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PSYCHIATRIE
Psychedelika bei Traumafolgestörungen
Evidenz und Hypothesen zu einem therapeutischen Prozess («Helioskop-Effekt»)
Psychedelisch unterstützte Psychotherapie zeigt bei Traumafolgestörungen vielversprechende und teils anhaltende Wirkungen. Vermutlich wirken dabei eine erhöhte Neuroplastizität, Veränderungen in angstrelevanten Netzwerken und ein erleichterter Zugang zu autobiografischen Erinnerungen zusammen. Zur Erklärung dieser Effekte stellen wir das Prozessmodell des «Helioskop-Effekts» vor: Unter geeigneten Bedingungen – etwa durch sorgfältiges Screening, Vorbereitung, ein stimmiges Set und Setting sowie therapeutische Begleitung – können belastende Erinnerungen erneut erlebt werden, ohne zu überfluten («ermöglichte Exposition»), während zugleich Sicherheit erfahren wird («gewährter Schutz»). Dies kann die Neubewertung traumatischer Erfahrungen über Rekonsolidations- und Extinktionsprozesse fördern. Erste Untersuchungen mit dem Helioskop-Fragebogen stützen diese beiden Kernfaktoren und zeigen Vermeidung und Stress als gegenläufige Einflüsse. Herausfordernde Verläufe sind im klinischen Rahmen selten, erfordern aber eine sorgfältige Indikationsstellung und Pharmakovigilanz. Insgesamt sprechen die Befunde für eine strukturierte und verantwortliche Weiterentwicklung dieser Therapieform, um Wirksamkeit und Sicherheit in der Versorgung zu erhöhen. von Gregor Hasler1,2,3, Vincent J. Diehl1,3, Abigail E. Calder1,2
Einleitung
In den vergangenen Jahren ist das
wissenschaftliche Interesse an der
therapeutischen Nutzung psyche-
delischer Substanzen deutlich ge-
stiegen. Wirkstoffe wie Psilocybin,
Lysergsäurediethylamid (LSD), 3,
4-Methylendioxy-N-methylamph
etamin (MDMA) oder Ketamin wer-
den zunehmend im Kontext der
Gregor Hasler
(Foto: zVg)
Behandlung psychischer Störungen untersucht – insbesondere bei
traumaassoziierten Erkrankungen,
zu denen neben der Posttraumati-
schen Belastungsstörung (PTBS) auch verschiedene Formen
von Depressionen, Angst- und Zwangsstö-
rungen gehören (1).
Die therapeutische Anwendung
dieser Substanzen unterscheidet
sich wesentlich von herkömmli-
chen Pharmakotherapien: Ihre
Effekte treten schnell ein – häufig
innerhalb weniger Stunden – und
können über Wochen oder sogar
Monate anhalten, obwohl die Subs-
Vincent J. Diehl
(Foto: zVg)
tanz selbst im Körper längst nicht mehr nachweisbar ist (2).
Die Beobachtung, dass Psychedelika, speziell MDMA, die Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen fördern kann, ist bereits früh als fundamentaler Wirkfaktor dieser Therapie erkannt worden (3). Vor diesem Hintergrund haben wir das Konzept des Helioskop-Effekts entwickelt – ein theoretisches Modell, das beschreibt, wie psychedelisch unterstützte Prozesse die Bearbeitung traumatischer Erinnerungen ermöglichen, ohne dabei eine potenzielle Verschlechterung der Symptomatik auszulösen. Der Begriff orientiert sich metaphorisch an einem Instrument zur Sonnenbeobachtung, das grelles Licht filtert und es erlaubt, Gefährliches kontrolliert sichtbar zu machen. Übertragen auf die Psychotherapie bezeichnet der Helioskop-Effekt einen Zustand, in dem schmerzhafte Erinnerungen emotional zugänglich werden, ohne das Gleichgewicht des Ichs zu gefährden (4).
Ziel dieses Artikels ist es, den Stand der Forschung zu psychedelisch gestützter Therapie für Traumafolgestörungen zu skizzieren, die besondere Situation der Schweiz darzustellen und das Konzept des Helioskop-Effekts zu erläutern, seine zentralen Wirkfaktoren zu beleuchten sowie seine Relevanz für die Psychotherapie herauszuarbeiten.
1Molecular Psychiatry Lab, Faculty of Science and Medicine, University of Freiburg, Villars-sur-Glâne, Switzerland 2Freiburg Mental Health Network, Chemin du Cardinal-Journet 3, 1752 Villars-sur-Glâne, Switzerland 3Lake Lucerne Institute, Vitznau, Switzerland
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Klinischer Kontext und therapeutische
Rahmenbedingungen
In dieser Arbeit werden primär zwei Kontexte von psyche-
delischen Erfahrungen beschrieben; zum einen gehen wir
auf eine Vielzahl von im Forschungskon-
text erhobenen Daten ein, davon die
meisten in kontrolliertem klinischem
Rahmen. Zudem beruhen einige der
beschriebenen Erfahrungen mit psy-
chedelisch unterstützter Psycho-
therapie (PAP) auf experimentellen
Einzelbehandlungen, die gemäss
den aktuellen rechtlichen und kli-
nischen Vorgaben in der Schweiz
Abigail E. Calder
(Foto: zVg)
durchgeführt wurden. Diese gibt Menschen mit therapieresistenten
Störungen nach gründlich begrün-
deter Indikationsstellung, Risiko-
abschätzung und Dokumentation der Therapieresistenz, die
Möglichkeit, bereits vor ordentlicher Zulassung mit diesen
Substanzen behandelt zu werden (5). Lange, vor allem in der
Schweiz verfügbar (5), ist Einzelfallzugang zu psychedeli-
scher Therapie seit 2022 auch in Kanada und seit 2025 im
Rahmen eines Compassionate-Use-Programms in Deutsch-
land möglich. Die Bedingungen für eine Einzelfallzulassung
folgen nach strikten Regeln und werden in einem anderen
Artikel dieses Hefts beschrieben.
Forschungsstand zu psychedelisch unterstützter Psychotherapie für Traumafolgestörungen Bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren, nach der Synthese von LSD durch Albert Hofmann (1938) und der Entdeckung seiner psychoaktiven Eigenschaften (1943), wurden Psychedelika klinisch für verschiedene psychische Störungen untersucht (6). Früh lag ein Schwerpunkt auf der Behandlung von Suchterkrankungen. Eine Metaanalyse randomisierter Studien zeigte, dass eine einzelne LSD-Dosis im Rahmen etablierter Behandlungsprogramme den Alkoholmissbrauch signifikant reduzierte (7). Schon damals beschrieben Forscher, dass Patienten unter der Substanzwirkung schwierige autobiografische Erfahrungen in einem Zustand relativer affektiver Stabilität wiedererlebten, was psychotherapeutisch nutzbar gemacht werden konnte (8).
Nach Jahrzehnten mit nur sporadischer klinischer Forschung wurden in den 2000er-Jahren die ersten modernen, kontrollierten Studien zu MDMA bei PTBS initiiert. In der Schweiz führten Oehen und Kollegen 2006–2009 eine randomisierte, doppelblinde, aktiv-plazebokontrollierte Pilotstudie mit 12 Patienten mit chronischer, therapieresistenter PTBS durch. Es traten keine arzneimittelbedingten schweren unerwünschten Ereignisse auf und die PTBS-Symptome nahmen deutlich und nachhaltig ab (9). Parallel dazu wurden in den USA randomisierte Pilotstudien realisiert, die auch über positive Effekte berichteten (3).
Diese Arbeiten legten den Grundstein für eine Reihe grösserer Studien. Metaanalysen und Übersichtsarbeiten berichten
substanzielle Effekte und ein insgesamt günstiges Sicherheitsprofil von MDMA-assistierter Psychotherapie (MDMA-AP) bei PTBS, wobei bis März 2024 im Rahmen der klinischen Forschung 877 PTBS-Patienten mit MDMA behandelt wurden (2). Darüber hinaus deuten systematische Metaanalysen auf signifikante Symptomreduktionen auch bei anderen Störungsbildern wie Angststörungen, Depressionen, Substanzgebrauchsstörungen sowie Essstörungen hin (2).
Neurobiologische Grundlagen für die Wirkung von psychedelisch unterstützter Psychotherapie MDMA sowie in einem etwas geringeren Ausmass LSD und Psilocybin senken die Reaktivität der Amygdala bei der emotionalen Verarbeitung. Dies geht mit einer verminderten Angstreaktivität, erhöhter Entspannung sowie emotionaler Offenheit einher (10). Erste klinische und experimentelle Befunde deuten darauf hin, dass therapeutische Verbesserungen mit Veränderungen der amygdalo-limbischen Konnektivität einhergehen, u.a. erhöhter Amygdala-Hippocampus-Konnektivität nach MDMA-assistierter Therapie sowie veränderten amygdala-präfrontalen Kopplungen nach Psilocybin (11). Neuroimaging bei gesunden Probanden zeigen unter MDMA verringerte Aktivität in zentralen Strukturen der Furchtnetzwerke, insbesondere der Amygdala (12). Gleichzeitig nimmt die funktionelle Konnektivität zwischen Amygdala und Hippocampus zu, ein Effekt, der als verbesserte «Kontextualisierung» emotionaler Inhalte interpretiert wurde, da bei PTBS typischerweise eine gestörte (oftmals verringerte) Kopplung in amygdalo-hippocampalen und amygdalo-präfrontalen Kreisen vorliegt (11). Dieser Mechanismus ist unter anderem verantwortlich dafür, dass nach traumatischen Erfahrungen, alltägliche Kontexte als bedrohlich identifiziert werden und unvermittelt Angst entsteht.
Der Hippocampus spielt dabei eine doppelte Rolle: Einerseits bleibt die Fähigkeit zur episodischen Verarbeitung erhalten, andererseits wird der Zugriff auf autobiografisches Material flexibilisiert. Unter MDMA werden positive autobiografische Erinnerungen lebhafter und angenehmer erlebt, negative weniger aversiv — ein Umstand, der in der Therapie gezielt für eine korrigierende Neubewertung genutzt werden kann (6). Diese korrigierende Verarbeitung lässt sich mechanistisch als Rekonsolidierung, sowie erleichtertem Extinktionslernen erklären, die durch präfrontale top-downKontrolle vermittelt wird.
Entsprechend konnte im Tiermodell gezeigt werden, dass Psychedelika wie Psilocybin, LSD und DMT, aber auch Ketamin und MDMA die Neuroplastizität erhöhen, was die Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen zusätzlich fördert (13). Beim Menschen liegen bislang vor allem indirekte Hinweise auf plastizitätsbezogene Prozesse vor. In einer Studie bei gesunden Probanden konnten wir zeigen, dass LSD die motorische Lernfähigkeit steigert und die Amplitude in Reaktion auf auditorische Reize steigern kann (Calder AE, Hasler G et al., in preparation).
Gleichzeitig kommt es zu einer veränderten Konnektivität im sogenannten Default Mode Network (DMN), wobei
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Foto: Gregor Hasler
insbesondere der mediale präfrontale Kortex (PFC) als Zentrum der Selbstreferenz abgeschwächt und funktional reorganisiert wird (14). Dieser Effekt ist bei den serotonergen Psychedelika Psilocybin, LSD und DMT besonders stark ausgeprägt (14). Dies kann subjektiv als Auflösung starrer Ich-Grenzen, als Selbst-Transzendenz und Selbst-Wahrnehmung von aussen aus der Dritt-Personen-Perspektive sowie als Öffnung zu einem erweiterten Bewusstseinsraum erlebt werden. Dadurch können zusätzlich festgefahrene Gedankenmuster durchbrochen werden und neue Perspektiven auf innere Erfahrungen entstehen (6). In einer klinischen Studie konnten wir zusätzlich die grosse Bedeutung von Entspannung in der Psychotherapie mit Psychedelika nachweisen (15).
Dies untermauert das Modell, dass Psychedelika durch Angstabbau und Gedächtnisplastizität eine «Fenster der Gelegenheit» schafft, in den traumatischen Erinnerungen unter geringerem emotionalem Stress erinnert, sicher verarbeitet und neu abgespeichert werden können. Konsistent damit erleichterte MDMA in einer Studie das «Verlernen» von Angstreaktionen in vorher, als bedrohlich assoziierten Situationen (16).
Abgesehen von pharmakologischen Unterschieden scheinen MDMA, Psilocybin, LSD, Ketamin und DMT letztlich auf ähnliche neuronale Mechanismen zu wirken: gesteigerte Neuroplastizität, Unterbrechung pathologischer Netzwerk-Dynamiken und Förderung eines psychisch flexiblen Zustands. In diesem öffnen sich Patienten vermehrt für neue Perspektiven und korrigierende Erfahrungen in der Psychotherapie (6).
Die Wirkung von Psychedelika auf das autobiografische Gedächtnis In verschiedenen qualitativen Studien sowie in der klinischen Praxis berichten Patienten, dass sie in der veränderten Bewusstseinslage mit stark belastenden Erinnerungen konfrontiert wurden, diese jedoch erstmals aushalten, benennen oder bearbeiten konnten. Typisch ist die Erfahrung, emotional «durch» die Erinnerung hindurchsehen zu können, ohne von ihr überwältigt oder (re-)traumatisiert zu werden (17). Eine Studie bei Ayahuasca-Konsumenten hat diesen Effekt quantifiziert. Sie zeigte, dass Menschen, die während ihrer psychedelischen Erfahrung ein traumatisches Lebensereignis wiedererlebt haben, eine signifikant stärkere Reduktion in Neurotizismus aufwiesen, als jene ohne solche Konfrontation (18). Berichtet wurden u.a. Reinszenierungen von sexueller Gewalt, Kriegs- und Veteranenerfahrungen, Verlustereignissen und anderen Traumata; die Autoren diskutieren kognitive Neubewertung und psychologische Flexibilität als vermittelnde Prozesse (18). Diese Ergebnisse legen nahe, dass psychedelische Erfahrungen die Konfrontation, Einordnung und Integration schwieriger autobiografischer Inhalte begünstigen und dies mit verbesserter Psychopathologie assoziiert ist.
Abbildung: Blick auf die Sonne mit und ohne Helioskop. Der Polarisationsfilter ermöglicht es, trotz der intensiven Hitze und Lichtstrahlung der Sonne, ihre Strukturen sichtbar zu machen und zu untersuchen. Metaphorisch steht dies für den therapeutischen Prozess: Psychedelische Substanzen können den Zugang zu schmerzhaften oder «brennenden» Themen erleichtern, ohne zu überfluten.
lierten klinischen Studien schwerwiegende unerwünschte Ereignisse selten sind und vor allem in vulnerablen klinischen Populationen auftreten (19). Nichtsdestotrotz berichten einige Menschen von langanhaltenden psychischen Schwierigkeiten, die sie ihren Erlebnissen während eines belastenden «Trips» zuschreiben, etwa Angst, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Derealisation/Depersonalisation oder intrusive Erinnerungen, teils über Wochen bis Jahre (20). Solche Berichte treten häufiger in naturalistischen, weniger kontrollierten Kontexten auf als in Studien mit sorgfältigem Screening, Vorbereitung und Begleitung.
Vor diesem Hintergrund ist bei uns die Frage entstanden: «Kann man durch psychedelische Erfahrungen nicht nur Trauma behandeln, sondern im schlechtesten Fall auch erzeugen?», die wir in einer wissenschaftlichen Abhandlung bearbeitet haben (21). Darin unterscheiden wir drei Formen potenziell traumatischer psychedelischer Erfahrungen: 1. Traumatisierung, primär durch die Wirkung der psyche-
delischen Substanz, 2. Traumatisierung durch das Wiederauftreten früherer
traumatischer Erfahrungen, 3. Traumatisierung, die in erster Linie durch äussere Ereig-
nisse verursacht wird.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass traumatische psychedelische Erfahrungen selten, aber real sind. Sie entstehen vor allem bei hohen Dosen, unzureichender Vorbereitung, unsicheren Settings oder ungünstigen Interaktionen und können Erlebensaspekte wie extreme Angst, Todes- oder «Verrückt-werde»-Überzeugungen umfassen (22). Klinische Daten deuten zugleich darauf hin, dass solches Risiko durch Screening, Set-und-Setting-Optimierung und enge therapeutische Begleitung deutlich reduziert werden kann (21).
Traumatische psychedelische Erfahrungen Die Forschung weist überwiegend auf positive, therapieunterstützende Effekte psychedelischer Substanzen hin; zugleich zeigen systematische Übersichten, dass in kontrol-
Das Konzept des Helioskop-Effekts Unter Berücksichtigung der Forschung und der klinischen Erfahrung mit diesen Behandlungen wurde das Konzept des Helioskop-Effekts entwickelt (4,6). Der Helioskop-Effekt
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Weiterführende Literatur:
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beschreibt eine veränderte Form der emotionalen Verarbeitung, die im Zustand psychedelischer Unterstützung auftreten kann. Im Zentrum steht die Erfahrung, dass unter dem Einfluss entsprechender Substanzen traumatische Inhalte erinnert und emotional durchlebt werden können, ohne dass es zu einer Überwältigung kommt. Ein treffendes Bild dafür ist das Helioskop – ein spezielles astronomisches Fernrohr zur direkten Sonnenbeobachtung. Es blockiert den Grossteil des Lichtstroms durch Spiegelung oder Polarisationsfilterung und ermöglicht so den sicheren Blick in eine Quelle, die sonst das Auge zerstören würde.
Diese besondere Qualität entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel von aktiviertem autobiografischem Gedächtnis, verändertem Selbsterleben, emotionaler Offenheit, kontextueller Sicherheit sowie therapeutischer Fokussierung und Begleitung – Faktoren, die durch klassische Psychedelika, MDMA oder Ketamin gezielt gefördert werden (23). Diese Form der Verarbeitung erscheint besonders dort bedeutsam, wo klassische traumatherapeutische Verfahren an ihre Grenzen stossen – etwa bei starker Vermeidung, fragmentierten Erinnerungen oder ausgeprägter emotionaler Dissoziation. Der Helioskop-Effekt kann in solchen Fällen ein therapeutisches Korrektiv darstellen, indem er eine neue Form des Erlebens ermöglicht: nicht dissoziierend, aber auch nicht überfordernd.
Die konzeptuelle und empirische Grundlage, die zu diesem Konzept besteht, identifiziert zwei zentrale, psychologisch präzise beschreibbare Wirkfaktoren des HelioskopEffekts. Beide lassen sich sowohl klinisch qualitativ wie auch quantitativ mit dem entwickelten Helioskop-Fragebogens erfassen. 1. Ermöglichte Exposition: Konfrontation ohne Vermeidung
Der Helioskop-Effekt ermöglicht eine direkte und spontane Konfrontation mit traumabezogenem Material, wo in klassischen Therapien, selbst bei spezifischen TraumaExpositionsmethoden, Vermeidung oder Überwältigung häufig vorkommt. Im psychedelischen Zustand erfolgt die Exposition intern gesteuert: belastende Erinnerungen tauchen in einer «inneren Reise» auf, werden spürbar, ohne zu überfluten. Das veränderte Bewusstseinsmilieu erlaubt emotionale Resonanz und symbolische Distanz; der Zugang wird als tragbar und oft befreiend erlebt. 2. Gewährter Schutz: Keine Retraumatisierung Der Zustand wird in der Regel als sicher erlebt: Substanzwirkung und Setting (etwa therapeutische Begleitung und
mentale Rahmung) schaffen einen Schutzraum, was Konfrontation ohne Retraumatisierung ermöglicht. Es entsteht eine kontrollierte Offenheit statt fragmentierender Überforderung. Die Kombination aus Exposition und Schutz kennzeichnet den Helioskop-Effekt.
Klinische Fundierung des Helioskop-Effekts Neurophysiologisch betrachtet ist das Gehirn kein passiver Sensor, sondern ein aktiver Filter- und Verarbeitungsapparat. Es blendet gezielt Reize aus, die für das kurzfristige Überleben irrelevant erscheinen (6). Unter dem Psychedelika-Einfluss verändert sich dieser Filter massgebend: Hochrangige Annahmen werden gelockert, bottom-up-Signale erhalten mehr Gewicht, und grossräumige Netzwerkarchitektur sowie thalamo-kortikale Kopplung reorganisieren sich (12,24). Dieser neue Filter lässt emotional wichtige Inhalte durch, die gewöhnlich ausgeblendet und vom Bewusstsein verdrängt werden, für die Verarbeitung von Traumata aber wichtig sind. Unter den richtigen Bedingungen wirkt das «Helioskop» (die psychedelische Erfahrung) als Schutz vor der gleissenden Intensität dieser Inhalte und ermöglicht deren tragbare Bearbeitung.
Dieser Effekt zeigt sich in Psychotherapien besonders eindrücklich bei der Verarbeitung schwerer traumatischer Erfahrungen. Eine Patientin, die den Helioskop-Effekt eindrücklich veranschaulicht, wuchs als Tochter marokkanischer Eltern in Frankreich auf. Bereits als Kind spürte sie, dass sie lesbisch war, eine Selbsteinsicht, die mit dem kulturellen Selbstverständnis ihrer Familie unvereinbar war. Als ihre Eltern feststellen, dass sie lieber mit Lastwagen als mit Puppen spielte, beschlossen sie, ihre Tochter noch während der Pubertät gegen ihren Willen zu verheiraten. Die Folge davon waren Jahre sexualisierter Gewalt durch ihren Ehemann, begleitet von Schweigen aus Scham und der Befürchtung, dass ein Aufbegehren lebensgefährlich sein konnte. Als sie schliesslich aus der Ehe floh, verlor sie ihre Familie, wurde tatsächlich bedroht und musste untertauchen, bis sie Asyl in der Schweiz fand (6,25).
Ihre Geschichte war in behördlichen Akten und medizinischen Gutachten dokumentiert. Persönlich sprach sie lange nicht darüber. In der Therapie sagte sie nur: «Es würde mich verbrennen – wie die Sonne.» Erst durch den gezielten therapeutischen Einsatz von MDMA, begleitet von einem sicheren und professionell begleiteten Rahmen, war es ihr möglich, sich mental ihren traumatischen Erfahrungen zu nähern, ohne davon verbrannt zu werden. Der Helioskop-Effekt wurde in diesem Kontext zur Metapher für die gezielte Lichtfilterung in der Psyche: nicht zur Schonung, sondern zur präzisen Konfrontation. Dies half ihr, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und sich im Rahmen eines posttraumatischen Wachstums für Menschenrechte in einer grossen internationalen Organisation zu engagieren.
Auch der renommierte Psychiater Irvin Yalom benutzt in seinem Buch «Staring at the Sun» die Sonnenmetapher als Sinnbild für die unausweichliche Konfrontation mit existenziellen Bedrohnungen (26). Und in frühen vedischen Texten
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heisst es, dass der psychedelisch wirkende Saft Soma es dem Menschen erlaube, «in die Sonne zu schauen» (27). Beide Metaphern verweisen auf eine tiefe anthropologische Wahrheit: psychische Heilung beginnt oft erst dann, wenn es möglich wird, hinzusehen, nicht trotz, sondern wegen des Schmerzes. Richtig eingesetzt können Psychedelika dazu beitragen, diesen Blick ermöglichen.
Fazit Die Evidenz der vergangenen zwei Dekaden weist auf klinisch bedeutsame Effekte psychedelisch unterstützter Verfahren bei Traumafolgestörungen hin und rechtfertigt vorsichtigen Optimismus, schwer belastete Patienten künftig wirksamer zu behandeln. Erfahrungsberichte aus der Schweizer Praxis sprechen für eine gezielte, strukturierte Integration in psychotherapeutische Settings. Für eine verantwortungsvolle Implementierung sind jedoch vertiefende Studien zu neurophysiologischen und psychologischen Wirkmechanismen, wie dem Helioskop-Effekt, sowie zur Identifikation moderierender Faktoren auf Seiten der Person (z.B. Komorbiditäten, Vulnerabilitäten), von Set und Setting und von Substanzparametern erforderlich. Auf dieser Grundlage lässt sich das Potenzial dieser Verfahren schrittweise in die Regelversorgung überführen, mit dem Ziel, die Lebensqualität Betroffener nachhaltig zu verbessern und die psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz evidenzbasiert weiterzuentwickeln.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Gregor Hasler Molecular Psychiatry Lab, University of Freiburg FNPG, Chemin du Cardinal-Journet 3 1752 Villars-sur-Glâne E-Mail: gregor.hasler@unifr.ch
Referenzen: 1. Zaretsky TG et al.: The Psychedelic Future of Post-Traumatic Stress
Disorder Treatment. Curr Neuropharmacol. 2024;22(4):636-735.
Merkpunkte
• In den letzten zwei Jahrzehnten zeigen Studien, dass Psychedelika wie MDMA, Psilocybin und LSD bei PTBS und anderen traumaassoziierten Störungen klinisch bedeutsame und teils langanhaltende Verbesserungen bewirken können.
• Der Helioskop-Effekt beschreibt einen Zustand, in dem traumatische Erinnerungen emotional zugänglich und intensiv erlebt werden können, ohne Überwältigung oder Destabilisierung des Ichs.
• Der Helioskop-Effekt beruht auf zwei Kernmechanismen: (1) ermöglichte Exposition: unmittelbare Konfrontation mit belastenden Erinnerungen ohne Vermeidung; (2) gewährter Schutz: ein sicherer innerer und äusserer Rahmen, der Retraumatisierung verhindert.
• Psychedelika senken die Amygdala-Reaktivität, verändern die amygdalo-hippocampale und präfrontale Konnektivität und fördern Neuroplastizität: Dadurch entstehen «Fenster der Gelegenheit» für korrigierende Neubewertung und Rekonsolidierung traumatischer Erinnerungen.
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25. Jahrgang, ISSN 1660-4369
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