Transkript
FORUM
Die «144» statt der Hausarzt?
Hat der hausärztliche Notfalldienst ausgedient?
Offenbar verschwindet der Hausarzt als erste Anlaufstelle bei Notfällen – auch bei graviereden Verletzungen – aus dem Bewusstsein der Leute. Oder nur der Journalisten? Ein Kollege hat sich Gedanken gemacht.
JÜRG WEBER
Dies gelesen … Die «Thurgauer Zeitung» berichtete im März über «Drei Ziffern, die lebenswichtig sein können». Darüber etwa, dass bei Verdacht auf eine schwere Verletzung nicht der Hausarzt, sondern die «144» anzurufen sei.
«144» aufzubieten. Und dies selbst dann, wenn nur der Verdacht auf eine schwere Verletzung besteht, nicht etwa nur in eindeutig lebensbedrohlichen Situationen. Hier hat also wieder jemand die nichts Böses ahnende Journalistin zum Sprachrohr gemacht, um der Meinung, ein Hausarzt, oder bei dessen Abwesenheit sein stellvertretender Notfalldienstarzt, sei nicht in der Lage, anlässlich eines kurzen Telefons zu entscheiden, ob tatsächlich sofort 144 aufgeboten werden muss oder ob er zuerst einen Augenschein vor Ort oder in der Praxis nehmen muss/kann/darf.
Vor gut 20 Jahren gab es noch einen eingefleischten Landarzt in unserer Gegend, der sich sogar ein Blaulicht anschaffte, weil er damit noch schneller
lebte einem hohen Ideal nach. Nun gibt es aber, stets expandierend und selbstverständlich immer nur das Beste wollend, «die 144», und wir Haus- und Notfalldienstärzte sind selbstverständlich froh, bei schweren und lebensbedrohlichen, uns zweifellos oft heillos überfordernden Situationen rasch auf die professionelle Hilfe und in jeder Beziehung entlastende Mithilfe der «144» zählen zu können. Aber schon beim blossen Verdacht des Laien auf eine schwere Verletzung?
Aus der täglichen Praxis wissen wir, dass der Schweregrad einer gesundheitlichen Problematik, sei es nun Krankheit oder Unfall, vom Betroffenen und seiner Umgebung initial sehr oft als gravierend eingestuft wird, es sich aber nach kurzer Zeit herausstellt, dass die Situation vom Haus- oder Notfalldienstarzt bei einer Erstbeurteilung entschärft und beruhigt werden und meist sogar abschliessend behandelt werden kann. Wie oft haben wir (mindestens wir «mittelalterlichen» Hausärzte) jemanden von zu Hause oder vom Schadenplatz weg mit dem Auto in die Praxis genommen, um eine Wunde, eine Distorsion oder eine Fraktur abschliessend zu versorgen.
… das gedacht Vorbei also die Zeit, als der mündige Bürger und Patient noch selber entscheiden konnte, ob er, auch bei akuten und schwereren gesundheitlichen Problemen, den bisher üblichen Weg über den Hausarzt nehmen wollte. Es ist
Hilfe leisten konnte, wo dies unentbehrlich war und, weil es noch keine Nummer 144 gab, geschätzt wurde. Natürlich war diese technische Aufrüstung aus gesetzlichen Gründen nur von kurzer Dauer. Dass er von den Kollegen belächelt wurde, war ihm egal, er
Dass solche Einsätze mit viel Stress, Flexibilität und Engagement verbunden waren, versteht sich. Selbstverständlich sollen sie Ausnahmen bleiben. Aber es kann uns jederzeit wieder treffen, nämlich dann, wenn sich jemand nicht an den Befehl hält, nicht den Hausarzt, sondern «144» aufzubieten. Oder wenn bereits alle Ambulanzen unterwegs sind und wir dann plötzlich kompetent sein sollen, selbst in schwersten Fällen vor Ort das Richtige zu tun ...
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FORUM
Nicht auszuschliessen ist natürlich, dass – im Gegensatz zum erwähnten Kollegen mit dem Blaulicht – immer mehr Hausärzte nicht unglücklich sind, wenn sie auch bei Problemen in der Notfall-Grauzone nicht ausrücken müssen und während des Behandelns von Pfnüselpatienten, Low-back-painGeplagten oder Hypertonikern nicht telefonisch gestört werden.
Eindeutig schwer Verletzte müssten definitionsgemäss mindestens über Nacht im Spital verbleiben. Recht häufig kommt es deshalb vor, dass, wenn Patienten mit Verdacht auf schwere Verletzung direkt und untriagiert per Ambulanz abgeholt werden, diese sich später bei uns beklagen, dass sie den Grossteil der bis zu 1000 Franken für
die Ambulanz selber zahlen müssen. Natürlich zucken wir dann nicht nur mit den Schultern, sondern erklären geduldig, wie das Gesundheitswesen funktioniert.
Ich bestreite nicht, dass «die 144» ihre oft schwierige, wertvolle und unentbehrliche Aufgabe bestmöglich zu bewältigen und zu leisten bestrebt ist. Aber ich setze mich dafür ein, dass künftig auf derartige öffentliche Disqualifikation der Haus- und Notfalldienstärzte und unnötige und das Gesundheitswesen verteuernde Handlungsanweisungen verzichtet wird. Nicht zuletzt auch zur Entlastung von «144» und der Spitäler wird manchenorts, so auch bei uns, noch der Hausarztnotfalldienst in den eigenen Praxen
angeboten, verbunden mit dem Angebot, rund um die Uhr den Hausarzt oder seinem Notfalldienstvertreter anrufen zu dürfen, der versucht, am Telefon die Situation zu beurteilen, der die Weichen stellt und, falls er nicht selber ausrückt, mindestens organisatorisch behilflich ist.
Kann es sein, dass so ein Service von der Bevölkerung nicht mehr in diesem Rahmen gewünscht und geschätzt wird oder dass die Hausärzte dieses Spektrum an Service public nicht mehr wie bisher anbieten möchten? Wenn, dann sollte dies mindestens nicht im Alleingang von «144» und den Medien entschieden und publik gemacht werden.
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Dr. med. Jürg Weber, Wigoltingen
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