Transkript
BERICHT
Onkologische Notfälle
Warnsignale erkennen und handeln
Onkologische Notfälle können sehr unterschiedliche Organsysteme betreffen. In der Hausarztpraxis ist es wichtig, die jeweiligen Warnsignale zu erkennen, mit den behandelnden Onkologen rasch Rücksprache zu nehmen und bei Bedarf zu überweisen. Die für die Hausarztpraxis wichtigsten onkologischen Notfälle besprach Dr. Axel Mischo, Chefarzt Onkologie, Spital Uster, am 4. Ustermer Symposium.
Febrile Neutropenie: Einer der häufigsten onkologischen Notfälle ist die febrile Neutropenie, bedingt durch eine onkologische Therapie z.B. mit Anthrazyklinen, Taxanen, Topoisomerasehemmern, Carboplatin, Gemcitabin, Alkylanzien und anderen Wirkstoffen, die eine Verminderung der Leukozyten hervorrufen. Mechanismus kann eine gestörte Bildung und/oder ein erhöhter Verbrauch sein. Der Abfall der absoluten Neutrophilenzahl (ANC) auf < 1000/µl erhöht das Risiko für Infektionen, bei denen sich dann oft trotz Suche im Urin oder im Thoraxröntgenbild kein Fokus finden lässt. Dies liegt unter anderem daran, dass rund 80% dieser Infekte durch endogene Erreger aus dem körpereigenen Milieu hervorgerufen werden. Als Definition gilt Fieber ≥ 38,3 °C einmalig oder ≥ 38,0 °C über mehr als eine Stunde. Kritisch wird es bei ANC < 500/µl. Wichtig ist, bei älteren Patienten oder Steroidtherapien auch an Infektionen ohne Fieber zu denken. Über die Gefahr durch eine febrile Neutropenie müssen auch die Patienten mit der Aufforderung, sich schnellstmöglich, im besten Fall innert einer Stunde, auf dem Notfall zu melden, gut aufgeklärt werden. Warnsignale (Red Flags) sind Hypotonie, gesteigerte Atemfrequenz, schlechte Sauerstoffsättigung, Schüttelfrost, septisches Bild. Eine präzisere Einschätzung der Situation erlauben Risikotools, beispielsweise der MASCC(Multinational Association for Supportive Care in Cancer)-Score. Wichtig ist auch die Kenntnis der lokalen Resistenzlage bei den Erregern. Als Diagnostik bei febriler Neutropenie sollten neben grossem Labor noch vor einer Antibiotikabehandlung zweimal Blutkulturen entnommen werden. Weitere sinnvolle Untersuchungen sind Urinstatus/Urinkultur, gegebenenfalls ein Thoraxröntgen. Der Suche nach einem Fokus gelten Überprüfung von Katheter, Zugängen/Port, Haut, Magendarm- KURZ UND BÜNDIG • Onkologische Notfälle sind oft eskalierende Krankheitsverläufe. Gefragt sind in diesen Situationen eine interdisziplinäre Diagnostik und Therapie, die am sichersten im Spital und im Team gewährleistet werden können. • In der Praxis ergibt sich eine hausärztliche Schlüsselrolle: Red Flags erkennen, rasch Rücksprache mit der Onkologie nehmen und bei Bedarf zuweisen. trakt und Lunge. Als Erstmassnahmen erfolgen intravenöse Volumensubstitution und die Verabreichung eines geeigneten Antibiotikums binnen 60 Minuten (Cefepim/PiperacillinTazobactam/Meropenem, je nach Protokoll). Bei günstiger Risikokonstellation kann eine febrile Neutropenie ambulant behandelt werden. Rückenmarkkompression: Knochenmetastasen, Epiduralmetastasen oder spinale Metastasen können eine venöse Stauung mit Ödem verursachen, die zu einer ischämischen Schädigung des Rückenmarks führen können. Dies kommt bei 1–5% aller Tumorpatienten vor und ist prognostisch ungünstig (medianes Überleben von 2–6 Monaten). Red Flags sind progredienter Rückenschmerz (therapierefraktär, bewegungsabhängig, nachts, Valsalva), auslösbar, teils radikulärer Schmerzcharakter, ferner motorische Schwäche, sensible Defizite, Blasen-/Mastdarmstörung, Hyperreflexie, Spasmus, Paraplegie. Diagnostisch ist eine Bildgebung (Standard: MRT, sonst CT) der gesamten Wirbelsäule mit Kontrastmittel dringend. Die Brustwirbelsäule ist zu 60–70% betroffen, die Lendenwirbelsäule zu 20–30%, die Halswirbelsäule zu 10%. Ursachen für Knochenmetastasen sind vor allem Mamma- (50–80%), Prostata- (50–80%) und Lungenkarzinome (30–50%), ferner Nierenzellkarzinome (20–50%), Urothelkarzinome (10–40%), seltener Rektumkarzinome (8–15%) sowie Non-HodgkinLymphome und multiple Myelome (5–10%). Als Erstmassnahme gilt die Verabreichung von Dexamethason (z.B. 16 mg/Tag) mit Bettruhe/Immobilisation und schneller Rücksprache mit Neurochirurgie, Radioonkologie, Onkologie, Neurologie. Im Weiteren muss eine multimodale Therapie erfolgen mit Radiotherapie und/oder chirurgischer Dekompression in Abhängigkeit von Stabilität, Prognose und Histologie. Weitere Optionen sind spezifische Systemtherapien und Antiresorptiva. Hirnmetastasen: Die Symptome sind abhängig von Lokalisation, Grösse und Wachstumsgeschwindigkeit der verursachenden Hirnmetastasen und bestehen in Kopfschmerz, Übelkeit, Krampfanfällen, neurologischen Defiziten, Seh-, Hör-, Sprechstörungen, Merkstörungen, Müdigkeit bis Somnolenz, Wesensveränderungen bei Frontalhirnbefall, Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen bei Kleinhirnbefall. T eil- ars medici 19 | 2025 673 BERICHT weise bleiben Hirnmetastasen aber auch symptomlos. Ursachen für Hirnmetastasen sind Bronchial- (20%) und Mammakarzinome (5%), Melanom (7%), Nierenzell- (10%) und selten Kolorektalkarzinom (1%). Der Hirndruck verursacht Hypertonie und Bradykardie. Zusammen mit einem unregelmässigen Atemrhythmus sind dies alarmierende klinische Zeichen. Auch bei Hirnmetastasen ist eine Bildgebung dringend, bevorzugt mittels Kontrastmittel-MRT, wenn nicht verfügbar, dann CT. Als Erstmassnahmen erfolgen die Verabreichung von Dexamethason (16 mg/Tag), allenfalls bei starkem Ödem Mannitol, ferner Intubation und intensivmedizinische Betreuung. In Rücksprache mit Spezialisten muss über das weitere Vorgehen individuell entschieden werden. Obere Einflussstauung: Intrathorakale Malignome (Bronchial-, Mammakarzinom, Testis, Thymom, Lymphom; selten: Thrombose, substernale Struma) können eine Abflussbehinderung der Vena cava superior verursachen. Symptome dieser oberen Einflussstauung sind Gesichts-/Halsödem, Dyspnoe, Stridor, sichtbare Kollateralen, hervortretende Thorax-/Halsvenen. Die Drucksteigerung kann zu Hirnödem oder Larynxödem führen. Die Diagnostik kann mittels CT die genaue Pathologie darstellen, zum Beispiel die Ausdehnung eines Thrombus oder Tumors. Ergänzend kommen Duplex-Sonografie sowie eine Biopsie zur Sicherung der Histologie vor einer Definitivtherapie zum Einsatz. Zur Erfassung des Schweregrads muss eine Atemwegsgefährdung (Stridor, Zyanose) beurteilt werden. Akut helfen Lagerung mit aufrechtem Oberkörper, Sauerstoffgabe, allenfalls Steroide (selektiv bei Lymphomverdacht). Eine definitive Therapie ist mit Einlage eines endovaskulären Stents zur raschen Symptomkontrolle möglich. Eine tumorgerichtete Therapie ist abhängig von der Histologie und sollte interdisziplinär (z.B. in einem «Adhoc»-Tumorboard) entschieden werden. Neben der oberen kommt auch selten eine untere Einflussstauung vor, etwa wenn die Vena cava inferior durch eine abdominelle Tumormasse komprimiert wird, mit entsprechender Symp tomatik. Bei Chemotherapien mit hohem Tumorlyserisiko erfolgt ein Monitoring 4- bis 6-stündlich. Zur Prophylaxe trägt gute Hydrierung bei, ferner Allopurinol. Wichtig ist auch die Vermeidung einer zusätzlichen Nierenbelastung durch nicht steroidale Antirheumatika oder Kontrastmittel. Therapeutisch erfolgen eine Elektrolytkorrektur und Urinalkalisierung, bei refraktärer akuter Niereninsuffizienz/Hyperkaliämie die Dialyse. Dem Harnsäureanstieg kann mit Rasburicase sehr erfolgreich begegnet werden. Hyperkalzämie: Im onkologischen Zusammenhang kommt es vor allem durch Osteolysen als Folge von Knochenmetastasen oder einem multiplen Myelom) zur Hyperkalzämie. Sie betrifft ca. 10–20% der Patienten mit Knochenmetastasen. Die Symptome können vielfältig sein: Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, Ileus, Polyurie/Dehydratation, Delir, QT-Verkürzung, Bradykardie, Gewichtsverlust, Fatigue, Hypotonie. Auch eine zentrale Verlangsamung ist ein mögliches Zeichen. In der Behandlung werden intravenöse Bisphosphonate oder Denosumab eingesetzt, bei durch Vitamin D vermittelter Hyperkalzä mie Steroide. Sofern dies nicht ausreicht, bietet Calcitonin eine zusätzliche Option und bei schlechter Nierenfunktion die Dialyse. Hyperviskosität: Bei hämatologischen Malignomen (Leuk ämien) kann eine Hyperviskosität zellulär entstehen (Hyperleukozytose, Leukostase), bei Morbus Waldenström oder multiplem Myelom auch durch Paraproteine in hoher Konzentration. Symptome der gestörten Fliesseigenschaften des Bluts sind Dyspnoe, Kopfschmerz, Schwindel, Verwirrung, Sehstörungen, fokale neurologische Ausfälle oder Ischämien verschiedenster Organe. In der diagnostischen Aufarbeitung hat die rasche hämatologische Typisierung mittels Durchflusszytometrie und Histologie Priorität. Die Eiweisselektrophorese erlaubt den Nachweis von Paraproteinen. Erstmassnahmen sind Sauerstoff- und Flüssigkeitszufuhr. Durch Hydroxyurea lässt sich eine rasche Zytoreduktion erreichen. Weitere Behandlungsmöglichkeiten an entsprechenden Zen tren sind Leukapherese und Plasmapherese. Tumorlysesyndrom: Der rascher Zellzerfall im Rahmen einer Chemotherapie kann zu einem Anstieg von Kalium, Phosphat und Harnsäure sowie zum Abfall von Kalzium führen. Folgen sind Arrhythmien, akute Niereninsuffizienz, Krampfanfälle, Muskelkrämpfe, Übelkeit, Erbrechen, bis hin zu Lethargie und Verwirrung. Dieses Tumorlysesyndrom hat eine beachtliche Letalität von 20–80%. Ein hohes Risiko für diese Notfallsituation besteht bei aggressiven Lymphomen und Leukämien, bei hoher Tumorlast sowie bei chronischer Niereninsuffizienz und kleinzelligen Bronchialkarzinomen, hingegen seltener bei nichtkleinzelligen Bronchialkarzinomen oder dem multiplen Myelom. Diagnostisch müssen engmaschige Laborkontrollen von Kalium, Phosphat, Kalzium, Harnsäure, Kreatinin, Phosphat und Laktatdehydrogenase erfolgen, ergänzt durch eine Urinbilanz, allenfalls erweitert durch eine Klassifikation nach Cairo-Bishop-Kriterien (laborchemisch/klinisch) und ein EKG. Extravasation: Durch die onkologische Therapie kann es bei intravenöser Verabreichung via Kanüle oder Port zum Austritt zytotoxischer Substanzen aus den Gefässen in das umliegende Gewebe – einer Vesikante-Extravasation – kommen. Dann besteht ein von den spezifischen Eigenschaften des Medikaments abhängiges Risiko für Gewebenekrosen. Einerseits kann es sich um mittels Steroidsalbe beherrschbare lokale Schmerzen und Schwellungen mit Hautrötung handeln. Andererseits können Extravasate schwere Entzündungen und Nekrosen hervorrufen, die ein chirurgisches Eingreifen mit Exzision der Nekrosen erfordern. Darüber hinaus sind in onkologischen Abteilungen im Spital spezifische Antidota verfügbar. Halid Bas Quelle: «Jetzt nicht zurückkrebsen! – Onkologische Notfälle», 4. Ustermer Symposium der Medizinischen Klinik, 4. September 2025, Uster 674 ars medici 19 | 2025