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SGAIM/KHM
Chronische Schmerzen
Nicht nur Symptom, sondern auch Krankheit
Nach der neuen ICD-11 müssen chronische Schmerzen nicht mehr zwingend eine Läsion zur Ursache haben. Welche Therapiemöglichkeiten bei primären chronischen Schmerzen als Erkrankung bestehen, erläuterte PD Dr. Marc Suter, Chefarzt, Pain Center, Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV), Lausanne, am Frühjahrskongress des Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) in Basel.
Bei sekundären chronischen Schmerzen kann eine Läsion zugeordnet werden, wie beispielsweise krebsbedingte, neuropathische, postoperative oder post-
traumatische, viszerale, muskuloskelettale oder sekundäre
Kopfschmerzen. Bei primären chronischen Schmerzen kann
dagegen nicht immer eine Ursache gefunden wer-
den, eine Verletzung ist für das Entstehen von
chronischen Schmerzen nicht unbedingt
notwendig. Eine starke Nervenreizung
kann dafür ausreichend sein, wie der
Schmerzexperte PD Dr. Suter berichtete.
Die neue internationale Klassifikation
der Erkrankungen ICD-11 hat diesem
Umstand Rechnung getragen und den
chronischen primären Schmerz neu als
Marc Suter
(Foto: zVg)
eigenständige Krankheit eingeführt. Gemäss den revidierten Empfehlun-
gen der Neuropathic Pain Special
Interest Group können neuropathische
Schmerzen mit trizyklischen Antidepressiva (Number needed
to treat [NNT] = 4,6; Number needed to harm [NNH] = 17,1),
Gabapentinoiden (NNT = 8,9; NNH = 26,2), Serotonin-Noradre-
nalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI) (NNT = 7,4; NNH =
13,9) und Opioiden (NNT = 5,9; NNH = 15,4) behandelt wer-
den (1). Für lokalisierte Schmerzen sind z.B. Botulinumtoxin
(NNT = 2,7; NNH = 216,3), Capsaicin 8% Patch (NNT = 13,2;
NNH = 1129,3) und die repetitive transkranielle Magnet-
stimulation (rTMS) (NNT = 4,2; NNH = 651,6) eine Option.
Von der Verwendung von Cannabinoiden, Valproat, Leveti-
racetam und Mexiletin in dieser Indikation wird in den Guide-
lines dagegen abgeraten.
KURZ UND BÜNDIG
• Primäre chronische Schmerzen sind als Erkrankung anerkannt.
• Gabapentinoide nicht mit Opioiden kombinieren. • Für Cannabinoide gibt es kontroverse Evidenz. • Die positive Formulierung eines Befunds führt zu besse-
ren Resultaten.
Als First-Line-Therapie empfiehlt die Guideline selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), Gabapentinoide und trizyklische Antidepressiva, als Zweitlinientherapie Lidocain-Pflaster 5% und in dritter Linie Botulinumtoxin-A, Magnetstimulation (rTMS) und Opioide (1). Interventionelle Schmerztherapie wie Nervenblockade, neuraxiale Analgesie oder chirurgische Eingriffe können neu jederzeit angewendet werden, wenn es die Situation erfordert, ohne erst die WHO-Stufentherapie durchlaufen zu haben (1).
Opioide und ihre Tücken Die Verwendung von Opioiden hat in den vergangenen 20 Jahren nicht nur in den USA zugenommen, sondern auch in Europa und der Schweiz. In den USA gab es mehrere Suchtepidemiewellen: Die erste Welle startete 1990 mit verschriebenen kurzwirksamen Opioiden wie Oxycodon, die zweite Welle 2010 mit Heroin, nachdem die Verschreibung von Oxycodon reduziert wurde, und die dritte Welle 2014 mit Fentanyl, allerdings nicht mit verordnetem Fentanyl, sondern aus der Herstellung in Drogenküchen stammend (2).
Bei der Opioidverschreibung sei jedoch die richtige Anwendung wichtig, um eine Suchtbildung zu vermeiden, so der Schmerzexperte. Opioide sollten auch nur sorgfältig mit Gabapentinoiden zusammen verordnet werden, da beide Substanzklassen zentralwirksam sind und bei einer Kombination zentraldämpfende Effekte wie Somnolenz, Sedierung und Atemdepression bis hin zu respiratorischer Insuffizienz, Koma und Tod beobachtet wurden (2,3). Gabapentinoiden wird bei gleichzeitiger Opioidverwendung ein deutlicher Anstieg der Todesrate zugeschrieben, wie eine schottische Untersuchung fand. Allerdings besassen viele der Betroffenen kein Rezept (4).
Die Anwendung von Cannabinoiden bei Schmerzen wird kontrovers diskutiert, wie PD Dr. Suter anmerkte. Bei Patienten mit Fibromyalgie scheint Cannabis die Lebensqualität zu verbessern, wie eine kleine Studie ohne Kontrollgruppe andeutete (5), andere plazebokontrollierte Arbeiten kommen zum Schluss, dass Cannabinoide zwar chronische Schmerzen lindern können, doch die Wirkstärke die Nachteile dieser Substanz nicht überwögen (6).
Eine andere Substanzklasse in der Bekämpfung von mittelstarken bis starken Schmerzen sind Natriumkanalblocker. Suzetrigin, der erste Vertreter, der selektiv die spannungsabhän-
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gigen NaV1.8-Natriumkanäle blockiert, die für die Signalleitung entlang den Schmerzbahn in den nozizeptiven Nerven mitverantwortlich sind. Die Substanz besitzt kein Abhängigkeits- bzw. Missbrauchspotenzial, kann aber mögliche Interaktionen mit CYP3A4-Hemmern und Kontrazeptiva induzieren. In den USA wurde Suzetrigin in diesem Jahr zugelassen. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören Juckreiz, Hautausschlag und Muskelkrämpfe. In zwei Phase-III-Studien erhielten die Patienten mit Abdominoplastik bzw. Bunionektomie nach dem Eingriff entweder Suzetrigin 100 mg, dann 50 mg alle 12 Stunden oder Hydrocodon/Paracetamol 5/325 mg alle 6 Stunden oder Plazebo für 48 Stunden. Suzetrigin linderte den Schmerz auf der SPID48-Skala (sum of the pain intensity difference) zwischen dem Zeitpunkt 0 bis 48 Stunden signifikant stärker als Plazebo, jedoch nicht stärker als Hydrocodon/ Paracetamol (7). Vermutlich brauche es mehr als nur ein Schmerzmittel, wenn Suzetrigin Teil der Analgesie sei, kommentierten Editorialisten in «Anesthesiology» die Studienresultate (8).
Befund positiv formulieren Aus Tierversuchen ist bekannt, dass ein Geschlechterunterschied hinsichtlich der Schmerzwahrnehmung existiert. Alle Patienten gleich zu behandeln, sei daher vermutlich nicht zielführend, so PD Dr. Suter. Auch die Kommunikation sei in der Schmerztherapie sehr wichtig. Was und wie ein Arzt etwas sage, habe grosses Gewicht: «Ihr Rücken ist kaputt» hat eine nachhaltige Nocebo-Wirkung, wohingegen «Ihr Rücken ist stark, aber sensibel» Raum offenlässt, dass man etwas tun kann. «Die Worte, die ein Arzt benützt, werden zum Gedanken der Patienten», fügte der Schmerzexperte an. Auch die Mitteilung eines MRI-Befunds wie Hernie, Prolaps, Riss klinge sehr dramatisch und könne sich in den Gedanken der Patienten festsetzen. Deshalb sei es wichtig, als Arzt die Worte mit Bedacht zu wählen. Dass sich Empathie lohnt, insbesondere bei chronischen Schmerzen, zeigte eine Studie mit Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Die Kohortenstudie mit 1470 erwachsenen, durchschnittlich 53-jährigen Patienten, davon 1093 Frauen, untersuchte den Effekt einer sehr empathischen ärztlichen Behandlung in Bezug auf Schmerzen, funktionelles Resultat und Lebensqualität nach 12 Monaten im Vergleich zu einer nur leicht empathischen Behandlungsweise. Es zeigte sich, dass die Gruppe mit der empathischeren Behandlung zu Studienende eine signifikant stärkere Reduktion der Schmerzintensität und der Funktionseinbusse sowie eine signifikant bessere Lebensqualität erreichte. Die grössere ärztliche Empathie korrelierte zudem mit besseren Ergebnissen als nicht pharmakologische Therapien, Opioidtherapien und chirurgische Eingriffe an der Lendenwirbelsäule (9).
sieren. Als Schwerpunkt einer Behandlung empfiehlt sich somit nicht nur die Ausrichtung auf Medikation, Injektionen und Chirurgie, sondern auf Edukation, Bewegung und Wiedereingliederung. Der Patient soll kein passiver Therapieempfänger mehr, sondern ein aktiver Manager seiner Selbst sein. Entsprechend gelte als Therapieerfolg nicht der Rückgang auf der Schmerzskala, sondern die verbesserte soziale Teilhabe und die Autonomie im Lebensalltag, so der Schmerzexperte.
Was tun, wenn die Massnahmen nichts nützen? Wenn Schmerztherapien nicht die gewünschte Linderung bringen, könne eine Überweisung in ein Schmerzzentrum sinnvoll sein, erklärte der Schmerzexperte. Dort existierten zwar auch keine Wundermittel, doch stünden mehr unterstützende Massnahmen wie z.B. psychologische bzw. psychiatrische Betreuung zur Verfügung als im niedergelassenen Setting.
Valérie Herzog
Quelle: «Pain: State of the Art». Frühjahrskongress des Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM), 21.–23. Mai 2025, Basel
Referenzen: 1. Soliman N et al.: Pharmacotherapy and non-invasive neuromodulation
for neuropathic pain: a systematic review and meta-analysis. Lancet Neurol. 2025;24(5):413-428. doi:10.1016/S1474-4422(25)00068-7 2. Gomes T et al.: Gabapentin, opioids, and the risk of opioid-related death: A population-based nested case-control study. PLoS Med. 2017 Oct 3;14(10):e1002396. doi: 10.1371/journal.pmed.1002396 3. Gomes T et al.: Pregabalin and the Risk for Opioid-Related Death: A Nested Case-Control Study. Ann Intern Med. 2018;169(10):732-734. doi:10.7326/M18-1136 4. Torrance N et al.: Trends in gabapentinoid prescribing, co-prescribing of opioids and benzodiazepines, and associated deaths in Scotland. Br J Anaesth. 2020;125(2):159-167. doi:10.1016/j.bja.2020.05.017 5. Abd-Elsayed A et al.: Cannabis for treating fibromyalgia. Pain Pract. 2023;23(5):566-567. doi: 10.1111/papr.13211 6. Barakji J et al.: Cannabinoids versus placebo for pain: A systematic review with meta-analysis and Trial Sequential Analysis. PLoS One. 2023 Jan 30;18(1):e0267420. doi: 10.1371/journal.pone.0267420 7. Bertoch T et al.: Suzetrigine, a Nonopioid Na V 1.8 Inhibitor for Treatment of Moderate-to-severe Acute Pain: Two Phase 3 Randomized Clinical Trials. Anesthesiology. 2025;142(6):1085-1099. doi:10.1097/ ALN.0000000000005460 8. Rathmell JP et al.: Suzetrigine: First in a New Class of Nonopioid Analgesics for Acute Pain. Anesthesiology. 2025;142(6):989-991. doi:10.1097/ALN.0000000000005465 9. Licciardone JC et al.: Physician Empathy and Chronic Pain Outcomes. JAMA Netw Open. 2024;7(4):e246026. Published 2024 Apr 1. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.6026
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