Transkript
INTERVIEW
Hexenschuss – «Sich auf keinen Fall ins Bett legen»
ILLUSTRATION: WA-DESIGN
Die Schmerzen bei Hexenschuss sind heftig und treffen einen scheinbar aus heiterem Himmel. Was tun, wenn der Rücken verkrampft und steif ist und man es kaum schafft, sich allein anzuziehen? Der Rheumatologe Adrian Forster informiert über ErsteHilfe-Massnahmen und die weitere Behandlung von Hexenschuss, der in der Medizin als Lumbago bezeichnet wird.
S prechstunde: Was geschieht bei einem Hexenschuss medizinisch gesehen? Adrian Forster: Es handelt sich um eine plötzliche schmerzhafte Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule und vielleicht auch der Gelenke zwischen Kreuzbein und Becken. Wie es dazu kommt, ist ziemlich unklar. Sicher ist, dass in der Folge ein Teufelskreis entsteht. Durch die Schmerzen verspannt sich die Rückenmuskulatur, was wiederum mehr Schmerz erzeugt, und dadurch verspannen sich die Muskeln noch stärker. Hexenschuss ist übrigens einer der häufigsten Gründe überhaupt, weshalb ein Arzt aufgesucht wird.
Woher kommt der umgangssprachliche Begriff «Hexenschuss»? Der Hexenschuss wird als plötzlicher, einschiessender Schmerz beschrieben. Man empfindet ihn als etwas sehr Bösartiges, und die Hexe ist im Volksmund negativ geprägt.
Wodurch werden die heftigen Schmerzen ausgelöst? Durch Rotationsbewegungen oder wenn man etwas Schweres hebt. Oft findet man allerdings keinen Auslöser. Wir sprechen hier von der gutartigen Form des Hexenschusses. Doch kann auch eine ernsthafte Ursache dahinterstecken, wenn solche Schmerzen auftreten,
etwa eine Diskushernie, eine Infektion oder sogar ein Tumor. Bei älteren Menschen ist auch an einen Knochenbruch zu denken.
Viele Betroffene befürchten bei einem Hexenschuss, es handle sich um eine Diskushernie, also einen Bandscheibenvorfall. Wie häufig trifft dies zu? Relativ selten. Mit Abstand am häufigsten ist die Ursache ein mechanisches Problem, allenfalls provoziert durch Bewegungen oder Belastungen, wie vorhin erwähnt. Dies gilt für über 90 Prozent der Fälle.
Wie unterscheidet sich Hexenschuss von anderen Rückenschmerzen?
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MUSKELSCHMERZEN
Typisch ist, dass die Muskulatur im unteren Rücken bretthart und unbeweglich wird. Was man als Hexenschuss bezeichnet, sind die genannten Funktionsstörungen einzelner Segmente der Wirbelsäule, welche mit schmerzhaften Muskelverspannungen einhergehen. Dasselbe Schmerzempfinden kann sich aber auch bei ernsthaften Erkrankungen entwickeln. Für uns Ärzte ist es oft sehr schwierig festzustellen, welches Problem vorliegt. Man muss die Patienten gut untersuchen, vor allem wenn die Schmerzen in die Beine ausstrahlen. Dann könnten Nervenwurzeln der Lendenwirbelsäule beeinträchtigt sein, am häufigsten durch eine Diskushernie. Lässt sich eine ernsthafte Erkrankung ausschliessen, kann man eigentlich abwarten. Wenn der Schmerz aber nicht innerhalb einer Woche abklingt, muss man der Sache noch einmal nachgehen.
Wie behandeln Sie als Arzt einen Hexenschuss? Das Allerwichtigste ist, dem Patienten zu sagen, dass es nichts Bösartiges ist und dass er sich trotz der Schmerzen normal bewegen soll. Früher verordnete man Bettruhe, aber das nützt nichts, im Gegenteil, die Störung wird so länger aufrechterhalten. Zudem macht es den Patienten Angst, wenn man sie ins Bett schickt und ruhigstellt, weil sie dann denken, dass sie etwas ganz Schlimmes haben. Dabei verläuft der Hexenschuss in den meisten Fällen gut und verschwindet, ohne dass man viel unternimmt.
Bei welchen Anzeichen sollte man unbedingt einen Arzt aufsuchen? Sobald die Schmerzen ein Ausmass erreichen, das die Betreffenden bei ihren täglichen Verrichtungen beeinträchtigt, also wenn Arbeiten nicht mehr möglich ist. Wenn man aber im Alltag noch funktionieren kann, ist es sicher berechtigt, einige Tage abzuwarten. Bei zusätzlichen Symptomen wie Ausstrahlungen in die Beine, allgemeinem Unwohlsein oder sogar Fieber sollte man immer sofort einen Arzt aufsuchen. Dies gilt auch,
wenn die Schmerzen in Zusammenhang mit einem Unfall auftreten.
Sind Schmerzmittel angebracht, um den Teufelskreis von Schmerz und Verkrampfung zu durchbrechen? Ja, ich finde es sinnvoll, Schmerzmittel anzuwenden. Es kann auch hilfreich sein, wenn man vor dem Zubettgehen muskelentspannende Medikamente, sogenannte Muskelrelaxanzien, einsetzt. Häufig erreicht man aber auch mit anderen Massnahmen eine Entspannung, insbesondere mit Wärme. Sehr nützlich sind Wärmepackungen, sie eignen sich deshalb auch als Erste-Hilfe-Massnahme.
Gibt es weitere Behandlungen, die den Schmerz lindern? Eine gute Möglichkeit sind Manipulationen, also manuelle Behandlungsmethoden. Die verspannten Muskeln werden dabei gedehnt und gelockert. Man versucht, die Lendenwirbelsäule wieder beweglicher zu machen. Damit haben Manualmediziner oder Chiropraktiker viel Erfahrung. Vor allem soll man aber selber so gut wie möglich in Bewegung bleiben. Manche schwören auf Massage, Yoga, Akupunktur oder auf das Tragen eines Korsetts. Dies sind allerdings Massnahmen von unsicherem Wert.
Was sollte man bei Hexenschuss auf keinen Fall tun? Sich ins Bett legen oder sich starke Morphinpräparate verschreiben lassen. Solche Medikamente führen dazu, dass man müde wird, sich weniger bewegt und viel mehr Zeit braucht, um wieder fit zu werden. Zudem besteht bei diesen Medikamenten ein Abhängigkeitspotenzial.
Kann der Hexenschuss jeden treffen? Ja. Fast jeder gesunde Mensch erlebt irgendwann einmal einen Hexenschuss. Es trifft jedoch häufiger Personen mit einer Überbeweglichkeit der Wirbelsäule und solche mit schlechter körperlicher Fitness. Auch Menschen mit einer Wirbelsäulenverkrümmung sind eher gefährdet.
Gibt es Berufe, bei denen ein erhöhtes Risiko besteht? Ja, es sind die Berufe mit repetitiven oder statisch-monotonen Belastungen. Wer auf dem Bau oder in der Industrie sehr monotone Arbeiten verrichtet, etwa am Fliessband, neigt eher zu Hexenschuss, ebenso Personen, die häufig vor dem Computer sitzen.
Bedeutet einmal Hexenschuss, immer Hexenschuss? Der Schmerz kann chronisch werden, das heisst, er bleibt bestehen. Das ist aber bei weniger als 5 Prozent der Patienten der Fall. Man spricht dann von chronischem Kreuzschmerz.
Wie entsteht ein chronischer Schmerz? Man geht heute davon aus, dass sich der Schmerz im Hirn festsetzt und dann verselbstständigt. Man weiss, dass dies besonders Menschen betrifft, die starken psychischen oder sozialen Belastungen ausgesetzt sind. Es gibt aber immer auch Fälle, bei denen nicht klar ist, weshalb ein Hexenschuss in einen chronischen Rückenschmerz übergeht.
Wie kann man vor-
beugen? Wenn man belastende Arbeiten verrichtet, sollte man seine Wirbelsäule schonen.
Dr. med. Adrian Forster ist seit 2005 Direktor der Thurgauer Rehabilitationsklinik Katharinental und Facharzt für Rheumatologie, Rehabilitation und
Beim Heben lohnt es Innere Medizin.
sich, den Rücken
möglichst gerade zu halten und sich
nicht zu stark nach vorne zu beugen. Die
wichtigste Prophylaxe ist aber, sich kör-
perlich fit zu halten und Muskelkraft
und Ausdauer zu trainieren.
Herr Forster, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Interview führte Marion Eberhard.
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