Transkript
BERICHT
Mikronährstoffe in der Primärprävention
Nutzen oder Marketing?
Vitamine und Mineralien spielen eine wichtige Rolle in der menschlichen Gesundheit. In den letzten Jahren hat die Supplementierung dieser Nährstoffe zunehmend an Bedeutung gewonnen. PD Dr. Stefan Markun, Oberarzt am Institut für Hausarztmedizin am Universitätsspital Zürich, beleuchtete am Ärztekongress in Davos, ob dieser Trend gerechtfertigt ist und ob der zunehmende Einsatz von Mikronährstoffen wirklich auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen basiert oder ob kommerzielle Interessen und fragwürdige wissenschaftliche Grundlagen dabei eine entscheidende Rolle spielen.
Ärzte empfehlen häufig bestimmte Mikronährstoffe, um verbreitete Beschwerden zu behandeln. Magnesium bei Muskelkrämpfen, B-Vitamine gegen Müdigkeit oder Vitamin D für die muskuloskelettale Gesundheit sind gängige Empfehlungen. Doch eine kritische wissenschaftliche Betrachtung zeigt, dass diese Präparate in vielen Fällen keinen signifikanten klinischen Nutzen haben. So fand eine systematische Übersichtsarbeit (1), dass Vitamin-D-Supplementierung keinen relevanten Einfluss auf Stürze oder Frakturen hat. Ähnliche Ergebnisse lieferte eine systematische Übersichtsarbeit zu Vitamin B12 (2), bei der kein Nachweis erbracht wurde, dass die Supplementierung kognitive Funktionen verbessert.
Die historische Perspektive: Mikronährstoffmangel und seine Bekämpfung Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Krankheiten wie Skorbut (Vitamin-C-Mangel) oder Struma (Jodmangel) weit-
KURZ UND BÜNDIG
• Die Supplementierung vieler Mikronährstoffe wie Vitamin D oder B12 hat laut Studien keinen nachweisbaren klinischen Nutzen für die breite Bevölkerung.
• Bei unspezifischen Symptomen wie Müdigkeit oder Muskelschmerzen kommt es oft zu einem «Framing» vor dem Hintergrund eines Mikronährstoffmangels, obwohl viele dieser Beschwerden andere Ursachen haben können.
• Der Markt für Nahrungsergänzungsmittel wird stark von Marketingstrategien und fragwürdigen Werbepraktiken beeinflusst, die den Konsumenten oft ein Defizit suggerieren, das der kritischen Überprüfung der Fakten nicht standhält.
• Ärzte und Patienten können den Hype befeuern, indem sie die natürliche Besserungstendenz der Beschwerden unterschätzen und Besserungen fälschlicherweise dem Präparat zuschreiben.
verbreitet und eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit der Bevölkerung. Doch dank gezielter Public-HealthMassnahmen, wie etwa der Jodierung von Salz oder der Förderung von Vitamin-C-reichen Nahrungsmitteln, konnten diese Mangelkrankheiten weitgehend beseitigt werden. Trotzdem boomt heutzutage der Markt für MikronährstoffSupplemente, obwohl die breite Bevölkerung kaum noch unter ausgeprägten Mangelerscheinungen leidet. Dieser Trend könnte auf eine verzerrte Wahrnehmung von Mikronährstoffmängeln zurückzuführen sein, die mehr von Marketingstrategien als von wissenschaftlichen Notwendigkeiten geprägt ist.
Mikronährstoffmangel: Diagnose oder Spekulation? Die Diagnose eines Mikronährstoffmangels basiert häufig auf unspezifischen Symptomen wie Müdigkeit, Muskelschmerzen oder Schlafstörungen. Doch eine solche Diagnose ist oft problematisch, da diese Beschwerden zahlreiche Ursachen haben können, die nichts mit einem Mikronährstoffmangel zu tun haben. Es gibt wenig belastbare wissenschaftliche Belege, dass eine Supplementierung dieser Nährstoffe in den meisten Fällen wirklich hilft. Trotz mangelnder Evidenz ist der Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln in solchen Situationen aber attraktiv, weil diese im Gegensatz zu Medikamenten keinen strengeren regulatorischen Anforderungen unterliegen.
Ein besonders kritisches Phänomen sei die sogenannte «Cold-Reading»-Technik in der Werbung, betonte Dr. Markun. Dabei werden allgemeine Aussagen gemacht, die auf eine breite Zielgruppe zutreffen, etwa «Sie fühlen sich manchmal müde oder erschöpft». Das ist ein unspezifisches Framing, das bei einer grossen Menge im Publikum das Gefühl der Betroffenheit auslöst. Bereits im nächsten Informationspaket wird dieses unspezifische Framing auf eine völlig ungerechtfertigte, aber willkommen vereinfachende praktische Lösung gelenkt – Mikronährstoffe, so Dr. Markun. So werden Konsumenten oft ohne fundierte wissenschaftliche Grundlage, aber kommunikativ trickreich zu einer Supplementierung verleitet.
ars medici 10 | 2025 343
BERICHT
Trend zur Mikronährstoff-Supplementen Dr. Markun wies darauf hin, dass Ärzte oftmals unbewusst den Trend zur Mikronährstoff-Supplementierung unterstützen. Da viele Patienten an die Wirksamkeit von Mikronährstoffen glauben, verschreiben Ärzte diese oft, auch wenn für die jeweilige Diagnose keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage besteht. Dies verstärkt den Plazeboeffekt und führt zu einer noch stärkeren Verfestigung des Glaubens an die Wirksamkeit von Nahrungsergänzungsmitteln. Das Phänomen der «Regression zur Mitte» spielt hier eine wichtige Rolle. Viele Beschwerden, insbesondere Müdigkeit, unterliegen natürlichen Schwankungen, aber naturgemäss suchen Patienten eine Behandlung, wenn die Beschwerden sich näher am Maximum der natürlichen Schwankung befinden, so Dr. Markun. Wenn sie in einer besonders belastenden Phase ein beliebiges Präparat erhalten, wird sich rein durch die statistische Rückläufigkeit zum «normalen» Beschwerdebild eine scheinbare Verbesserung einstellen, die fälschlicherweise auf das Mittel zurückgeführt werden kann, wenn diese «Regression zur Mitte» weder Arzt noch Patient als Phänomen bekannt ist. Dies gehört übrigens auch zu den Gründen, weshalb man in Plazebogruppen bei randomisierten Studien eine Verbesserung findet: Patienten werden typischerweise bei Arztbesuchen eingeschlossen, also in Situationen, in denen es ihnen eher besonders schlecht geht. Dann wird in der Studie bei einem bestimmten Zeitpunkt nachgemessen und es geht überraschend besser. Dies ist zu einem Teil «Regression zur Mitte» und wird häufig fälschlicherweise gänzlich dem Plazeboeffekt zugeschrieben.
Vitamin D und B12 im Detail Während es für Eisentherapie bereits im frühen Stadium (bei Müdigkeit noch vor dem Auftreten der Anämie) eine gut belegte Wirksamkeit gibt, zeigt die wissenschaftliche Evidenz für Therapie oder Supplementierung mit anderen Mikronährstoffen in einem hypothetischen frühen Mangelstadium wenig überzeugende Ergebnisse. In Bezug auf Vitamin D konnten zahlreiche methodisch hervorragende Studien, darunter die RECORD-Studie, die DO-HEALTH-Studie und die VITAL-Studie (3–5), keinen signifikanten Effekt auf Gesundheitsparameter wie Frakturen, Blutdruck oder kognitive Funktionen nachweisen. Auch die weitverbreitete Annahme, dass Vitamin-D-Supplemente Müdigkeit lindern könnten, findet keinen wissenschaftlichen Rückhalt, der eine feste Überzeugung rechtfertigt: in bestimmten Studien zeigten sich Effekte, in anderen nicht. Dies spricht dem Experten zufolge nicht für starke oder klinisch relevante Effekte. «Für Vitamin B12 gibt es zwar klare Indikationen für die Supplementierung, insbesondere bei diagnostizierter perniziöser Anämie oder Malabsorption, doch die Vorstellung, dass ein B12-Mangel in einem hypothetischen Frühstadium häufig Müdigkeit verursacht, wird wissenschaftlich nicht ausreichend gestützt», führte der Referent aus. Eine umfassende Metaanalyse konnte nur eine einzige doppelblinde, randomisierte Studie zu dieser Fragestellung identifizieren (6). Leider wurde die Müdigkeit nicht auf einer validierten Skala zur Messung von Müdigkeit bestimmt, was ein gewisses Fragezeichen bei dieser einen Studie aufwirft. Besonders erstaunlich
ist aber die Abwesenheit von Studien angesichts des weit verbreiteten Glaubens; eine solche Studie ist nämlich vergleichsweise einfach durchzuführen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es sich um einen «Publication Bias» handeln könnte: Es sind möglicherweise sehr wohl Studien durchgeführt worden. Diese konnten aber keinen Effekt zeigen, und es bestand deshalb kein Interesse, diese zu publizieren, weshalb sie nicht zum Wissen über die (Un-)Wirksamkeit beitragen konnten, so Dr. Markun.
Mikronährstofftests: eine teure Fehlinterpretation? Ein weiteres Problem ist die unklare Diagnostik von Mikronährstoffmängeln. Der Grenzwert für Ferritin, der zur Diagnose von Eisenmangel herangezogen wird, hat einen massgeblichen Einfluss darauf, wie häufig ein Eisenmangel diagnostiziert wird. Je nach festgelegtem Cut-off-Wert werden sehr unterschiedliche Diagnosen gestellt – dies zeigt, wie wenig standardisiert und klar die Diagnostik von Mikronährstoffmängeln tatsächlich ist. Dabei ist Ferritin und der Zusammenhang mit Müdigkeit immerhin durch randomisierte Studien belegt, bei Vitamin D lässt sich dies nicht sagen, und das Vertrauen in den «Normwert» ist nicht durch ausreichende Evidenz belegt. Möglicherweise erklärt dies, weshalb all die Studien zur Supplementierung von Vitamin D und B12 keine Effekte gezeigt haben: Wo a priori noch kein Mangel herrscht, kann Supplementierung gar nichts bringen. Es ist, als würde man in ein bereits voll getanktes Auto noch mehr Benzin füllen – der Tank läuft einfach über, der Überschuss landet im Abfluss, so Dr. Markun.
Zusätzlich verursachen Mikronährstofftests und die anschliessende Supplementierung hohe Kosten, ohne dass diese stets einen relevanten medizinischen Nutzen bieten. Der Boom um Vitamin D, B12 und andere Mikronährstoffe wird durch Ärzte, die Industrie und die Medien angetrieben, obwohl die wissenschaftliche Evidenz für ihre breite Anwendung in der Allgemeinbevölkerung häufig fehlt. Stattdessen sollte der Fokus auf nachweislich wirksamen Behandlungen liegen, um das Gesundheitssystem effizienter zu gestalten und unnötige Belastungen zu vermeiden.
Der Hype um Mikronährstoffe wird weitergehen Abschliessend betonte der Referent, dass der Hype um Mikronährstoffe wohl auch weiterhin bestehen bleiben werde und leider zu Lasten der Möglichkeiten der erwiesenermassen wirksamen Medizin. Besonders enttäuschend daran sei, dass der Hype der Beweisführung vorauseilt. Einmal mehr wäre man besser damit bedient gewesen, die Beweislast für eine Behauptung bei der Partei zu suchen, die die Behauptung aufstellt. Aber welche Motivation hat man, den Hype kritisch zu untersuchen, wenn man vom Hype bereits profitiert? Von der Industrie sind solche Studien naturgemäss nicht zu erwarten, hier müssen öffentliche Institutionen den Wissensstand vorantreiben, so Dr. Markun.
Leonie Dolder
Quelle: «Mangelversorgung oder Laborkosmetik? Mikronährstoffe im Spiegel der Gesellschaft». Ärztekongress Davos, 6.–8. Februar 2025, Davos, und persönlicher Austausch
344 ars medici 10 | 2025
Referenzen: 1. Bolland MJ et al.: Effects of vitamin D supplementation on musculoske-
letal health: a systematic review, meta-analysis, and trial sequential analysis. Lancet Diabetes Endocrinol. 2018;6(11):847-858. 2. Markun S et al.: Effects of Vitamin B12 Supplementation on Cognitive Function, Depressive Symptoms, and Fatigue: A Systematic Review, Meta-Analysis, and Meta-Regression. Nutrients. 2021;13(3):923. 3. Grant AM et al.: RECORD Trial Group. Oral vitamin D3 and calcium for secondary prevention of low-trauma fractures in elderly people. Lancet. 2005;365(9471):1621-8. 4. Bischoff-Ferrari HA et al.: Effect of Vitamin D Supplementation, Omega-3 Fatty Acid Supplementation, or a Strength-Training Exercise Program on Clinical Outcomes in Older Adults. JAMA. 2020;324(18):1855-1868. 5. Manson JE et al.: Vitamin D Supplements and Prevention of Cancer and Cardiovascular Disease. N Engl J Med. 2019;380(1):33-44. 6. Schlichtiger U et al.: Zum Einfluss der Vitamin-B6-B12-Folsäure-Kombination auf die Lebensqualität und Vitalität älterer Menschen. Geriat Forsch. 1996;6(4):185-196.
BERICHT
ars medici 10 | 2025 345