Transkript
BERICHT
Gewalt im Alter
Subtile Zeichen erkennen und handeln
Gewalt im Alter ist im klinischen Alltag präsenter, als viele vermuten. Wie erkennen Ärzte und Gesundheitsfachpersonen subtile Zeichen von Gewalt bei vulnerablen älteren Menschen? Die Bereichsleitung Pflege Sonja Santi vom stadtärztlichen Dienst Zürich und Bettina von Rickenbach, Co-Chefärztin Akutgeriatrie und Palliative Care, Spital Affoltern, sensibilisieren in einem interdisziplinären Vortrag für ein tabubehaftetes Thema und geben konkrete Hilfestellungen zum Erkennen, Einordnen und Handeln.
Frau M. ist 86 Jahre alt. Sie wird nach einer Synkope notfallmässig hospitalisiert. Bereits beim ersten Kontakt fällt auf: Hämatome unterschiedlichen Alters bedecken ihre Unterarme, die Haut ist teils abgeledert. Die Patientin ist wach und orientiert, leidet aber an einer bekannten Demenz, einem Parkinson-Syndrom und ist seit einigen Wochen bettlägerig. Zu Hause lebt sie mit ihrem Ehemann, der die Pflege weitgehend übernimmt – unterstützt von Spitex, Physio- und Ergotherapie und den Kindern. Doch reicht das aus?
Im Gespräch mit den Fachpersonen wird deutlich, dass der Ehemann eine zentrale Rolle für das emotionale Wohlbefinden der Patientin spielt. Sie reagiert positiv, wenn er sie besucht – und wirkt traurig, wenn er wieder geht. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Könnte hinter den körperlichen Auffälligkeiten mehr stecken? Ist es Gewalt? Und wenn ja, wer übt sie aus? Die Patientin durch ihre Demenz und Immobilität? Der Partner als Ausdruck einer Überforderung im Pflegealltag? Oder liegt die Ursache woanders?
Gewalt im Alter bleibt oft verborgen Gewalt gegen ältere Menschen bleibt oft verborgen, gewinnt aber durch die demografische Entwicklung zunehmend an Brisanz. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) war im Jahr 2022 jede sechste Person über 60 Jahre betroffen (1).
KURZ UND BÜNDIG
• Gewalt im Alter ist häufig – aber selten erkannt. • Demenz, Pflegebedürftigkeit und Isolation erhöhen das
Risiko. • Gesundheitsfachpersonen sind Schlüsselakteure. • Gespräche sensibel führen, dokumentieren und im Team
handeln. • Definierte betriebliche Abläufe und verantwortliche
Personen zum Thema Versorgung von Gewaltbetroffenen sind wichtig. • Vernetzung mit Unterstützungsstellen wie KESB und Opferhilfe nutzen.
In der Schweiz geht man von bis zu 500 000 Betroffenen aus – mit einer erheblichen Dunkelziffer (2). Gewalt kann sowohl psychische als auch physische Auswirkungen auf die Betroffenen haben. Selten zeigt sie sich offensichtlich, sie schleicht sich ein, zum Beispiel durch Vernachlässigung, harsche Sprache, finanziellen Druck oder soziale Isolation. Die Corona-Pandemie hat das Problem zusätzlich verschärft. Reduzierte Besuchsmöglichkeiten, mangelnde soziale Kontrolle und steigende Belastung in der häuslichen Pflege führten zu einem Anstieg der Gewaltfälle – auch in der Schweiz.
Schweigen schützt die, die Gewalt ausüben Gewalt im Alter ist ein Tabuthema. Auch viele Gesundheitsfachpersonen erkennen sie schon gar nicht oder scheuen sich, einen Verdacht offen anzusprechen – aus Unsicherheit, Angst vor Eskalation oder Unkenntnis über weitere Schritte. Oft wollen die Betroffenen auch nicht, dass die Gewalt ausübende Person «weg» ist oder verurteilt wird, sondern nur, dass die Gewalt aufhört. Dass sie meist weiter bei den Angehörigen bleiben möchten, erschwert den Umgang mit der Situation für die Gesundheitsfachpersonen. Dabei sind sie oftmals die Einzigen, die Zugang zu den Betroffenen haben. Die Dunkelziffer ist hoch: Auf jeden polizeilich erfassten Fall kommen schätzungsweise 23 weitere, die nie bekannt werden (3). Schweigen schützt nicht die Opfer, sondern die, die Gewalt ausüben.
Wer ist gefährdet – und warum? Nicht alle älteren Menschen sind gleichermassen gefährdet (Kasten 1). Besonders betroffen sind Personen mit eingeschränkter kognitiver oder körperlicher Funktion: Menschen mit Demenz, Depression, Immobilität, Pflegebedürftige, die von Angehörigen abhängig sind. Auch Alleinlebende ohne soziale Kontrolle gehören zur Risikogruppe.
Die gewaltausübenden Personen haben oft eigene Belastungen: pflegende Angehörige oder Pflegepersonal mit Überforderung, Depression oder Suchtproblematik. Gewalt entsteht nicht selten aus einem Zusammenspiel von Hilflosigkeit, Stress und unzureichender Unterstützung (2).
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BERICHT
Kasten 1:
Risikofaktoren
Bei betroffenen Personen: • kognitive Beeinträchtigungen (z.B. Demenz) • psychische Erkrankungen, Depression • eingeschränkte Mobilität • soziale Isolation
Bei potenziellen Tätern: • Angehörige/Gesundheitsfachpersonen – psychische Belastung – Suchtmittelkonsum – Überlastung (z.B. gleicher Haushalt, stationäres Setting)
Kasten 2:
Red Flags im Klinik- oder Praxisalltag
• wiederholte Verletzungen ohne klare Ursache • verzögerte Konsultation trotz Verletzungen • unerklärte gynäkologische Infekte • deutlicher körperlicher Abbau trotz Pflege • auffällige soziale Dynamik bei Gesprächen • Angst, Nervosität oder Rückzug der betroffenen Person
Kasten 3:
Gesprächsführung mit älteren Betroffenen
• ruhige, geschützte Umgebung schaffen • Betroffene nicht unterbrechen oder beeinflussen • keine Angehörigen beim Gespräch • keine Vorverurteilung, sondern offene Haltung • Dokumentation von Aussagen und Auffälligkeiten • Weitergabe nur mit Zustimmung – ausser bei akuter Gefährdung
Kasten 4:
Das Zürcher Modell der forensischen Opferbetreuung
Seit Frühling 2024 bietet der Kanton Zürich Gewaltopfern eine forensi-
sche Betreuung an – auch ohne Anzeige bei der Polizei. Forensic Nurses
sichern in Zürcher Spitälern professionell Spuren, beraten Betroffene em-
pathisch und vernetzen sie mit Hilfsangeboten. Das Modell senkt die Hür-
de für medizinische und rechtliche Unterstützung deutlich. Es ist ein Pilot-
projekt der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit dem Kanton und
läuft bis 2026. Ziel ist eine flächendeckende, zeitnahe Versorgung für alle
Gewaltopfer – unabhängig von Geschlecht oder Alter.
Mü
Fixationsspuren, ungeklärte Frakturen, Dekubitalulzera, schlechte Körperhygiene oder Unterernährung. Auch psychische und psychosomatische Symptome wie Erschöpfung, Suizidgedanken oder auffällige Interaktionen – etwa wenn eine betreuende Person ständig anwesend ist und es gar nicht möglich ist, die Betroffenen allein zu «erwischen» – können Alarmsignale sein (4). Auch Rückzug oder Kontaktabbruch zu Verwandten und Bekannten können Red Flags sein. Gleichzeitig ist es wichtig, sensibel zu bleiben. Nicht jede Hämatomspur bedeutet Gewalt, und nicht jede strenge Pflegeperson ist übergriffig. Es braucht medizinisches, pflegerisches und menschliches Gespür – und vor allem: Handlungskompetenz.
Was tun bei Verdacht? Im Fall eines Verdachts ist ein sensibles Gespräch der erste Schritt (Kasten 3). Fachpersonen müssen Vertrauen aufbauen, ohne zu drängen. Betroffene müssen die Möglichkeit haben, sich im Einzelgespräch frei zu äussern. Wichtig: Diejenigen, von denen die Gewalt ausgeht, dürfen bei solchen Gesprächen nicht anwesend sein (4,5). Offene Fragen wie «Wie erleben Sie den Alltag zu Hause?» oder «Fühlen Sie sich sicher in Ihrer Umgebung?» erleichtern den Einstieg. Eine Vertiefung kann situativ erfolgen: «Hatten Sie jemals Angst vor lhrem Partner oder lhrer Partnerin?»
Sprachbarrieren sollten Dolmetscher und nicht Angehörige überbrücken. Bei konkretem Verdacht ist eine sorgfältige Dokumentation entscheidend – auch fotografisch, wenn medizinisch vertretbar. Um Informationen mit externen Fachpersonen auszutauschen, muss das Opfer einverstanden sein, gegebenenfalls kann eine Aufhebung der Schweigepflicht beantragt werden. Die Entscheidung über das Vorgehen sollte im Team abgestimmt werden.
Netzwerke schaffen, Verantwortung teilen Gewalt im Alter lässt sich nicht allein durch individuelle Wachsamkeit verhindern. Es braucht klare institutionelle Abläufe, interprofessionelle Zusammenarbeit und das Bewusstsein, dass Gewaltprävention Teil professioneller gesundheitlicher Versorgung ist (6,7).
Kantonale Opferhilfe-Stellen, regionale Dienste wie z.B. die Forensic-Nursing-Dienste (Kasten 4) oder die Fachstelle Seniorenschutz der Polizei im Kanton Zürich sowie schweizweit tätige Organisationen wie Pro Senectute sind wichtige Partner, wenn es darum geht, Betroffene zu schützen und zu stärken. Auch Ferienbetten zur temporären Entlastung können für pflegende Angehörige eine hilfreiche Option sein. In akuten Fällen sollte ein Notfallplan bereitliegen: mit der Notrufnummer der Polizei, einem sicheren Zufluchtsort und wichtigen Gegenständen wie Geld, Ausweis und Kleidung. Ist die betroffene Person nicht urteilsfähig und in Gefahr, muss die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) oder die Polizei eingeschaltet werden.
Warnzeichen ernst nehmen Bestimmte Hinweise sollten Verdacht wecken (Kasten 2). Dazu zählen Verletzungen in verschiedenen Heilungsstadien,
Fazit: hinschauen statt wegsehen Gewalt im Alter bleibt häufig unsichtbar und wird oft verdrängt. Doch gerade am Lebensende, wenn die Autonomie
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LINKTIPPS
Die Broschüre «Gewalt bei älteren Paaren» gibt Fachpersonen einen Leitfaden zur Erkennung und zum Umgang mit Gewalt in Partnerschaften von älteren Menschen:
Ein interdisziplinärer Online-Kurs «Schutz und Hilfe bei häuslicher Gewalt» (Deutschland) findet sich via folgenden QR-Code:
Die European Training Platform on Domestic Violence stellt im Rahmen des IMPRODOVA-Projekts OnlineTrainingsmodule zu häuslicher Gewalt für Gesundheitsberufe zur Verfügung:
Unter folgendem QR-Code finden Sie ein Interventionsprotokoll für Fachpersonen (DOTIP) zur Bekämpfung von Gewalt in Paarbeziehungen:
Der folgende QR-Code führt Sie zur unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA):
schwindet, ist es wichtig, genauer hinzuschauen. Ärzte und Gesundheitsfachpersonen haben eine Schlüsselrolle, um Leid zu erkennen, Schutz zu bieten und das Schweigen zu brechen. Es braucht Mut – aber auch Struktur, Wissen und Haltung. Und manchmal reicht schon die einfache Frage: «Wie geht es Ihnen wirklich?»
Christine Mücke
Quelle: «Die verschiedenen Formen von Gewalt im Alter bei chronisch Erkrankten und am Lebensende», Vortrag von Sonja Santi, Pflegefachfrau FH Bsc Nursing, cand. Msc Nursing Bereichsleitung Pflege, stadtärztlicher Dienst, Zürich, und Bettina von Rickenbach, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin, spez. Geriatrie, interdisziplinärer Schwerpunkt Palliativmedizin, Co-Chefärztin Akutgeriatrie und Palliative Care, Spital Affoltern, im Rahmen des 6. Symposium Geriatrie für die Praxis «Tabus brechen – Lebensqualität im Alter und am Lebensende stärken.», Affoltern und online, 27. März 2025
Referenzen: 1. WHO. Abuse of Older People. World Health Organization. June 153,
2022. Accessed March 30, 2025. https://www.who.int/news-room/ fact-sheets/detail/abuse-of-older-people 2. Krüger P et al.: Gewalt im Alter verhindern. Bundesamt für Sozialversicherungen; 2020. 3. Touza Garma C: Influence of health personnel’s attitudes and knowledge in the detection and reporting of elder abuse: An exploratory systematic review. Psychosocial Intervention. 2017;26(2):73-91. doi:10.1016/j.psi.2016.11.001 4. EBG. Berufsfeld Gesundheit und Pflege: Empfohlene Kompetenzen zu geschlechtsspezifischer, sexualisierter und häuslicher Gewalt. Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann; 2024. 5. Roulet Schwab D et al.: Gewalt bei älteren Paaren – Ein Leitfaden für Fachpersonen. Institut et Haute Ecole de la Santé La Source (HES-SO); 2023. 6. Dong XQ: Elder Abuse: Systematic Review and Implications for Practice. J Am Geriatr Soc. 2015;63(6):1214-1238. doi:10.1111/jgs.13454 7. Cooper C et al.: The prevalence of elder abuse and neglect: a systematic review. Age Ageing. 2008;37(2):151-160. doi:10.1093/ageing/afm194
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