Transkript
BERICHT
Blutzucker senken reicht nicht mehr
Praktische Aspekte der Diabeteseinstellung
Die glukozentrische Sichtweise auf eine Diabeteserkrankung ist überholt. Denn jeder Patient mit Diabetes hat auch ein kardiovaskuläres Risiko. Für die Therapie ist es deshalb wichtig, Antidiabetika mit kardiovaskulärem und renoprotektivem Zusatznutzen zu wählen, wie PD Dr. Stefan Fischli, Chefarzt Endokrinologie/ Diabetologie, Luzerner Kantonsspital, am FOMF Innere Medizin Update Refresher erklärte.
Bei jedem Diabetespatienten, ob frisch diagnostiziert oder mit langjähriger Erkrankung, sollten zur Blutzuckereinstellung jeweils grundlegende Fragen geklärt
werden, wie PD Dr. Fischli erklärte. Dazu gehört das HbA1c-
Ziel, das je nach Zustand und Alter des Patienten variieren
kann. Des Weiteren muss geklärt werden, ob der Patient Insu-
lin benötigt, ob Komorbiditäten wie eine Nephropathie oder
eine Herzinsuffizienz bestehen oder ob kardiovaskuläre Risi-
kofaktoren vorliegen. Hinsichtlich der Wahl des Antidiabeti-
kums muss neben der Blutzuckersenkung auch klar sein, ob
pharmakologische Eigenschaften zur Gewichtssenkung er-
wünscht sind und ob eine Evidenz für kardiovaskulären oder
renalen Zusatznutzen vorliegt.
Das kardiovaskuläre Risiko ist bei der Typ-2-Diabeteser-
krankung ein Kontinuum, das bereits in der prädiabetischen
Phase seinen Anfang nimmt. Daher existiert für
Patienten mit Typ-2-Diabetes kein tiefes kar-
diovaskuläres Risiko. Bei jungen Patienten
mit einer Diabetesdauer von < 10 Jahren und ohne weitere Risikofaktoren ist das Risiko gemäss den Guidelines der Euro- pean Society of Cardiology (ESC) und European Association for the Study of Diabetes (EASD) moderat. Bei einer Er- krankungsdauer ≥ 10 Jahre und weite- Stefan Fischli (Foto: zVg) ren Risikofaktoren ist es bereits hoch, und bei vorliegenden kardiovaskulären KURZ UND BÜNDIG • Blutzucker behandeln, aber nicht nur • Abschätzen des kardiovaskulären Risikos aufgrund von Diabetesdauer, Risikofaktoren, Endorganschäden • Konsequente Behandlung der Risikofaktoren (Lipidsenkung, Blutdrucksenkung) • Gezielter Einsatz von Antidiabetika mit Zusatznutzen (GLP-1-RA und SGLT2-Hemmer) auch bei einem HbA1c im Zielbereich • Gewichtsreduktion mit inkretinbasierten Therapien (GLP-1-/GIP-GLP-1-RA) Erkrankungen, Organschäden oder mehr als drei Risikofaktoren gilt es als sehr hoch (1). Diabetes als Systemerkrankung Eine Typ-2-Diabeteserkrankung «nur» als Zuckerkrankheit zu sehen, sei mit den heutigen Erkenntnissen zu kurz gegriffen, so PD Dr. Fischli. Herz und Niere sind häufig mitbetroffen und beeinflussen die Mortalität. Etwa bei einem Drittel der Patienten findet sich eine Nephropathie (2) und bei rund zwei Dritteln der Patienten eine Herzinsuffizienz (3). Deshalb empfiehlt das Konsensus-Papier der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) und der Heart Failure Working Group der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie (SGK) bei Diabetespatienten ≥ 60 Jahre ohne Anzeichen einer Herzinsuffizienz eine jährliche Messung des NT-proBNP oder BNP. Liegt der NT-proBNP-Wert ≥ 300 ng/l (BNP ≥ 90 ng/l), ist eine Herzinsuffizienz sehr wahrscheinlich, und der Patient sollte zur Abklärung zum Kardiologen überwiesen werden. Bei NT-proBNP-Werten von 125–299 ng/l (BNP ≥ 35–89 ng/l) liegt eine Herzinsuffizienz im Bereich des Möglichen, weshalb allfällige Zeichen einer Herzinsuffizienz überprüft oder bei Symptomfreiheit nach sechs Monaten eine weitere Messung erfolgen sollte. Bei NT-proBNP-Werten < 125 ng/l (BNP < 35 ng/l) sind keine weiteren Abklärungen nötig (4). Die Nierenfunktion sollte anhand von Bestimmungen der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) und Albuminurie ebenfalls jährlich überprüft werden und die Werte gemäss der Risikoklassen-Einteilung der «Kidney Disease: Improving Global Outcomes» (KDIGO) interpretiert werden. Bei Albuminwerten < 30 mg/g (< 3 mg/mmol) und eGFR-Werten zwischen 60 und ≥ 90 ml/min/1,73 m2 besteht noch kein Risiko für eine chronische Nierenerkrankung. Bei weiter steigenden Albuminwerten und sinkenden eGFR-Werten, erhöht sich dieses Risiko (5). Therapie multizentrisch ausrichten Die glukozentrische Sichtweise auf eine Diabeteserkrankung sei damit überholt. Denn die Prognose für mikro- und makrovaskuläre Ereignisse und die Mortalität könne mit einer alleinigen Blutzuckersenkung nur eingeschränkt mitbeeinflusst werden, so PD Dr. Fischli. Weil die Diabeteserkrankung eine Multiorganerkrankung sei, brauche es zur Therapie zusätzlich zu Blutdruck- 432 ars medici 13 | 2025 BERICHT und Lipidsenkung und Rauchstopp den Einsatz von Antidiabetika mit belegtem kardio- und/oder renoprotektivem Zusatznutzen wie SGLT2-Hemmer und GLP-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA). DPP-4-Hemmer und Sulfonylharnstoffe würden damit obsolet, denn sie senkten «nur» den Blutzucker, so der Referent weiter. Bei übergewichtigen Typ-2-Diabetespatienten ist es ein weiteres Ziel, das viszerale Fett zu reduzieren, das seinerseits organschädigend auf Herz, Niere, Gefässe, Leber, Muskulatur und Pankreas wirkt. Das gelingt gut mit Inkretinmimetika wie GLP-1-RA und GIP-/GLP-1-RA. Somit kann mit zwei Substanzklassen – SGLT2-Hemmer und Inkretinmimetika – in die ganze Pathogenese des metabolischen Syndroms eingegriffen werden, wie PD Dr. Fischli festhielt. Der Erfolg einer Therapie mit Inkretinmimetika hängt jedoch massgeblich von der Adhärenz des Patienten ab. Diese kann unterstützt werden, indem Patienten gut auf diese Therapie vorbereitet werden. Dazu gehören Informationen zur Wirkungsweise und den mild bis moderaten, aber transienten gastrointestinalen Nebenwirkungen sowie Empfehlungen zur Ernährungsanpassung wie z.B. kleinere Portionen, Essstopp bei Eintreten eines Sättigungsgefühls oder Vermeidung von Nahrungsaufnahme ohne Hungergefühl. Auf fettreiche und scharfe Speisen sollte möglichst verzichtet werden, ebenso auf Alkohol. Wichtig ist auch die Erklärung zur langsamen Dosissteigerung und zur Möglichkeit einer Dosissenkung oder Therapiepause bei zu starken oder persistierenden Nebenwirkungen. Die initialen Nebenwirkungen können zudem mit einer angepassten, faserreichen Kost mit viel Flüssigkeit bzw. Wasser ebenfalls abgemildert werden (6). Blutzuckereffekt von Inkretinmimetika und SGLT2-Hemmern Duale GIP-/GLP-1-RA senken nicht nur das Gewicht effizient, wie Studien mit Tirzepatid zeigen konnten, sondern auch das HbA1c (< 5,7 bei 46% der Teilnehmer [7]) und den Leberfettanteil. Letzteres sank bei Patienten mit einem Body-MassIndex von 44,8 kg/m2 von einem Gehalt von 27,3% nach einer Therapie während 52 Wochen auf 2,6% (8). Auch Semaglutid liefert Hinweise zur Verbesserung der metabolisch bedingten Steatohepatitis (MASH). Interimsresultate einer laufenden Phase-III-Studie zeigten nach 72 Wochen einen signifikant häufigeren Rückgang der MASH unter Semaglutid vs. Plazebo (62,9 vs. 34,4%). Die Leberfibrose verringerte sich ebenfalls signifikant (9). Inkretinmimetika senken den HbA1c-Wert unter Semaglutid um bis zu 1,6% (10), unter Tirzepatid um bis zu 2,07% (11). SGLT2-Hemmer beeinflussen zusätzlich das renale und das kardiale System und sind deshalb wichtig in der Therapie des Diabetes. Der nephroprotektive Effekt kommt durch die Reduktion des intraglomerulären Drucks zustande, der kardioprotektive Effekt unter anderem durch die Reduktion der Vor- und Nachlast (12). Mit dieser Substanzklasse sinkt der HbA1c-Wert um 0,61%, das Gewicht um 1,8 kg und der systolische Blutdruck um 4,45 mmHg. Mit abnehmender eGFR verringert sich aber auch die Blutzuckersenkung (13). Wahl des Antidiabetikums Patient mit Typ-2-Diabetes (+ Lifestyle + Metformin) keine Indikation für Insulin Hohes cv-Risiko, vorhandene cv-Erkrankung, Herzinsuffizienz, Nephropathie? Ja cv-Erkrankung/hohes cv-Risiko dominierend (z.B. Status nach Myokardinfarkt) Herzinsuffizienz und/oder Nephropathie dominierend Nein GLP-1-RA mit cv-Zusatznutzen • Liraglutid* • Dulaglutid* • Semaglutid oder SGLT2-Hemmer mit Zusatznutzen • Empagliflozin* • Canagliflozin* SGLT2-Hemmer • Empagliflozin • Canagliflozin • Dapagliflozin *zugelassen zur Prävention kardiovaskulärer Ereignisse bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und bereits manifester kardiovaskulärer Erkrankung Abkürzung: cv = kardiovaskulär Quelle: PD Dr. Stefan Fischli, FOMF 2024 Fokus Hypoglykämievermeidung • (DPP-4-Hemmer) • SGLT2-Hemmer • GLP-1-RA Fokus Gewichtsreduktion • GLP-1-RA • GIP-/GLP-1-RA Vorgehen Bei jedem Typ-2-Diabetespatienten sind als Basismassnahmen eine Lebensstilkorrektur und Metformin empfohlen, sofern kein Insulin nötig ist (Abbildung). Reicht Metformin zur Blutzuckersenkung nicht aus und liegen keine kardiovaskulären Risiken, kardiovaskulären Erkrankungen oder Nephropathien vor, können zur weiteren Blutzuckersenkung SGLT2Hemmer oder GLP-1-RA dazugegeben werden. Soll zusätzlich das Gewicht gesenkt werden, eignen sich dazu GLP-1-RA und GIP-/GLP-1-RA. Bei Vorliegen einer Herzinsuffizienz und/ oder einer Nephropathie sind als Zusatz SGLT2-Hemmer wie Empagliflozin, Canagliflozin und Dapagliflozin vorzuziehen. Bei Vorliegen einer kardiovaskulären Erkrankung oder einem hohen kardiovaskulären Risiko kommt ein GLP-1-RA mit kardiovaskulärem Zusatznutzen (Liraglutid, Dulaglutid, Semaglutid) oder ein SGLT2-Hemmer mit kardiovaskulärem Zusatznutzen (Empagliflozin, Canagliflozin) zur Anwendung. Bei ungenügender Blutzuckersenkung ist es möglich, bei einer GLP-1-RA-Therapie einen SGLT2-Hemmer hinzuzufügen und umgekehrt. Die Kombination der beiden Substanzklassen hat nicht nur eine bessere Wirkung auf das HbA1c, sondern auch auf das Gewicht und den Blutdruck, wie eine Metaanalyse zeigte (14). Valérie Herzog Quelle: «Diabetes-Einstellung». FOMF Innere Medizin Update Refresher, 5. Dezember 2024, Zürich Referenzen: 1. Cosentino F et al.: 2019 ESC Guidelines on diabetes, pre-diabetes, and cardiovascular diseases developed in collaboration with the EASD. Eur Heart J. 2020;41(2):255-323. doi:10.1093/eurheartj/ehz486 2. Afkarian M et al.: Kidney disease and increased mortality risk in type 2 diabetes. J Am Soc Nephrol. 2013;24(2):302-308. doi:10.1681/ ASN.2012070718 3. Faden G et al.: The increasing detection of asymptomatic left ventricular dysfunction in patients with type 2 diabetes mellitus without overt cardiac disease: data from the SHORTWAVE study. Diabetes Res Clin Pract. 2013;101(3):309-316. doi:10.1016/j.diabres.2013.07.004 4. 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