schwierig, den Überblick zu behalten und wirkliche Innovation von Misinformation unterscheiden zu können. Aus diesen Gründen wollten wir eine Plattform kreieren, die Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen der Medizin anspricht, ihre Anwendungen oder KI zu präsentieren.
Wer sind Ihre Partner? Die wichtigsten Partner sind schweizerische und lokale Institutionen. So werden wir beispielsweise vom Schweizerischen Institut für Bioinformatik (1) in Lausanne und der Organisation «Personalized Health» (2) in Basel unterstützt. Bisher haben wir kein breites Sponsoring durch Firmen-Präsentationen, wir wollten unsere organisatorische Freiheit für die Wahl der Themen behalten.
Das Thema KI ist in den Medien sehr präsent. Wie erfolgreich sind konkrete Anwendung bereits im Bereich Gesundheit?
Das Thema AI ist nicht nur in den Medien präsent, sondern in vielen Bereichen bereits im Arbeitsalltag angekommen.
Die Bilderkennung war einer der ersten Bereiche, wo KI erfolgreich eingesetzt wurde, ab 2018. Von 736 für den kommerziellen Einsatz zugelassenen Geräten nutzen 621 KI für die Bilderkennung (3), beispielsweise bei der Erkennung von Brustkrebs in der Radiologie.
Es konnten Proteine als Therapeutika hergestellt werden, die in der Natur nicht vorkommen (4,5).
Wir sind gewohnt, viele einzelne Fragen nacheinander zu beantworten und so Schritt für Schritt vorzugehen. Das hat auch dazu geführt, dass Fragen oft von Spezialisten beantwortet werden müssen. Mit KI können die einzelnen Punkte wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Ein optimierter Prozess kann verschiedene Aspekte zusammenführen. Einerseits sind diagnostische und therapeutische Anwendungen stark miteinander verflochten, zudem weist der Patient ein komplexes Muster an Gesundheitsdaten auf, z.B. elektronische Gesundheitsakten mit Labordaten und auch digitalen Biomarkern wie Schrittzahl oder Herzfrequenz. Diese Daten können durch KI in ein individuelles Behandlungskonzept eingebunden werden.
Ein grosses Problem ist, dass ein KI-System zwar Lösungen präsentiert, aber nicht immer darlegt, wie die Schlussfolgerung zustande gekommen ist.
In verschiedenen Studien wird die Leistung von KI und von Ärzten verglichen. In einer Studie prüften 50 Ärzte die Unterstützung durch ein LLM bei der Diagnosestellung, sie
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Welches sind die grössten Hindernisse für die Entwicklung von AI-Systemen?
Um diese allgemein gehaltene Frage vollständig zu beantworten, haben wir ChatGPT ausprobiert:
1. Verfügbarkeit und Qualität von Daten – KI-Systeme benötigen für ihr Training grosse Mengen an hochwertigen, vielfältigen und unverfälschten Daten. Mangelhafte Daten können zu ungenauen oder schädlichen Ergebnissen führen.
2. Rechenleistung – Das Training fortschrittlicher KI-Modelle erfordert erhebliche Rechenressourcen, die kostspielig und energieintensiv sein können.
3. Erklärbarkeit und Transparenz – Viele KI-Modelle, insbesondere Deep-Learning-Systeme, funktionieren wie «Black Boxes», sodass ihr Entscheidungsprozess schwer nachvollziehbar ist.
4. Voreingenommenheit und Fairness – KI-Systeme können unbeabsichtigt gesellschaftliche Vorurteile, die in den Trainingsdaten
vorhanden sind, perpetuieren oder verstärken, was zu unfairen Ergebnissen führt. 5. Sicherheit und Robustheit – KI-Systeme können anfällig für Angriffe oder unerwartete Eingaben sein, wodurch ihre Zuverlässigkeit und Sicherheit beeinträchtigt wird. 6. Verallgemeinerung und Anpassungsfähigkeit – Es ist schwierig, eine KI zu entwickeln, die verschiedene Aufgaben gut bewältigt oder sich ohne erneutes Training an neue Umgebungen anpasst. 7. Ethische und regulatorische Bedenken – KI wirft komplexe ethische und rechtliche Fragen auf, darunter Datenschutz, Überwachung, Verdrängung von Arbeitsplätzen und Verantwortlichkeit.
kamen aber zum Schluss, dass hier die KIUnterstützung keinen Mehrwert brachte (6).
Hingegen verglich eine Studie Antworten auf Patientenanfragen auf einem SocialMedia-Kanal durch Ärzte oder einen Chatbot. Die Prüfer, ebenfalls Ärzte, beurteilten die Antworten des Chatbots bezüglich der Qualität und sogar bezüglich der Empathie als überlegen (7).
Eine soeben publizierte Studie prognostizierte die Häufigkeit von mehr als 1000 Krankheiten unter Berücksichtigung der Krankheitsgeschichte jedes Einzelnen, basierend auf der individuellen Krankheitsgeschichte aus einem Korpus von 0,4 Millionen Teilnehmern der UK Biobank, und validierte dies mit externen Daten von 1,9 Millionen dänischen Personen, ohne die Parameter zu verändern (8). Dies ermöglicht auch aussagekräftige Schätzungen der potenziellen Krankheitslast und konnte Cluster von Komorbiditäten aufzeigen. Diese Modelle sind für Voraussagen für das Gesundheitswesen anwendbar, können aber auch Einblicke in zeitliche Abhängigkeiten zwischen Krankheitsereignissen liefern und so das Verständnis für personalisierte Gesundheitsrisiken verbessern (8).
Inmitten all dieser wissenschaftlich orientierten Anwendungen, die erprobt und validiert werden müssen, steht auch den Patienten die Möglichkeit offen, diese Tools, wie beispielsweise ChatGPT, zu nutzen. Dies wurde noch wenig beachtet, doch dies wird einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gesellschaft haben. Patienten können diese Tools
zum besseren Verständnis von medizinischen Fragen nutzen. Es ist noch nicht klar, welche Folgen dies haben wird.
Wo sehen Sie das grösste Potenzial der KI in der Allgemeinmedizin? KI kann Kliniker dabei unterstützen, individualisierte Labortests zu entwerfen und personalisierte Therapieschemata für Patienten zu untersuchen. Als angewandte Forscher, die «disziplinübergreifende» Sprachen wie Informatik und Medizin «sprechen», können wir den Aufbau dieser Werkzeuge unterstützen und gemeinsam mit Klinikern deren Machbarkeit und Leistung untersuchen.
Ein anderer wichtiger Bereich ist die Prävention, die oft von den Bürgern selbst vorangetrieben wird. Das Ziel ist natürlich, eine App zu entwickeln, die einem Hausarzt eine Liste potenzieller Krankheiten mit einer Wahrscheinlichkeitsbewertung und die wirksamste Medikamentenkombination für einen bestimmten Patienten anzeigt. Integriert ist eine Liste von Fachkollegen zum schnellen Nachschlagen. Diese Möglichkeit wirft jedoch die Frage nach der Funktion eines Arztes auf. Im Bereich der Medizin ist die Datenstruktur oft sehr uneinheitlich. Was bedeutet dies für KI? Die Interoperabilität von Daten ist ein lange bestehendes Problem. Verschiedene Initiativen befassen sich damit, sei es aus wissenschaftlicher Sicht wie das Data Coordination Center (DCC) (9) oder auf politischer Ebene wie das European Health Data Space (EHDS) (10).
Mit KI stellt sich das Problem der Interoperabilität neu, denn KI kann Daten unterschiedlicher Struktur zusammenfügen, Bilder, Text etc. und ist nicht auf einheitliche Datenstruktur angewiesen.
Welches sind die grössten Hindernisse für die Entwicklung von AISystemen? Idealerweise müsste die Entwicklung von KI-gestützten Werkzeugen für medizinische Zwecke in Form eines Co-Designs mit Personen aus der Klinik erfolgen. Dies würde es ermöglichen, die Herausforderungen in einem anderen System abzubilden und sie bereits im Entstehungsprozess gezielt anzugehen.
Ein solches Co-Design würde die wichtigsten Herausforderungen adressieren: • Verfügbarkeit und Qualität von Daten; • optimierte Rechenleistung: Modelle könn-
ten zentral trainiert werden und nicht mehrfach von verschiedenen Akteuren; • Voreingenommenheit und Fairness: Studien zur klinischen Leistung und Validierung werden gezielt so gestaltet, dass sie diese Punkte berücksichtigen.
Sie überblicken auch die Ausbildung der Studierenden der FHNW. Wie verändert KI die Ausbildung? Obwohl niemand die Zukunft vorhersagen kann, denke ich, dass die KI in kurzer Zeit zu grossen Veränderungen in der Arbeitswelt führen wird. Diese werden viel schneller spürbar sein als bei der industriellen Revo-
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lution, deren Auswirkungen sich über zwei Jahrhunderte hinzogen. Man fürchtet, dass durch KI Jobs verloren gehen, aber andererseits werden durch die Technologie auch neue entstehen. Dies wird Auswirkungen auf die Gesellschaft haben und auch auf die Ausbildung.
Schon heute hat KI die Art, wie wir lehren und lernen, verändert. Um die Auswirkungen quantifizieren zu können, benötigen wir Studien. Doch im unmittelbaren Umgang mit den Studierenden sehe ich konkrete Folgen. Wenn ich etwas doziere, kontrollieren sie es sofort nach. Wenn die Studierenden eine Zusammenfassung machen müssen, ist diese vielleicht perfekt, aber eben nicht selbst gemacht. Gruppenarbeiten, die früher mehrere Studierende längere Zeit beschäftigt haben, sind heute sehr viel schneller fertig.
Am 10./11. November 2025 findet in Muttenz zum zweiten Mal die «International Annual Conference on Artificial Intelligence in Health» statt.
Aufpassen müssen wir, dass das kritische Denken nicht verloren geht. Die Studierenden brauchen auch weiterhin Wissen und Fähigkeiten, um die richtigen Fragen an die KI stellen zu können.
Das Interview führte Barbara Elke.
Glossar: Large Language Model (LLM): eine fortschrittliche KI-Technologie, die sich auf das Verstehen und Analysieren von Text konzentriert, es kann die Komplexität der natürlichen Sprache erfassen. Beispiele: ChatGPT, OpenAI, Gemini, DeepSeek.
Referenzen: 1. https://www.sib.swiss/de 2. https://www.unibas.ch/en/Research/Research-in-
Basel/University-Networks/Personalized-HealthBasel.html 3. Singh R et al.: How AI is used in FDA-authorized medical devices: a taxonomy across 1,016 authorizations. NPJ Digit Med. 2025;8(1):388. doi:10.1038/s41746-025-01800-1 4. https://www.genengnews.com/topics/artificial-intelligence/new-generative-ai-model-designs-proteins-not-found-in-nature/ 5. Ingraham JB et al.: Illuminating protein space with a programmable generative model. Nature. 2023;623(7989):1070-1078. doi:10.1038/s41586-023-06728-8 6. Goh E et al.: Large Language Model Influence on Diagnostic Reasoning: A Randomized Clinical Trial. JAMA Netw Open. 2024;7(10):e2440969. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.40969
7. Ayers JW et al.: Comparing Physician and Artificial Intelligence Chatbot Responses to Patient Questions Posted to a Public Social Media Forum. JAMA Intern Med. 2023 Jun 1;183(6):589-596. doi:10.1001/jamainternmed.2023.1838
8. Shmatko A et al.: Learning the natural history of human disease with generative transformers. Nature. Published online September 17, 2025. doi:10.1038/s41586-025-09529-3
9. https://sphn.ch/network/data-coordination-center/ 10. https://health.ec.europa.eu/ehealth-digital-health-
and-care/european-health-data-space-regulationehds_en
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