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FOKUS PÄDIATRIE
Evidenz oder nur Tradition?
Pflanzliche Arzneimittel bei Magen-DarmErkrankungen in der Pädiatrie
Gastrointestinale Beschwerden, wie Bauchschmerzen, Durchfall, Verstopfung, Übelkeit oder Erbrechen, sind häufige Konsultationsgründe in der Kinderarztpraxis. Die Phytotherapie bietet in solchen Fällen viele bewährte Behandlungsoptionen. Doch sind diese auch belegt? Im Folgenden ein Überblick über die Therapiemöglichkeiten und deren Evidenzlage.
Beatrix Falch, Ulrike Kastner
Magen-Darm-Beschwerden treten im Kindesalter häufig auf und sind in den meisten Fällen leicht bis moderat. Zunehmend äussern sich subakute und chronische Beschwerden als Folge von Bewegungsmangel, ungesunder Ernährung, Lebensmittelunverträglichkeiten und Allergien. Aber auch psychische Erkrankungen können gastrointestinale Beschwerden verursachen. Gerade in solchen Situationen gilt es zu bedenken, dass eine sofortige Heilung unmöglich ist und dem Heilungsprozess die nötige Zeit eingeräumt werden muss.
Sowohl in akuten, subakuten und chronischen Situationen bietet die Phytotherapie viele Behandlungsoptionen ausgehend von Hausmitteln (wie Kamillenblüten, Malven-, Melissen- oder Pfefferminzblättern als Teezubereitung) bis hin zu geprüften pflanzlichen Arzneimitteln (wie Colpermin® oder Iberogast®). Alarmsymptome dürfen dabei nicht übersehen werden und bedürfen einer adäquaten Therapie (1).
Studienlage pflanzlicher Arzneimittel in der Pädiatrie Zu den vielen sich über Jahrzehnte bewährten Therapieempfehlungen stellt sich immer wieder die Frage nach dem Beleg dieser Praxiserfahrungen durch klinische Studien.
MERKPUNKTE
• Die Wirkmechanismen von vielen Arzneipflanzen sind bekannt.
• Arzneipflanzen haben ein breites Wirkspektrum: → Arzneipflanzen wirken eher unspezifisch → eine Arzneipflanze für verschiedene Symptome
• Ein Grundsortiment mit ca. 7 Arzneipflanzen und ca. 5 Präparaten deckt die häufigsten Magen-Darm-Beschwerden ab.
• Die Therapiewahl wird bestimmt durch Anamnese, Schweregrad und Art der Beschwerden, Konstitution/ Alter des Kindes sowie phytotherapeutisches Know-how.
Von den Arzneimittelbehörden werden bei Neuzulassungen Studien mit Kindern gefordert (pädiatrisches Prüfkonzept) – sofern eine Anwendung bei Kindern sinnvoll/möglich erscheint –, aber gerade bei den schon im Markt befindlichen traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln liegen solche Studien häufig nicht vor. Auch gilt zu bedenken, dass Eltern für ihr Kind die Einwilligung zur Teilnahme an einer klinischen Studie geben müssen, was die Rekrutierung von Patienten im Kindesalter, vor allem unter zwölf Jahren, erschwert.
Für die häufigsten Beschwerdebilder des Magen-DarmTraktes bei Kindern werden im Folgenden die Empfehlungen zur Therapie für bewährte Arzneidrogen zusammengefasst dargestellt.
Gastroösophagealer Reflux Bei fast allen Säuglingen tritt ein ösophagealer Reflux auf, der in der Regel bis zum Alter von zwölf Monaten verschwindet. Durch Zugabe von Johannisbrotmehl zur Muttermilch oder industriell hergestellten Milchnahrung wird die Milch angedickt und damit der Reflux reduziert (2). Auch sollte das Kind nach der Milchmahlzeit in aufrechter Position gehalten werden.
Im Zusammenhang mit Lebensmittelallergien und wenn der untere Ösophagussphinktertonus zu schwach ist, kann sich eine gastroösophageale Refluxkrankheit (GERD) entwickeln, die einer genauen Abklärung bedarf.
Kolik Die bekanntesten krampfartigen Bauchschmerzen beim Säugling sind die Dreimonatskoliken, bei denen man heute in erster Linie von einer Regulationsstörung ausgeht. Schmerzhafte Meteorismen, mikrobielle Imbalance, Überfütterung, ein zu kurzes Zungenbändchen oder eine Kuhmilcheiweissintoleranz können aber ebenfalls Ursache einer Kolik bei Säuglingen und Kleinkindern sein (1).
Zur Behandlung von gastrointestinalen Krämpfen haben sich krampflösend wirkende Arzneidrogen wie Fenchel-, Kümmel- und Anisfrüchte sowie Kamillenblüten und Melissenblätter bewährt (3,4).
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Im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion in Bezug auf Estragol in Fenchelfrüchten und weiteren Arzneidrogen sei an dieser Stelle auf die Stellungnahme der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP) verwiesen (s. Kasten) (5).
Diarrhö / infektiöse Enteritis Ein dünner Stuhl wird generell mit gerbstoffhaltigen Arzneidrogen therapiert. In der Pädiatrie werden bevorzugt getrocknete Heidelbeeren, die zusätzlich noch entzündungshemmende Anthocyanidine enthalten, eingesetzt (6).
Bei einer infektiösen Enteritis hat sich ausserdem die Karottensuppe nach Moro bewährt. Hier sind es saure Oligosaccharide, die verhindern, dass sich pathogene Mikroorganismen an die Darmschleimhaut anhaften (7).
Zur Festigung des Stuhls kann bei Säuglingen der Nahrung Reispulver zugegeben werden.
Fotos: Beatrix Falch
Die Schleimstoffe der Malvenblüten und -blätter (Malva sylvestris) haben auf der Schleimhaut einen reizlindernden Effekt.
Obstipation Die Verstopfung geht im Kindesalter häufig mit starken Bauchschmerzen einher. Neben einer Ernährungsumstellung in Richtung mehr Ballaststoffe können unterstützend ab einem Alter von sechs Jahren Präparate verabreicht werden, die Lini semen oder Psylli semen enthalten (z.B. Agiolax® mite, Mucilar® avena, Metamucil®) (1). Hierbei gilt es auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten. Bei Säuglingen wird zur Stuhlerweichung Hirsepulver empfohlen. Zur Behandlung der begleitenden Bauchschmerzen kann Kamillenblütentee empfohlen werden.
Melissenblätter (Melissa officinalis) wirken krampflösend im Magen-Darm-Bereich.
Estragol und Fenchelfrüchte
Bisher konnten nur für die isolierte Substanz Estragol, die nicht nur in Fenchelfrüchten vorkommt, karzinogene, teratogene und genotoxische Effekte in Tierversuchen und in Zelltest beobachtet werden. Die rein theoretische Extrapolation auf den Menschen erweist sich als sehr heterogen, weil unterschiedliche toxikologische Berechnungsmodelle zugrunde gelegt werden. Ausserdem wird Estragol nicht als Reinsubstanz am Menschen eingesetzt. Swissmedic empfiehlt die Verwendung von Fenchelfrüchten bei Schwangeren und Stillenden nicht. Bei Kindern unter vier Jahren ist eine Medizinalperson beizuziehen.
Dyspepsien Dyspeptische Beschwerden werden traditionell mit Kamillenblütentee, oft auch in Kombination mit antiinflammatorischen (Schafgarbenkraut, Pfefferminzblätter) und beruhigenden Arzneidrogen (Melissenblätter) behandelt. Klinische Studien findet man dazu fast nicht (8).
Hingegen zur Kombination aus Bitterem Schleifenblumenkraut mit Angelikawurzeln, Kamillenblüten, Kümmelfrüchten, Mariendistelfrüchten, Melissenblättern, Pfefferminzblättern, Schöllkraut und Süssholzwurzeln (Iberogast®), die ab sechs Jahren auf ärztliche Verschreibung abgegeben werden darf, gibt es Untersuchungen an Kindern (9). Es gilt aber hier die (in höheren Dosen auftretende) potenziell leberschädigende Wirkung des Schöllkrautes zu beachten. Alternativ kann auf die Weleda® Amara-Tropfen ausgewichen werden, die ebenfalls bei Kindern ab sechs Jahren eingesetzt werden können und kein Schöllkraut enthalten.
Kindliches Reizdarmsyndrom Das Reizdarmsyndrom ist eine chronische Erkrankung, von der bereits Kinder betroffen sein können. Typische Symptome sind Bauchschmerzen, üblicherweise in Verbindung mit dem Stuhlgang, Obstipation, Diarrhö oder wechselnde Stuhlkonsistenz. Pfefferminzöl (Colpermin®) stellt hier eine mögliche Therapieoption dar (3,10). In einer Studie konnte der erfolgreiche Einsatz von Pfefferminzöl beim kindlichen Reizdarmsyndrom gezeigt werden (11). Eine weitere Therapieoption ist die Kom-
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bination aus Pfefferminzöl und Kümmelöl (Carmenthin®/ Gaspan®), die auch bei stressinduzierten abdominellen Problemen eingesetzt wird (12). Sie ist für Kinder ab zwölf Jahren zugelassen. Bei einer Einnahmedauer länger als zwei Wochen wird empfohlen, dass die Einnahme nur unter ärztlicher Kontrolle stattfinden soll (1). Des Weiteren sind aufgrund weniger Studien Kurkumazubereitungen denkbar (13,14).
Ausblick Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Phytotherapie gerade bei milden Magen-Darm-Beschwerden viele Behandlungsoptionen bei Säuglingen und Kindern bietet, auch wenn grossangelegte systematische Studien fehlen.
Für eine Abschätzung bezüglich der Dosis, Dauer, Darreichungsform einer Arzneidroge empfiehlt es sich, die HMPC (Committee on Herbal Medicinal Products)-Assessment-Reports oder die ESCOP(European Scientific Cooperative on Phytotherapy)-Monografien der jeweiligen Arzneidroge zu konsultieren. Dank der dort aufgeführten Inhaltsstoffe und der Erkenntnisse aufgrund pharmakologischer, toxikologischer und klinischer Studien lassen sich die Anwendungsempfehlungen besser einordnen.
Vor diesem Hintergrund ist der interprofessionelle Erfahrungsaustausch, wie ihn die SMGP mit ihren Phytozirkeln pflegt, unerlässlich. Ausserdem hat die SMGP ein Tool entwickelt, um Therapieerfahrungen systematisch zu dokumentieren.
Korrespondierende Autorin: Dr. sc. nat. Beatrix Falch ZHAW Life Sciences und Facility Management Fachgruppe Naturstoffchemie und Phytopharmazie Einsiedlerstrasse 29 8820 Wädenswil beatrix.falch@zhaw.ch
Univ.-Doz. DDr. med. Ulrike Kastner Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde Maria Enzersdorf (A)
Interessenlage B. Falch: Dozententätigkeit finanziert durch die Supporter der SMGP. Interessenlage U. Kastner: Keine Interessenkonflikte
Zusammenfassung anlässlich der 38. Jahrestagung der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP), 28.11.2024, Baden
Referenzen: 1. Kastner U: Phytotherapeutische Praxis bei Magen- und Darmbeschwer-
den im Kindesalter. Zeitschrift für Phytotherapie. 2023;44(03):127-130. doi:10.1055/a-2032-1140 2. Duncan DR et al.: Clinical Aspects of Thickeners for Pediatric Gastroesophageal Reflux and Oropharyngeal Dysphagia. Curr Gastroenterol Rep. 2019;21(7):30. doi:10.1007/s11894-019-0697-2 3. Anheyer D et al.: Herbal Medicines for Gastrointestinal Disorders in Children and Adolescents: A Systematic Review. Pediatrics. 2017;139(6):e20170062. doi:10.1542/peds.2017-0062 4. Harb T et al.: Infant Colic-What works: A Systematic Review of Interventions for Breast-fed Infants. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2016;62(5):668-686. doi:10.1097/MPG.0000000000001075 5. Schweizerischerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP). Stellungnahme: Neueinschätzung von Fenchelfrüchten durch Swissmedic. Abrufbar unter: https://smgp- sspm.ch/public/document/ download/243161. Zuletzt eingesehen am 17.03.2025 6. Piberger H et al.: Bilberries and their anthocyanins ameliorate experimental colitis. Mol Nutr Food Res. 2011;55:1724–1729. doi:10.1002/mnfr.201100380
Das ätherische Öl der Pfefferminzblätter (Mentha x piperita) hat sich beim Reizdarmsyndrom bewährt.
Eine Teezubereitung mit Schafgarbenkraut (Achillea millefolium) wirkt bei dyspeptischen Beschwerden entzündungshemmend.
7. Kastner U et al.: Saure Oligosaccharide als Wirkprinzip von wäßrigen Zubereitungen aus der Karotte in der Prophylaxe und Therapie von gastrointestinalen Infektionen. Wien Med Wochenschr. 2002;152:379– 381. doi:10.1046/j.1563-258X.2002.02057.x
8. Cherry RN et al.: Herbal Approaches to Pediatric Functional Abdominal Pain. Children (Basel). 2022;22;9(8):1266. doi:10.3390/children9081266
9. Michael R et al.: Functional gastrointestinal disorders in children: Effectivity, safety, and tolerability of the herbal preparation STW-5 (Iberogast®) in general practice. Complement Ther Med. 2022;71:102873. doi:10.1016/j.ctim.2022.102873
10. Ford AC et al.: Effect of fibre, antispasmodics, and peppermint oil in the treatment of irritable bowel syndrome: systematic review and metaanalysis. BMJ. 2008;337:a2313. doi:10.1136/bmj.a2313
11. Kline RM et al.: Enteric-coated, pH-dependent peppermint oil capsules for the treatment of irritable bowel syndrome in children. J Pediatr. 2001;138:125-128. doi:10.1067/mpd.2001.109606
12. Madisch A et al.: Menthacarin, a Proprietary Peppermint Oil and Caraway Oil Combination, Improves Multiple Complaints in Patients with Functional Gastrointestinal Disorders: A Systematic Review and Meta-Analysis. Dig Dis. 2023;41(3):522-532. doi:10.1159/000528553
13. Shi J et al.: Effectiveness and safety of herbal medicines in the treatment of irritable bowel syndrome: a systematic review. World J Gastroenterol. 2008;14:454-462. doi:10.3748/wjg.14.454
14. Suskind DL et al.: Tolerability of curcumin in pediatric inflammatory bowel disease: a forced-dose titration study. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2013;56(3):277-279. doi:10.1097/MPG.0b013e318276977d
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