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BERICHT
Jahreskongress der European Association of Urology
Behandlungsoptionen bei überaktiver Blase
In der Therapie der überaktiven Blase stehen seit Langem viele mögliche Medikamente zur Verfügung, für Männer allerdings mehr als für Frauen. Bald wird mit einem weiteren Beta-3-Agonisten eine neue Therapieoption verfügbar sein. Grund genug, am Jahreskongress der European Association of Urology (EAU) die pharmakologischen Therapiemöglichkeiten für diese Indikation zu besprechen.
Eine überaktive Blase (overactive bladder, OAB) ist durch imperativen Harndrang mit oder ohne Dranginkontinenz gekennzeichnet, üblicherweise begleitet von einer erhöhten Miktionsfrequenz am Tag und Nykturie, sofern keine nachgewiesene Infektion oder andere offensichtliche Pathologie vorliegt. Daher kann eine OAB nach Ausschluss einer Harnwegsinfektion anhand der Anamnese diagnostiziert werden. Daten aus verschiedenen epidemiologischen Studien zeigen, dass die Prävalenz von OAB mit steigendem Alter bei beiden Geschlechtern gleichermassen zunimmt, wie Prof. Dr. Claus Roehrborn, Urology Department, UT Southwestern Medical Center, Dallas (USA), berichtete. Das deutet darauf hin, dass die Inzidenz vom Vorhandensein einer Prostata unabhängig ist. Als Therapeutika stehen Alphablocker, Antimuskarinika und Beta-3-Adrenorezeptoragonisten zur Verfügung.
Kleine Wirkung, grosser Effekt Alphablocker wie Doxazosin, Terazosin, Alfuzosin, Tamsulosin und Silodosin hemmen die Kontraktion der glatten Prostatamuskulatur. Sie verbessern sowohl den maximalen Harnfluss (Qmax) als auch die Symptome des unteren Harntrakts (LUTS). Die Therapietreue ist hoch, da die Nebenwirkungen in der Regel mild sind und die Symptome erheblich gelindert werden. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass sowohl die Wirksamkeit als auch die Verträglichkeit dosisabhängig ist.
Ein interessanter Aspekt ist, dass die Verbesserung des Qmax unter Alphablockern auf etwa 20–25% begrenzt bleibt (1). Ein Patient mit einem «obstruierten» Qmax von 10 ml/s erreicht durch eine erfolgreiche Behandlung beispielsweise einen Wert von 12 ml/s – eine Verbesserung, die für sich genommen nicht besonders hoch erscheint, wie Dr. Cristian Persu, University of Medicine and Pharmacy (UMF) Carol Davila, Bucharest (RO), zu bedenken gab. Doch die Veränderung des International Prostate Symptom Score (IPSS) zeigt eine deutlich positivere Tendenz mit einer Verbesserung von etwa 40% (1). Das bedeute, dass Patienten trotz nur geringer Verbesserung des Harnflusses eine deutliche Linderung ihrer Symptome verspüren – ein entscheidender Faktor für die langfristige Therapietreue. Aktuelle Leitlinien befürworteten daher den Einsatz dieser Medikamentenklasse unter Berücksichtigung dieser beiden Aspekte (1).
Bewegung bei den Antimuskarinika Durch die Blockade der muskarinischen Rezeptoren in der Blase bieten Antimuskarinika laut Dr. Persu eine nachgewiesene Linderung der Symptome des überaktiven Blasensyndroms.
Der Detrusor enthält hauptsächlich die muskarinischen Rezeptorsubtypen M2 und M3, wobei sich die verfügbaren Antimuskarinika in ihrer Selektivität unterscheiden. Im Allgemeinen zeigen Antimuskarinika eine vergleichbare Wirksamkeit, jedoch mit erheblichen Unterschieden in den Nebenwirkungen der einzelnen Substanzen.
Während die Wirksamkeit sowohl bei Frauen als auch bei Männern ausreichend belegt ist, zeigen Langzeitstudien in der Praxis, dass die Patiententreue eher gering ist: Etwa die Hälfte der Patienten bricht die Behandlung in den ersten sechs Monaten ab, wie Dr. Persu berichtete. Bei Präparaten mit einmal täglicher Einnahme und bei neurogenen Patienten ist die Compliance allerdings besser.
Zu den Antimuskarinika zählen Oxybutynin, Tolterodin, Trospium, Solifenacin, Darifenacin, Propiverin, Fesoterodin. Zu den selektiven Beta-3-Adrenorezeptoragonisten gehören Mirabegron (Betmiga™) und ein neuer, bereits in den USA und in der EU zugelassener Beta-3-Agonist, Vibegron (Obgemsa®). Vibegron ist gemäss Prof. Roehrborn einerseits zur Behandlung einer OAB mit Symptomen von Harninkontinenz, Drang und erhöhter Miktionshäufigkeit bei Erwachsenen zugelassen sowie vorerst nur in den USA bei Männern mit diesen Symptomen, die unter Behandlung einer benignen Prostatahyperplasie (BPH) stehen.
Kombinationen verstärken Effekt Die Kombination von Antimuskarinika und Alphablockern zeigte in zahlreichen Studien eine Verbesserung von Drang und Miktionsfrequenz bei Patienten mit BPH, zum Preis einer leichten Erhöhung des Restharnvolumens und eines leichten Risikos für Harnretention, so Prof. Roehrborn. Nebenwirkungen waren Mundtrockenheit und Obstipation. Auch die Kombination eines Beta-3-Adrenorezeptoragonisten mit einem Antimuskarinikum führte in der SYNERGY-Studie (2) zu einer Verbesserung der OAB-Symptome Drang und Miktionshäufigkeit gegenüber den Einzelkomponenten und gegenüber
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Plazebo. Die Nebenwirkungen höheres Restharnvolumen und Anzeichen für Harnretention waren unter der Kombination leicht häufiger, ebenso Mundtrockenheit, Obstipation und Dyspepsie.
In der TIMES-Studie führte die Kombination Tolterodin plus Tamsulosin bei Männern mit Symptomen des unteren Harntrakts (LUTS) inklusive OAB zu einer stärkeren Symptomlinderung als unter den Monotherapien oder Plazebo (3). Einer weiteren Analyse zufolge konnten Männer mit einem kleinen Prostatavolumen bereits von einer Tamsulosin-Therapie allein profitieren. Von einer Kombination profitierten jedoch alle, unabhängig der Prostatagrösse (4).
Elefant im Raum Ein grosses Fragezeichen betraf bislang den Verdacht auf Demenzrisiko bei einer Therapie mit Antimuskarinika. Eine kürzlich publizierte grosse dänische Registerstudie ging dieser Frage nach und verglich Patientengruppen mit kumulativer Verwendung von Antimuskarinika mit Nichtverwendern und mit Verwendern des Beta-3-Adrenorezeptoragonisten Mirabegron. Die Resulate waren widersprüchlich: Im Vergleich zu Nichtverwendern war das Demenzrisiko unter Antimuskarinika erhöht, im Vergleich zu Mirabegron jedoch nicht. Das unterstreiche die Relevanz der Verwendung einer aktiven Vergleichssubstanz, wie die Studienautoren betonen. Das erhöhte Demenzrisiko könnte vielmehr der zugrundeliegenden OAB geschuldet sein als der Therapie, so eine mögliche Erklärung (5). Über diese kontroversen Resultate sei aber vermutlich noch nicht das letzte Wort gesprochen, so Prof. Roehrborn.
Was bringt Botox? Bei einer neurogenen Detrusorüberaktivität (NDO) sind Antimuskarinika die Therapie der Wahl. Sie vergrössern die Blasenkapazität, verringern den Blasendruck, verbessern die Compliance und die Lebensqualität. Beta-3-Agonisten bzw. Mirabegron zeigt dagegen keine Wirkung auf den Detrusordruck oder die Blasenkapazität, dennoch verbessert es auch LUTS und die Lebensqualität in ähnlicher Grössenordnung wie Antimuskarinika, wie Urologe Dr. Rizwan Hamid, Neurourology, Royal National Orthopaedic Hospital NHS, London (UK), am EAU-Kongress erklärte. Auch Onabotulinumtoxin A ist bei Patienten mit NDO empfohlen, speziell bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) oder Rückenmarksverletzungen, wenn
Antimuskarinika nichts nützen. Evidenz dafür kommt von einer Studie mit gepoolten Daten von zwei Phase-III-Studien mit einer Subpopulation von MS- und rückenmarksverletzten Patienten mit NDO-bedingter Harninkontinenz. Die Patienten (n = 691) hatten zuvor zum Teil eine Therapie mit Antimuskarinika durchgeführt und erhielten nun Onabotulinumtoxin-Aoder Plazebo-Injektionen in den Detrusor. Unabhängig von Ätiologie und Vortherapie verbesserten sich in der BotoxGruppe nach sechs Wochen die Dranginkontinenzepisoden signifikant wie auch die Lebensqualität, dies bei guter Verträglichkeit (6).
Für eine Kombination von Botulinumtoxin und Antimuskarinika gibt es nicht genügend Evidenz. Sie könnte jedoch nützlich sein. Darauf wies zumindest eine retrospektive Studie mit Patienten mit OAB hin, denen Botulinumtoxin nicht genügend half. Nach zusätzlicher Einnahme von oralen Medikamenten erfuhr eine Mehrheit eine ausreichende Symptomlinderung, wie der Referent berichtete. Antimuskarinika wie auch Onabotulinumtoxin A verbessern die neurogene Dysfunktion des unteren Harntrakts. Es sei zu vermuten, dass eine Kombination von beiden eine synergistische Wirkung habe, so Dr. Hamid abschliessend.
Valérie Herzog
Quelle: «Functional Urology: Hot topics in functional urology». Jahreskongress der European Association of Urology (EAU), 21.–24. März 2025, Madrid
Referenzen: 1. Cornu JL et al.: EAU Guidelines on Non-Neurogenic Male Lower Urinary
Tract Symptoms (LUTS). 2025. www.uroweb.org. Letzter Abruf: 7.4.25 2. Herschorn S et al.: Efficacy and safety of combinations of mirabegron
and solifenacin compared with monotherapy and placebo in patients with overactive bladder (SYNERGY study). BJU Int. 2017 Oct; 120(4):562-575. doi:10.1111/bju.13882 3. Kaplan SA et al.: Tolterodine and tamsulosin for treatment of men with lower urinary tract symptoms and overactive bladder: a randomized controlled trial. JAMA. 2006;296(19):2319-2328. doi:10.1001/ jama.296.19.2319 4. Roehrborn CG et al.: Tolterodine extended release with or without tamsulosin in men with lower urinary tract symptoms including overactive bladder symptoms: effects of prostate size. Eur Urol. 2009;55(2):472-479. doi:10.1016/j.eururo.2008.06.032 5. Pourhadi N et al.: Bladder drugs and risk of dementia: Danish nationwide active comparator study. BMJ Med. 2025;4(1):e001125. doi:10.1136/bmjmed-2024-001125 6. Ginsberg D et al.: OnabotulinumtoxinA is effective in patients with urinary incontinence due to neurogenic detrusor overactivity [corrected] regardless of concomitant anticholinergic use or neurologic etiology [published correction appears in Adv Ther. 2014 Feb;31(2):242]. Adv Ther. 2013;30(9):819-833. doi:10.1007/s12325-013-0054-z
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