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FORTBILDUNG
Epidemiologie, klinische Herausforderungen und therapeutische Perspektiven
Geriatrische Onkologie in der Schweiz im demografischen Wandel
Mit dem demografischen Wandel steigt der Anteil älterer Menschen mit onkologischen Erkrankungen kontinuierlich. Die geriatrische Onkologie entwickelt Konzepte zur individuellen Risikoabschätzung und Therapieanpassung unter Berücksichtigung funktioneller, kognitiver und psychosozialer Faktoren. Dieser Beitrag beleuchtet die Situation in der Schweiz, zentrale Herausforderungen und aktuelle evidenzbasierte Therapieansätze.
Marcus Vetter, Cornelia Müller
Die geriatrische Onkologie stellt einen interdisziplinären Teilbereich der Onkologie dar, der sich mit der Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge von Krebserkrankungen bei älteren Patienten befasst. Der Begriff trat erstmalig in den 1980er-Jahren am Kongress der American Society of Clinical Oncology (ASCO) auf (1). Hier forderte Dr. Kennedy zu einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema geriatrische Onkologie auf. Bis heute gibt es nur wenige Ärzte mit einem Doppelfacharzt medizinische Onkologie und Geriatrie. Angesichts der fortschreitenden demografischen Alterung wird die Behandlung geriatrischer Patienten zunehmend zur Regelversorgung in der Onkologie. Die Schweizer Bevölkerung – wie auch diejenige vieler anderer westlicher Nationen – altert rasch, mit substanziellen Auswirkungen auf das onkologische Versorgungssystem.
Epidemiologie und demografische Entwicklung Bevölkerungstrends Gemäss den Daten des Bundesamts für Statistik (BFS) lebten 2023 rund 1,7 Millionen Personen über 65 Jahre in der Schweiz – etwa 19,5% der Gesamtbevölkerung. Bis 2045 wird ein Anstieg dieser Altersgruppe auf über 2,7 Millionen prognostiziert. Die Hochaltrigen (≥ 80 Jahre) stellen die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe dar (2).
Krebsinzidenz im höheren Lebensalter Die altersstandardisierte Krebsinzidenz liegt in der Schweiz bei rund 500 pro 100 000 Personen, wobei die Rate bei ≥ 70-Jährigen deutlich über 700/100 000 liegt. Etwa 60% der Krebstodesfälle betreffen Menschen im Alter ≥ 70 Jahre. Die häufigsten Tumoren im Alter sind: Prostatakarzinom (bei Männern), Mammakarzinom (bei Frauen), kolorektales Karzinom und Bronchialkarzinom (3).
Klinische Charakteristika geriatrischer Tumorpatienten Heterogenität und Multimorbidität Das biologische Alter variiert stark zwischen geriatrischen Patienten. Komorbiditäten (z.B. kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus), Gebrechlichkeit (Frailty), eingeschränkte Organfunktionen sowie funktionelle und kog nitive Defizite beeinflussen Diagnostik und Therapie massgeblich. Diese Faktoren bedingen eine ausgeprägte Heterogenität in der Prognose und Therapieentscheidung. Bei den Tumorboard-Entscheidungen fliessen standardisierte Scores zur Beurteilung in der Regel nicht mit ein, daher haben in der Schweiz einige Kliniken sogenannte geriatrisch-onkologische Sprechstunden aufgebaut, bei denen interdisziplinär eine Therapieentscheidung getroffen wird (4,5).
MERKPUNKTE
• Die geriatrische Onkologie stellt eine Schlüsselkomponente in der künftigen onkologischen Versorgung dar.
• In der Schweiz ist ein systematischer Ausbau spezialisierter Strukturen notwendig, um der demografischen Realität gerecht zu werden.
• Die Integration geriatrischer Prinzipien in onkologische Leitlinien, Ausbildung und Versorgungsmodelle ist essenziell für eine patientenzentrierte, evidenzbasierte Medizin im Alter.
Risiko der Über- und Untertherapie Ein zentrales Spannungsfeld besteht zwischen Unterbehandlung aus Angst vor Toxizität und Übertherapie mit potenziell disproportionalem Nutzen. Eine rein tumorfokussierte Entscheidungsfindung kann bei älteren Patienten inadäquate therapeutische Konsequenzen haben. Daher ist die Erhebung eines individuellen geriatrischen Profils essenziell.
Geriatrisches Assessment als klinischer Standard Multidimensionales geriatrisches Assessment (CGA) Das Comprehensive Geriatric Assessment (CGA) dient der systematischen Erfassung folgender Dimensionen:
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Abbildung 1: Die Abbildung zeigt wichtige Entwicklungen von der Chemotherapie bis zur zellulären Therapie in den letzten Dekaden und verdeutlicht die zunehmende Alters-Epidemiologie.
Abkürzungen: IO = Immunonkologie, AK = Antikörper Quelle: M. Vetter
• funktioneller Status (Activities of Daily Living/Instrumental Activities of Daily Living, ADL/IADL),
• Mobilität (z.B. Timed Up and Go Test, TUG), • Kognition (z.B. Mini-Mental-State-Examination, MMSE), • Ernährungsstatus (z.B. Mini Nutritional Assessment, MNA), • Komorbiditäten (z.B. Cumulative Illness Rating Scale, CIRS), • Polypharmazie, • psychosoziale Aspekte.
Das CGA erlaubt eine Risikostratifizierung und optimiert die Therapieplanung. Es ist prädiktiv für Therapiekomplikationen, Mortalität und institutionalisierungsbedingte Outcomes. Vor allem bezüglich Lebensqualität und Toxizität haben verschiedene Studien mit Integration des CGA einen positiven, statistisch signifikanten Effekt aufgezeigt (6,7).
Screening-Instrumente Für die klinische Praxis existieren pragmatische Instrumente wie der Geriatric-8(G8)-Score oder der Vulnerable-EldersSurvey(VES)-13, die eine Vorauswathl geriatrischer Patienten ermöglichen, die von einem vollständigen CGA profitieren würden (8,9). Der G8-Score ist der verbreitetste Score und ist gut evaluiert auch in klinischen Studien. Seine Sensitivität für Frailty liegt bei über 85%. Der G8-Score wurde 2012 von Soubeyran et al. (Institut Bergonié, Bordeaux) entwickelt. Er basiert auf acht Items, die grösstenteils aus dem Mini Nutritional Assessment (MNA) stammen. Ziel: schnelles Screening älterer Krebspatienten zur Identifikation derjenigen, bei denen ein vollständiges CGA indiziert ist. Der Cutoff < 14/17 Punkten weist auf potenzielle Vulnerabilität hin.
Therapeutische Implikationen und Fortschritte Individualisierte Therapieziele Therapieziele im geriatrischen Kontext umfassen nicht nur tumorbezogene Kriterien (z.B. progressionsfreies Überleben), sondern auch funktionelle Unabhängigkeit, Erhalt der Lebensqualität und Vermeidung von Hospitalisationen. Therapieentscheidungen sollten partizipativ getroffen und an individuelle Lebensumstände angepasst werden. Ähnlich der personalisierten Therapiefindung im Sinne einer «personalisierten Präzisionsonkologie», soll durch ein CGA ein personalisiertes, für den Patienten individuelles Vorgehen erreicht werden.
Fortschritte in der Onkologie In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben molekulare Diagnostik, zielgerichtete Therapien und Immunonkologie zu signifikanten Verbesserungen der Prognose geführt (siehe auch Abbildung 1): • Die 5-Jahres-Überlebensrate für das Mammakarzinom be-
trägt in der Schweiz aktuell > 85%, für das Prostatakarzinom > 90%, für kolorektale Tumoren ca. 65% und für das nicht kleinzellige Lungenkarzinom bis zu 30% (10–15). • Moderne supportive Therapien (z.B. Antiemese, Granulozyten-Kolonie-stimulierender-Faktor [G-CSF], orale Ernährungssupplementation) haben die Verträglichkeit systemischer Therapien auch im höheren Alter verbessert (16).
Zahlreiche Studien (z.B. FOCUS2, ELDERLY Study, GO2 Trial [17–19]) belegen, dass ältere Patienten bei adäquater
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Selektion vergleichbare Therapieerfolge erzielen können wie jüngere Kohorten.
Versorgungsperspektiven und interdisziplinäre Strukturen In der Schweiz existieren bisher nur wenige spezialisierte geriatrisch-onkologische Einheiten. In Zukunft sollte die Etablierung von «Geriatric Oncology Units» und standardisierten Assessments allerdings flächendeckend gefördert werden. Für die Implementierung geriatrisch-onkologischer Konzepte ist die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Onkologen, Hausärzten, Geriatern, Pflege, Sozialdienst und Palliativmedizinern ausschlaggebend.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Marcus Vetter Zentrum Onkologie & Hämatologie Kantonsspital Baselland 4010 Liestal E-Mail: marcus.vetter@ksbl.ch
Cornelia Müller APN Geriatrie/Onkologie Kantonsspital Baselland, Liestal
Interessenlage: Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
Referenzen in der Onlineversion des Beitrags unter www.arsmedici. chReferenzen:
1. Kennedy BJ: Aging and cancer. J Clin Oncol. 1988;6(12):1903-1911. doi:10.1200/JCO.1988.6.12.1903
2. Bundesamt für Statistik (BFS): Gesundheit. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit.html
3. Nationale Krebsregistrierungsstelle: Nationaler Krebsbericht Schweiz 2021. Neuchâtel, Schweiz: BFS; 2021. https://www.bfs.admin.ch/asset/de/19305696
4. Vetter M et al.: Integrating Geriatric Care in Clinical Oncology Practice: Recommendations from an Interdisciplinary Professional Survey Study in a Single-Cancer Center in Switzerland. healthbook TIMES Onco Hema. 2023;16(2):14-19. doi:10.36000/ hbT.OH.2023.16.106
5. Vetter MHF et al.: Landscape of geriatric oncology in Switzerland: Results from a nationwide survey. J Clin Oncol. 2025;43(16_Suppl);e13855. doi:10.1200/JCO.2025.43.16_suppl.e13855
6. Extermann M, Hurria A: Comprehensive geriatric assessment for older patients with cancer. J Clin Oncol. 2007;25(14):1824-1831. doi:10.1200/JCO.2007.10.6559
7. Caillet P et al.: Comprehensive geriatric assessment in the decision-making process in elderly patients with cancer: ELCAPA study. J Clin Oncol. 2011;29(27):3636-3642. doi:10.1200/JCO.2010.31.0664
8. Bellera CA et al.: Screening older cancer patients: first evaluation of the G-8 geriatric screening tool. Ann Oncol. 2012;23(8):2166-2172. doi:10.1093/annonc/mdr587
9. Saliba D et al.: The Vulnerable Elders Survey: a tool for identifying vulnerable older people in the community. J Am Geriatr Soc. 2001;49(12):1691-1699. doi:10.1046/j.1532-5415.2001.49281.x
10. Wanner M et al.: Time-trends and age and stage differences in 5-year relative survival for common cancer types by sex in the canton of Zurich, Switzerland. Cancer Med. 2023;12(17):18165-18175. doi:10.1002/cam4.6392
11. Bundesamt für Statistik (BFS): Pressemitteilung. Schweizerischer Krebsbericht 2021. Zahl der Krebspatienten nimmt zu – gleichzeitig ist die Sterblichkeit rückläufig. Neuchâtel: BFS; 2021. https://www.bfs.admin.ch/asset/de/19204985
12. Karavasiloglou N et al.: Net survival of women diagnosed with breast tumours: a population-based study in Switzerland. Swiss Med Wkly. 2023;153:40087. doi:10.57187/smw.2023.40087
13. National Institute for Cancer Epidemiology and Registration (NICER): Effects of age and stage on prostate cancer survival in Switzerland. Zürich: NICER; 2016. Verfügbar unter: https://www.nicer.org/assets/ files/publications/others/skb_04-2016_effectsprostatecancerch.pdf
LINKTIPP
Geriatrisches Assessment
Das G8-Screening-Instrument für ältere Patienten identifiziert ältere Krebspatienten, die von einer umfassenden geriatrischen Beurteilung (CGA) profitieren könnten.
Mithilfe der Chemotherapie-Risikobewertungsskala für hochbetagte Patienten, dem CRASH-Score, bewerten Sie das individuelle Risiko schwerer Toxizität durch eine Chemotherapie bei älteren Patienten.
14. Feller A et al.: Socioeconomic and demographic inequalities in stage at diagnosis and survival among colorectal cancer patients: evidence from a Swiss population-based study. Cancer Med. 2018;7(4):1498-1510. doi:10.1002/cam4.1385
15. Werner RS et al.: Lung Cancer in Switzerland. J Thorac Oncol. 2024;19(3):385-394. doi:10.1016/j.jtho.2023.12.005
16. Crawford GB et al.; ESMO Guidelines Committee: Care of the adult cancer patient at the end of life: ESMO Clinical Practice Guidelines. ESMO Open. 2021;6(4):100225. doi:10.1016/j.esmoop.2021.100225
17. Seymour MT et al.: Chemotherapy options in elderly and frail patients with metastatic colorectal cancer (MRC FOCUS2): an open-label, randomised factorial trial. Lancet. 2011;377(9779):1749-1759. doi:10.1016/S0140-6736(11)60399-1
18. Aparicio T et al.: Bevacizumab+chemotherapy versus chemotherapy alone in elderly patients with untreated metastatic colorectal cancer: a randomized phase II trial-PRODIGE 20 study results. Ann Oncol. 2018;29(1):133-138. doi:10.1093/annonc/mdx529
19. Hall PS et al.: Efficacy of Reduced-Intensity Chemotherapy With Oxaliplatin and Capecitabine on Quality of Life and Cancer Control Among Older and Frail Patients With Advanced Gastroesophageal Cancer: The GO2 Phase 3 Randomized Clinical Trial. JAMA Oncol. 2021;7(6):869-877. doi:10.1001/jamaoncol.2021.0848
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