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SGGG-EXPERTENBRIEF
EXPERTENBRIEF NR. 91 (AKTUALISIERUNG SEPTEMBER 2025)
(siehe auch: https://www.sggg.ch/fachthemen/expertenbriefe) Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Prävention der Infektionen durch RSV in der Schwangerschaft und postpartal
Der SGGG-Expertenbrief fasst die aktuellen Präventionsstrategien vor Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) zusammen, welche bei Säuglingen eine wichtige Morbiditäts- und Mortalitätsursache in den ersten Lebensmonaten sind. D. Baud, L. Vonzun, A. Radan, L. Schäffer, D. Surbek (Akademie für fetomaternale Medizin)
Evidenzlevel*
RSV und Krankheitslast RSV ist ein hochansteckendes Virus, das durch direkten Kontakt über Speichel, Niesen, Husten und Hände oder durch indirekten Kontakt über kontaminierte Gegenstände (Spielzeug, Schnuller usw.) übertragen werden kann. Der klinische Schweregrad der Infektion hängt mit der anatomischen Enge der Bronchiolen bei Neugeborenen und Kleinkindern zusammen, insbesondere bei Frühgeborenen. In den meisten Fällen bildet sich die Bronchiolitis innerhalb von 5–10 Tagen spontan zurück, der Husten kann jedoch 2–4 Wochen anhalten. Säuglinge, die aufgrund einer Bronchiolitis hospitalisiert
ZUSAMMENFASSUNG
Das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) ist weltweit eine wichtige Morbiditäts- und Mortalitätsursache bei Säuglingen, wobei die Anzahl der Hospitalisierungen in den ersten drei Lebensmonaten am höchsten ist. Schwangere Frauen sollten über zwei mögliche, von der Krankenkasse übernommene Präventionsstrategien informiert werden: • Maternale RSV-Impfung während der Schwangerschaft
zwischen 32 0/7 und 36 0/7 Schwangerschaftswochen (SSW), wenn die Geburt zwischen dem 1. Oktober und dem 31. März (RSV-Saison) erwartet wird, oder • Impfung der Neugeborenen postpartal, wenn die Geburt zwischen 1. Oktober und 31. März stattfindet (Durch führung idealerweise auf der Wochenbettstation vor der Entlassung).
werden, weisen meistens keine anderen Risikofaktoren als ihr junges Alter auf, was die Notwendigkeit unterstreicht, alle Säuglinge vor RSV zu schützen. Die RSV-Bronchiolitis kann von rezidivierenden Episoden von Giemen gefolgt werden und scheint an die Entwicklung von Asthma beteiligt zu sein. Zudem verleiht eine natürliche RSV-Infektion keine dauerhafte Immunität, und Reinfektionen mit RSV sind häufig. Jedes Jahr erkranken fast 30% der Kleinkinder unter zwei Jahren an einer Bronchiolitis, und 2–3% aller Säuglinge unter einem Jahr werden aufgrund einer schweren Bronchiolitis hospitalisiert. Spitalaufenthalte und Arztbesuche aufgrund von RSV bedeuten eine erhebliche wirtschaftliche und gesundheitliche Belastung.
Es gibt keine antivirale Behandlung, die ausreichend wirksam ist, und präventive Hygienemassnahmen sind schwierig umzusetzen und haben eine bescheidene Wirksamkeit. Die Entwicklung von Impfstoffen für Säuglinge stand vor verschiedenen Herausforderungen, darunter die Unreife des kindlichen Immunsystems, welche die Wirksamkeit pädiatrischer Impfstoffe vor dem sechsten Lebensmonat einschränkt.
Evidenzlevel*
A
Zwei mögliche Präventionsstrategien Es stehen zwei wirksame Präventionsstrategien zur Verhinderung einer RSV-Infektion bei Neugeborenen zur Verfügung: 1. Die aktive maternale Impfung von Schwangeren (Abrysvo®), die
zur Übertragung von Antikörpern gegen RSV durch die Plazenta auf den Fötus führt. 2. Die passive Immunprophylaxe von Neugeborenen mit RSV-spezifischen monoklonalen Antikörpern (Nirsevimab, Beyfortus®).
Ziel ist es, dass alle Säuglinge in ihrer ersten Wintersaison vor der RSV-Erkrankung geschützt sind. Es gibt keine Vorzugsempfehlung zwischen mütterlicher Impfung und Neugeborenenimpfung. In dem Fall, dass die Frau in einer früheren Schwangerschaft gegen RSV geimpft wurde, wird aktuell keine zweite Impfung empfohlen, sondern vielmehr die Impfung des Neugeborenen.
Beide Strategien bieten dem Säugling Schutz in den ersten Lebensmonaten und gelten in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit als gleichwertig. Sofern keine der unten erwähnten besonderen Umstände vorliegen, besteht keine Empfehlung, die mütterliche Impfung mit der Säuglingsimpfung zu kombinieren.
Beide Präventionsmöglichkeiten – die maternale Impfung und die Säuglingsimpfung – sollten den werdenden Eltern bereits im Verlauf der Schwangerschaft vor der Geburt von den behandelnden
28 gynäkologie 4 | 2025
SGGG-EXPERTENBRIEF
Evidenzlevel*
Fachärztinnen oder Fachärzten für Gynäkologie/Geburtshilfe, Hebammen und/oder Hausärztinnen und Hausärzten unterbreitet werden. Die Ärztin bzw. der Arzt sollte sicherstellen, dass die Frauen die Unterschiede zwischen den einzelnen Optionen verstehen. In diesem Gespräch sollten auch die Vor- und Nachteile jeder Strategie besprochen werden.
RSV-Impfung bei schwangeren Frauen (Abrysvo®) A Schwangeren ≥ 18 Jahre sollte zwischen 32 (0/7) und 36 (0/7) SSW
eine Einzeldosis des bivalenten RSVpreF-Impfstoffs angeboten werden, wenn der voraussichtliche Geburtstermin zwischen dem 1. Oktober und dem 31. März liegt, um ihre Neugeborenen vor einer schweren RSV-Erkrankung zu schützen.
Die Entwicklung und Übertragung der mütterlichen Antikörper dauern mindestens 14 Tage ab dem Zeitpunkt der Impfung - mit optimalem Schutz, wenn diese ≥ 5 Wochen vor der Geburt erfolgt.
Folglich sind Säuglinge, die <14 Tage nach der mütterlichen Impfung geboren werden, nicht geschützt. Bei Frühgeborenen < 37 Wochen wird empfohlen, unabhängig vom mütterlichen Impfstatus monoklonale Antikörper zu verabreichen. • Schutz: In der klinischen Phase-III-Studie reduzierte die mütterliche RSVImpfung das Risiko einer schweren RSV-Erkrankung um 82% in den drei Monaten und um 69% in den sechs Monaten nach der Geburt. In dieser Studie war eine schwere RSV-Erkrankung definiert als eine RSV-Infektion, die zu Tachypnoe, Hypoxämie, Einsatz einer High-Flow-Nasenkanüle oder mechanischer Beatmung, Einweisung in eine Intensivpflegestation oder zu fehlendem Ansprechen führte. Die Impfwirksamkeit wurde in einer Real-World-Studie bestätigt, die eine Verringerung der Spitalaufenthalte um 79% innerhalb von drei Monaten und von 71% innerhalb von sechs Monaten zeigte. Evidenzlevel* Tabelle: Zusammenfassung der klinisch relevanten Merkmale beider Präventionsstrategien Merkmal Wirkmechanismus Zielbevölkerung Schutzzeitraum Wirksamkeit Sicherheitsprofil Verabreichung Schutz für Frühgeborene Kosten Vorteile Beyfortus® (Nirsevimab) Abrysvo® (mütterlicher RSVpreF-Impfstoff) Monoklonaler Antikörper, der dem Neuge- Impfstoff, der die mütterliche Immunantwort stimuliert, so dass borenen eine passive Immunität verleiht. Antikörper über die Plazenta auf den Fötus übertragen werden. Alle Säuglinge während ihrer ersten RSV-Saison, insbesondere diejenigen, die während der RSV-Saison geboren wurden. Schwangere Frauen zwischen 32 0/7 und 36 0/7 SSW, wenn der voraussichtliche Geburtstermin zwischen dem 1. Oktober und dem 31. März liegt. Sofortiger Schutz nach Verabreichung, hält eine RSV-Saison. Schutz beginnt ca. 14 Tage nach der Verabreichung; Schutzdauer bis zu 6 Monate nach der Geburt und hält bis zu 6 Monate nach der Geburt an. Optimaler Schutz, wenn Verabreichung ≥5 Wochen vor der Geburt erfolgt. Reduziert Hospitalisierungen aufgrund RSV-bedingte Hospitalisierungen um 80–90% in klinischen und Real-WorldStudien. Reduziert schwere RSV-Erkrankungen um 82% in den ersten 3 Monaten und um 69% in den ersten 6 Monaten nach der Geburt. Schützt auch die Mutter vor RSV-Infektionen. Leichte Nebenwirkungen wie Hautausschlag und Fieber; selten schwere Reaktionen. Leichte Reaktionen an der Injektionsstelle, Kopfschmerzen; mögliches (aber statistisch nicht signifikantes) Frühgeburtsrisiko. Intramuskuläre Einzeldosis; gewichtsab- Verabreichung einer intramuskulären Einzeldosis zwischen 32 0/7 hängige Dosierung (50mg für Kleinkin- und 36 0/7 SSW. der <5kg und 100mg für Kinder >5kg).
Unmittelbar wirksam für Frühgeborene Begrenzter oder kein Schutz bei Säuglingen, die <14 Tage nach der mütterlichen Impfung oder vor 34 SSW geboren werden. Von der Krankenkasse übernommen Von der Krankenkasse übernommen. Individuelle Franchise entfällt ab 01.01.2026 • Unmittelbarer Schutz nach der Verab- • Sowohl mütterlicher wie kindlicher Schutz reichung • Wirksam bei Frühgeborenen und älteren Hochrisiko-Säuglingen Nachteile • Mütterliche Immunantwort nicht erforderlich. • Muss vom Gesundheitsfachpersonen nach der Geburt oder auf der Neonatologieabteilung verabreicht werden. • Eingeschränkter Schutz bei Neugeborenen, die kurz nach der Impfung geboren werden (<14 Tage) • Mögliches (aber statistisch nicht signifikantes) Frühgeburtsrisiko • Unklare Interferenz mit Pertussis-Impfung; daher sollten beide Impfungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen. gynäkologie 4 | 2025 29 SGGG-EXPERTENBRIEF Evidenzlevel* A • Nebenwirkungen: Die am häufigsten berichteten Nebenwirkungen waren Schmerzen an der Injektionsstelle, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen und Übelkeit. Die Teilnehmerinnen der klinischen Studie, welche die mütterliche RSV-Impfung erhielten, wurden zwischen 24 und 36 SSW geimpft. Aus einem noch ungeklärten Grund und ähnlich wie in anderen Studien auf diesem Gebiet wurden bei den Teilnehmerinnen, welche die mütterliche RSV-Impfung erhielten, mehr Frühgeburten beobachtet (5,7%) als bei denen, die ein Plazebo erhielten (4,2%). Dieser Unterschied war jedoch statistisch nicht signifikant. Um dieses potenzielle Frühgeburtsrisiko zu minimieren, sollte der mütterliche RSV-Impfstoff ausschliesslich ab 32 (0/7) SSW verabreicht werden. Zu den Kontraindikationen gehören eine Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff und eine akute Infektion. • Nachfolgende Schwangerschaften: Wiederholte mütterliche Impfungen in nachfolgenden Schwangerschaften werden nicht empfohlen aufgrund des aktuell unzureichenden Wissensstands hinsichtlich der Wirksamkeit und Sicherheit von Auffrischungsdosen von Abrysvo® und der Tatsache, dass langwirksame monoklonale Antikörper als alternative Präventionsmassnahme verfügbar sind. • Kosten: Die Kosten der mütterlichen Immunisierung mit Abrysvo® werden in der Schweiz von der Grundversicherung übernommen. Ab dem 1. Januar 2026 ist sie auch von der Franchise ausgenommen. Neonatale Immunisierung mit monoklonalen Antikörpern (Nirsevimab, Beyfortus®): (siehe auch Konsenserklärung RSV_Nirsevimab) Die passive Immunisierung mit RSV-spezifischen monoklonalen Antikörpern wird für alle Neugeborenen ungeimpfter Frauen empfohlen, die während der RSV-Saison (1. Oktober bis 31. März) geboren werden, innerhalb von 7 Tagen nach der Geburt oder so bald wie möglich danach – idealerweise auf der Wochenbettstation vor der Entlassung. Bei Säuglingen, die ausserhalb dieses Zeitraums (April–September) geboren werden, sollte eine Einzeldosis zu Beginn ihrer ersten RSV-Saison (ab Oktober) verabreicht werden. Zusätzlich benötigen Hochrisiko-Säuglinge (wie solche mit chronischen Erkrankungen) möglicherweise eine zweite Dosis vor ihrer zweiten RSV-Saison, um einen kontinuierlichen Schutz zu gewährleisten. Bei Frühgeborenen <37 Wochen wird empfohlen, unabhängig vom mütterlichen Impfstatus monoklonale Antikörper zu verabreichen. • Schutz: Nirsevimab ist ein hochwirksamer, zur RSV-Neutralisierung entwickelter, monoklonaler Antikörper, der gegen das F-Protein, ein Schlüsselelement für den Viruseintritt in die Zelle, gerichtet ist. Klinische Studien haben gezeigt, dass Nirsevimab die Anzahl der Hospitalisierungen aufgrund von RSV-Infektion um 80–90% senken kann und dank seiner langen Halbwertszeit mit einer Einzeldosis eine ganze Saison lang Schutz bietet. Ähnlich hohe Schutzniveaus ergaben sich aus Real-World-Daten in europäischen Ländern, die bereits während der RSV-Saison 2023/2024 mit der Anwendung von Nirsevimab begonnen haben. Mit einem überzeugenden Sicherheitsprofil und einer nachgewiesenen Wirksamkeit ist Nirsevimab ein wichtiges Instrument zum Schutz vor RSV-bedingten Komplikationen in gefährdeten Bevölkerungsgruppen. • Nebenwirkungen: Nirsevimab ist im Allgemeinen gut verträglich. Leichte Nebenwirkungen wie Hautausschlag, Fieber und Reaktionen an der Injektionsstelle treten in <1% der Fälle auf, während seltene, jedoch schwerwiegende allergische Reaktionen äusserst ungewöhnlich sind. • Kosten: Die Kosten für die Immunisierung von Neugeborenen mit Nirsevimab werden in der Schweiz sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich von der Grundversicherung übernommen. Evidenzlevel* Datum des Expertenbriefs: 5. September 2025 Referenzen bei den Autorinnen und Autoren. Deklaration von Interessenkonflikten: DS: Advisory Board Sanofi (Honorar zugunsten des Forschungsfonds der Abteilung). * Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasi-experimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute Übersetzt aus dem Englischen (Quelle: RCOG Guidelines Nr. 44, 2006) Empfehlungsgrad Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und A Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrollierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib). Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische B Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III). C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen Er- fahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ gute, klinische Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind (Evidenzlevel IV). Good-Practice-Punkt ✔ Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline herausgibt. 30 gynäkologie 4 | 2025