Transkript
EDITORIAL
Empathie ist keine Schwäche
Vor Kurzem hat mich ein Vortrag tief bewegt. Ein Mann mit unheilbarem Krebs sprach darüber, wie man lebt, wenn die Zeit begrenzt ist. Seine Worte haben mich an etwas erinnert, das in der Medizin manchmal zu kurz kommt. Dabei hätte ich den Abend fast verpasst, denn ich wollte eigentlich nicht hingehen. Denn als mich jemand zu diesem Vortrag einlud, dachte ich: «Das wird wieder so ein esoterischer Vortrag, wo jemand behauptet, die Psyche könne Krebs heilen.» Doch dann stand Martin Inderbitzin vor uns.
Ein Mann, der mit 35 die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erhielt – eine Krankheit, die fast immer tödlich verläuft. Zwei Jahre war er rezidivfrei, seither lebt er mit Metastasen. Er gehört zu den drei bis fünf Prozent, die einfach Glück haben.
Was er uns an diesem Abend mitgab, war keine Heilungsgeschichte, sondern eine Lebensphilosophie: Lebt jetzt, verschiebt nichts auf morgen, löst Konflikte sofort.
Wenn ihr schon immer Fallschirm springen wolltet, dann bucht es. Wenn ihr mit eurer Tochter etwas zu besprechen habt, dann tut es heute, nicht irgendwann.
Und dann kam der Satz, der mich nicht mehr losgelassen hat: «Lebt mit allen Menschen so, als könnten sie morgen sterben.»
Diese Worte haben mich getroffen, weil sie etwas beschreiben, das in unserem hochdigitalisierten, effizienzgetriebenen System zunehmend verloren geht: Die Menschlichkeit! Nach 35 Jahren in der Medizin weiss ich, dass Empathie keine Schwäche ist, sondern die Kraftquelle, die uns daran erinnert, warum wir diesen Beruf gewählt haben.
Doch der Druck ist real und wir sind so sehr damit beschäftigt, das System am Laufen zu halten, dass wir manchmal vergessen, wofür wir es am Laufen halten: für die Menschen.
Es gab Momente in meiner Laufbahn, in denen auch ich diese Menschlichkeit fast verloren hätte. Tage, an denen ich Gespräche abkürzte, um effizienter zu sein, und dabei vergass, dass hinter jeder Diagnose ein Mensch steht, der nicht nur medizinische Antworten braucht, sondern jemanden, der wirklich zuhört.
Das ist die Essenz unseres Berufs und Martin Inderbitzins Vortrag hat mir das wieder bewusst gemacht. Wenn wir so leben würden, als wäre jeder Tag der letzte, würden wir anders mit unseren Patientinnen und Patienten umgehen. Wir würden präsent sein und uns Zeit nehmen für das, was wirklich zählt.
Am Ende des Tages geht es nicht darum, wie viele Patientinnen und Patienten wir durchgeschleust haben, sondern darum, ob wir für die Menschen da waren, die uns vertraut haben. Was denken Sie, wie können wir Menschlichkeit im Gesundheitswesen wieder mehr Raum geben?
Ihr Jörg Leuppi
Professor für Innere Medizin Universität Basel und Beirat für Pneumologie Ars Medici
ars medici 19 | 2025 643