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BERICHT
Reisemedizinische Beratung
Zwischen Prävention, Evidenz und individueller Risikoabwägung
Reisen sind ein Ausdruck von Freiheit, Neugierde und Weltoffenheit – aber sie bergen auch medizinische Herausforderungen, die nicht zu unterschätzen sind. PD Dr. Esther Künzli, Swiss TPH, Basel, zeigte anhand einer Kasuistik, dass die reisemedizinische Sprechstunde weit über eine einfache Impfberatung hinausgeht. Die auf Infektions- und Tropenmedizin spezialisierte Ärztin machte damit deutlich, warum fundierte Beratung ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Reisevorbereitung ist.
Es existieren häufige reiseassoziierte Erkrankungen – von der vermeintlich harmlosen Reisediarrhö bis hin zu schwerwiegenden Infektionen wie Gelbfieber oder Malaria. Dabei gilt es, zwischen Häufigkeit und Gefährlichkeit zu unterscheiden: Während Durchfallerkrankungen mit Abstand am häufigsten auftreten, stellen Krankheiten wie Tollwut oder Dengue-Fieber ein deutlich höheres gesundheitliches Risiko dar. «Die meisten denken bei Reisekrankheiten zuerst an Magen-Darm-Probleme. Doch wer sich mit der Epidemiologie beschäftigt, erkennt schnell: Die gefährlichen Infektionen sind oft die, an die niemand denkt – oder nicht denken möchte», erklärte Dr. Künzli, Co-Leiterin des Zentrums für Tropen- und Reisemedizin am Swiss Tropical and Public Health Institute (Swiss TPH), Basel.
Neben Infektionen thematisierte die Referentin auch nicht infektiöse Risiken wie Verkehrsunfälle, sexuell übertragbare Erkrankungen und kardiovaskuläre Notfälle. Gerade letztere würden häufig unterschätzt, obwohl sie unter älteren Reisenden eine erhebliche Morbidität verursachen.
Der systematische Beratungsprozess «Es gibt keine pauschale Checkliste, die für alle gilt. Die Beratung muss immer individuell auf das Reiseziel und die Person zugeschnitten werden», betonte die Expertin.
Im Zentrum des Vortrags stand ein konkreter Fall, der die praktische Umsetzung der theoretischen Grundlagen veranschaulichen sollte: Eine 38-jährige, gesunde Frau plante eine vierwöchige Reise nach Peru. Schritt für Schritt zeigte Dr. Künzli, wie eine strukturierte, evidenzbasierte reise medizinische Beratung aufgebaut ist (siehe auch Kasten). Zunächst erfolgt eine Überprüfung der bestehenden Basisimmunisierung, um sicherzustellen, dass der Impfschutz gemäss dem Schweizer Impfplan vollständig ist. Darauf folgt die gezielte Indikationsprüfung für reisespezifische Impfungen, etwa gegen Hepatitis A, Typhus oder Gelbfieber, abhängig von den geplanten Reisezielen innerhalb des Landes und der Art der Aktivitäten vor Ort.
Ein weiterer zentraler Bestandteil der Beratung ist der Mückenschutz: Hier werden sowohl physikalische Massnahmen
wie lange Kleidung und Moskitonetze als auch chemische Schutzmittel wie Repellents mit DEET (Diethyltoluamid) oder Icaridin thematisiert. Daran schliesst sich die individuelle Einschätzung des Malariarisikos an, gegebenenfalls mit Empfehlung einer medikamentösen Prophylaxe. Ebenso wichtig ist die Aufklärung über das richtige Verhalten bei Fieber während oder nach der Reise – insbesondere in Hinblick auf Malaria und andere vektorübertragene Erkrankungen.
Auch die Lebensmittelhygiene ist Thema, um das Risiko einer Reisediarrhö zu minimieren. Hier werden Verhaltensregeln zur Nahrungsaufnahme und Flüssigkeitszufuhr vermittelt. Schliesslich wird auf spezifische Risiken eingegangen, die für das Reiseziel besonders relevant sind – in diesem Fall etwa Tollwut, Höhenkrankheit und Bilharziose.
Impfungen: Schutz mit differenzierter Indikation Impfungen sind das zentrale Instrument der reisemedizinischen Prävention. Für Peru empfiehlt die Referentin – neben einer auf aktuellem Stand befindlichen Grundimmunisierung nach dem Schweizer Impfplan – insbesondere Impfungen gegen Hepatitis A, Typhus (je nach Reiseart) sowie Gelbfieber, wobei letztere aufgrund der regionalen Verbreitung in bestimmten Gebieten verpflichtend ist. Ein besonderes Augenmerk legte Dr. Künzli auf die Gegenanzeigen von Lebendimpfstoffen, etwa bei Schwangerschaft oder Immunsuppression: «Gerade bei Patientinnen und Patienten mit Biologikatherapie oder einer Autoimmunerkrankung ist eine sorgfältige Risikoabwägung notwendig – und manchmal ist die beste Prävention eben der Verzicht auf die Reise.»
Mückenschutz und Malariaprophylaxe Die Referentin wies darauf hin, dass der Schutz vor vektorübertragenen Krankheiten wie Malaria, Dengue, Chikungunya oder Zika nicht allein durch Impfungen gewährleistet werden kann. Physikalische Schutzmassnahmen sind essenziell: • helle, lange Kleidung • Repellents mit DEET oder Icaridin • Permethrin-Imprägnierung der Kleidung • klimatisierte Räume oder Moskitonetze
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Zudem empfahl sie bei Aufenthalten in bestimmten Teilen des Amazonasgebiets eine Malariaprophylaxe, etwa Mefloquin oder Atovaquon/Proguanil. «Fieber nach einem Aufenthalt in einem Malariagebiet ist ein Notfall – egal ob man Prophylaxe genommen hat oder nicht. Es gilt immer: Malaria ausschliessen!», so die Referentin.
NSAR bei Dengue? Ein umstrittenes Thema Ein Detail betraf die Therapieempfehlungen bei DengueFieber: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rät von nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen ab – doch Dr. Künzli stellte dies zur Diskussion: «Die theoretischen Bedenken sind nicht ausreichend belegt. Ibuprofen weist in moderaten Dosierungen ein vergleichbares Blutungsrisiko wie Paracetamol auf (1) – und wirkt manchmal sogar besser.»
Lebensmittelhygiene und Reisediarrhö Reisediarrhö gehört zu den häufigsten Gesundheitsproblemen auf Fernreisen. Je nach Reiseziel sind bis zu 50% der Reisenden betroffen, besonders für Kinder, ältere Menschen oder chronisch Kranke kann dies belastend sein. «Reise diarrhö ist in den meisten Fällen selbstlimitierend, aber sie kann den Reiseverlauf erheblich beeinträchtigen», betonte Dr. Künzli. Die Übertragung erfolgt vor allem durch kontaminierte Lebensmittel oder Wasser.
Als wichtigste Präventionsmassnahme gelten die klassischen Hygieneregeln wie «cook it, boil it, peel it, or leave it». In der Praxis werden diese laut der Expertin jedoch nur selten konsequent eingehalten: «Nur 2–3% der Reisenden halten sich wirklich daran.» Entscheidend sei deshalb vor allem die konsequente Händehygiene. Wasser sollte nur aus original verschlossenen Flaschen konsumiert werden; auf Eiswürfel, ungeschältes Obst oder rohe Speisen sollte verzichtet werden. Bei Durchfall ist eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr entscheidend, idealerweise mit Elek trolytlösungen. Von Loperamid wird bei blutigem Stuhl, Fieber oder starken Bauchschmerzen abgeraten. In solchen Fällen sollte frühzeitig ärztliche Hilfe gesucht werden. Probiotika können eventuell einen unterstützenden Effekt haben, sollten jedoch bei Risikopatienten vorsichtig eingesetzt werden. Tollwut: Gefahr durch Tierkontakte Statistisch gesehen erleben rund 2% der Reisenden einen potenziellen Kontakt mit einem tollwutverdächtigen Tier – meist durch Affen oder Hunde. «Die präexpositionelle Tollwutimpfung ist in vielen Ländern ein Gamechanger – denn Immunglobuline sind vor Ort oft gar nicht verfügbar», erklärte Dr. Künzli. Besonders für Langzeitreisende oder Reisen in ländliche Gebiete Asiens oder Afrikas sei die Impfung dringend anzuraten.
Höhenkrankheit: langsam steigen – oder gut vorbereitet reisen Peru liegt grossenteils auf über 2500 Metern Höhe. Daher ist das Risiko einer akuten Höhenkrankheit nicht zu unter-
Aufbau einer reisemedizinischen Beratung
1. Überprüfung der Basisimmunisierung 2. Indikationsprüfung für Reiseimpfungen 3. Mückenschutz und Prophylaxe 4. Malariarisikoabschätzung 5. Verhalten bei Fieber 6. Lebensmittelhygiene und Durchfallprophylaxe 7. regionale Spezialthemen wie Tollwut, Höhenkrankheit
oder Bilharziose
schätzen. Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit und Schlafstörungen treten häufig auf. Schwerwiegendere Komplikationen wie Lungen- oder Hirnödeme erfordern sofortigen Abstieg und ärztliche Behandlung. Zur Prävention empfiehlt sich langsames Akklimatisieren: maximal 300 bis 500 Meter Höhenunterschied pro Tag, alle 1000 Meter ein Ruhetag. Acetazolamid kann ergänzend eingesetzt werden, allerdings sollte die Verträglichkeit vor Reisebeginn getestet werden. «Am Kilimanjaro erleben bis zu 80% der Touristen Sym- ptome der Höhenkrankheit – viele unterschätzen den Aufstieg dramatisch», so die Warnung der Tropenmedizinerin.
Sonderfälle: Immunsuppression und Schwangerschaft Besonders sorgfältige Beratung benötigen Patienten mit Immunsuppression oder Schwangere. Hier sind nicht nur bestimmte Impfstoffe kontraindiziert, sondern auch das Infektionsrisiko ist teils erheblich erhöht. Im Falle einer Schwangerschaft warnte Künzli vor dem Zika-Virus, das zu schwerwiegenden fetalen Schäden führen kann: «Bei Reisezielen mit aktiven Zika-Ausbrüchen muss man ehrlich sagen: Diese Reise sollte nicht stattfinden.» Die medizinische Reiseberatung kann in solchen Fällen auch zu einer Reisevermeidung führen – eine Entscheidung, die nur im Kontext individueller Lebensumstände getroffen werden kann.
Gute Beratung schützt – und beginnt mit Zuhören Reisemedizin ist komplex und umfasst weit mehr als Impfungen, sie ist Prävention im umfassenden Sinn. «Wir müssen zuhören, Risiken abwägen, beraten – nicht belehren. Wer gut vorbereitet reist, reist sicherer», resümierte Dr. Künzli. Und im Idealfall gelingt es, dass schöne Erlebnisse nicht mit gesundheitlichen Katastrophen enden.
Leonie Dolder
Quelle: «Reisemedizin – Evidenzbasierte Beratung und Prävention». TOP FIVE Interdisziplinäre Fortbildung, 8. Mai 2025, Luzern
Referenz: 1. Kellstein D, Fernandes L: Symptomatic treatment of dengue: should the
NSAID contraindication be reconsidered? Postgrad Med. 2019;131(2):109-116. doi:10.1080/00325481.2019.1561916.
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