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Krampf, lass nach
Wenn die Muskeln brennen, stechen oder sich krampfartig zusammenziehen, ist dies zwar unangenehm, aber meist kein Grund zur Sorge. Manchmal können Muskelschmerzen jedoch auch Hinweis auf eine Erkrankung sein.
von Helen Weiss*
Jeder Mensch hat mehr als 650 Muskeln – unterschiedlich in Grösse, Trainingszustand und Funktion. Und jeder einzelne kann schmerzen. Es gibt verschiedenste Ursachen, warum es in den Kraftpaketen zieht, bohrt und sticht. Die meisten sind harmlos und lassen sich gut behandeln. «Jeder Gesunde kennt Muskelschmerzen nach einer ungewohnten oder übermässigen Belastung», bestätigt Sebastian Humpert, Oberarzt der Neurologischen Universitätsklinik am Inselspital Bern. Muskelkater etwa ist meist heftig, dafür aber nur während kurzer Zeit nach einer körperlichen Überanstrengung zu spüren. Durch die
Ausnahmebelastung bilden sich winzige Risse im Muskelgewebe. Entzündungsstoffe werden freigesetzt, es kommt zu Einlagerungen von Flüssigkeit aus dem Gefässsystem. Diese Flüssigkeit kann durch die Risse ins Gewebe fliessen. Dort sammelt sie sich, und langsam schwellen die Muskelfasern an. Der Dehnungsschmerz ist das, was man Muskelkater nennt.
Nicht am obersten Limit trainieren Muskelkater kann äusserst schmerzhaft sein, weshalb man während dieser Zeit mit dem Sporttraining pausieren und die Muskeln weder dehnen noch weiteren Belastungen aussetzen sollte. Humpert: «Muskelschmerzen sind ein Warnsignal des Körpers vor einer drohenden Gewebeschä-
digung.» Entspannungsbäder und Saunabesuche lindern die Schmerzen; Massagen sind jedoch nicht angebracht: Sie verzögern die Heilung, da sie die Muskulatur zusätzlich irritieren. Zwar ist Muskelkater relativ harmlos, wer aber immer am obersten Limit trainiert, tut sich nichts Gutes: «Anhaltendes Übertrainieren ist kontraproduktiv für die muskuläre Leistungsfähigkeit und den Bewegungsapparat», so der Facharzt. Damit sich ein Trainingseffekt einstellen kann, sollte die Belastung den eigenen Fähigkeiten angepasst werden.
Krankheiten als Ursache für Muskelschmerzen Im Gegensatz zu einem banalen Muskelkater sind anhaltende und unerklärliche Muskelschmerzen Anlass für eine Konsultation beim Hausarzt. «Dabei handelt es sich häufig um einen fortgeleiteten Schmerz. Das bedeutet, die Schmerzursache liegt ausserhalb des Muskels, etwa im Bereich der Gelenke», erklärt Humpert. Die Ursachen von Muskelschmerzen (Myalgien) sind äusserst vielfältig – sie können Zeichen für eine rheumatologische Erkrankung, hormonelle Probleme wie Schilddrüsenfunktionsstörungen oder eine Störung der Blutversorgung, wie etwa bei der Schaufensterkrankheit, sein. «Daneben können orthopädische Probleme, virale Infekte oder psychische Beschwerden Muskelschmerzen auslösen. In einigen Fällen bleibt die Diagnose unklar.»
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ILLUSTRATION WA-DESIGN
MUSKELSCHMERZEN
Auch schwerwiegende Leiden wie die Polymyalgia rheumatica, eine entzündliche Erkrankung der Arterien im höheren Lebensalter, verursachen zu Beginn Muskelschmerzen und morgendliche Muskelsteifheit. «Im weiteren Verlauf können Organe, die aufgrund der Erkrankung nur noch vermindert durchblutet werden, irreversibel geschädigt werden. Die plötzliche Erblindung ist die häufigste befürchtete Komplikation», sagt Humpert.
Alkohol und Medikamente Weiter erwähnt Sebastian Humpert die Polymyositis, eine Muskelentzündung, die durch Muskelschmerzen und zunehmende Lähmungen gekennzeichnet ist: «In einem begründeten Verdachtsfall sollte eine Muskelbiopsie durchgeführt werden, um eine sichere Diagnose zu ermöglichen.» Eine rechtzeitige Behandlung könne jedoch eine bleibende Schädigung verhindern. Auch Alkohol schadet den Muskeln: Ein Alkoholexzess kann Muskelschmerzen und Krämpfe verursachen sowie Arme und Beine anschwellen lassen. Viele Myalgien werden ausserdem durch Medikamente ausgelöst. Einige Arzneimittel führen zu Entzündungen der Muskeln – dazu gehört etwa Penicillin. «Meidet man bei einer solchen toxischen Muskelschädigung den Auslöser, verschwinden die Beschwerden meistens», erklärt Humpert.
Zu wenig Flüssigkeit und Mineralstoffe Bei der Diagnose gilt es, als «krampfartig» beschriebene Myalgien von den eigentlichen Muskelkrämpfen abzugrenzen. Muskelkrämpfe sind nicht nur für Sportler eine schmerzhafte Erfahrung: Jede dritte Person wird davon kurzfristig ausser Gefecht gesetzt. Eine starke Anspannung und eine tastbare Verhärtung des Muskels sind die Hauptmerkmale. Körperliche Anstrengung und ein Ungleichgewicht im Flüssigkeits- oder Mineralstoffhaushalt gehören zu den wichtigsten Auslösern von Muskelkrämpfen. Wer stark schwitzt, scheidet nicht nur Wasser, sondern auch Kalium, Kalzium und Magnesium aus. Fehlen dem Körper diese Elektrolyte, sind die Muskelnerven leichter erregbar, und das Krampfrisiko steigt. Mangelzustände werden auch durch Schwangerschaft, Dauerstress oder falsche
Unterschied Muskelkrampf und Restless-legs-Syndrom
Der nächtliche Muskelkrampf tritt plötzlich und schmerzhaft auf,
betrifft stets nur einen Muskel und klingt spontan innert Sekunden
oder wenigen Minuten ab. Durch das Zusammenziehen ist der
Muskel fühlbar verhärtet, und es kommt zu unwillkürlichen Bein-
bewegungen. Oftmals werden Muskelkrämpfe mit dem Restless-
legs-Syndrom (RLS) verwechselt, da auch diese Beschwerden im
Ruhezustand, häufig nachts, auftreten. Unter dem RLS versteht
man unangenehme Missempfindungen in den Beinen, die sich als
ziehende, reissende oder kribbelnde Schmerzen äussern.
Im Unterschied zu Krämpfen sind die Beschwerden bei unruhigen
Beinen diffuser und treten nicht so plötzlich auf. Ein weiteres
Merkmal ist der Drang, sich zu bewegen, was gegen die Schmer-
zen hilft. Damit kommt es zwangsläufig zu Schlafstörungen, und
der Körper kann sich nicht erholen. Auch in entspannten Situa-
tionen – etwa beim Lesen oder Fernsehen, im Kino oder im Thea-
ter – stellen sich die Beschwerden ein. Das RLS kann vererbt sein
und tritt ausserdem gehäuft bei chronischem Nierenversagen auf,
wenn eine regelmässige Blutwäsche durchführt werden muss.
Auch Schwangere oder Menschen mit Eisenmangel leiden ver-
mehrt unter unruhigen Beinen. Die genaue Ursache für RLS ist
noch nicht geklärt.
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Ernährung hervorgerufen. Mit zunehmendem Alter häufen sich zudem nächtliche Krämpfe: «Deren Ursache bleibt in der Regel unklar, sie sind aber meist gutartiger Natur und selten Ausdruck einer schwerwiegenden Erkrankung», sagt Humpert. Der Verzicht auf Genussgifte, aber auch physikalische Massnahmen wie Dehnungsübungen vermindern die Krämpfe. «Manchen Patienten hilft es, wenn sie abends Magnesium einnehmen», weiss der Arzt. Sollten die Krämpfe aber häufig auftreten, muss der Hausarzt konsultiert werden. «Dann kann eine medikamentöse, vorbeugende Behandlung notwendig werden.»
*Helen Weiss ist freischaffende Journalistin. Sie lebt in Basel.
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