Transkript
V E RA N S TA LT U N G S B E R I C H T
Case-Management: Grenzen überwinden
Den Patienten in die Mitte stellen
heisst auch, die Grenzen von Orga-
nisationen und Professionen zu
überschreiten. Wie das gehen kann,
zeigte die Fachtagung Case-Mana-
gement in Bern.
Brigitte Casanova
Die Grenzen von Organisationen und Professionen überwinden, arbeitsteilig handelnde Akteure auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichten: Dies sind Bestrebungen von Case-Management1. Die Fachtagung «Case-Management» am 18. Mai im Berner Inselspital beschäftigte sich unter anderem mit diesen Grenzüberschreitungen. Die Tagung fand anlässlich des 750-Jahr-Jubiläums des Inselspitals statt und wurde gemeinsam vom SBK und WE’G organisiert. Grenzen müssen auf verschiedenen Ebenen überwunden werden: auf der Makroebene der Politik (vergleiche Beitrag von Simonetta Sommaruga in dieser Ausgabe), auf der Mesoebene der Organisationen und auf der Mikroebene in der einzelnen Fallarbeit. Dies sind die Interventionsebenen des Case-Managments, so Maja Nagel Dettling (Studienleiterin des NDS Case-Managment WE’G/SBK). Das individuelle Management und das Systemmanagement sind die beiden Einsatzfelder von Case-ManagerInnen, und «sie lassen sich nicht von einander trennen». Der Bericht fokussiert auf drei Projekte, in denen Grenzen überschritten werden. Zuerst stellt sich noch die Frage, was die Grenzen überhaupt mit der modernen Medizin zu tun haben.
Spezialisierung
Das Gesundheitswesen ist hochgradig arbeitsteilig und spezialisiert. Die Leistungen sind auf die Institutionen und Fachgebiete ausgerichtet, die
Patientenwege verlaufen deshalb oft nicht optimal. Nun gibt es für die Spezialisierung in der Medizin viele gute Gründe, eine moderne medizinische Versorgung ist zunehmend nur arbeitsteilig zu sichern. Dies stellte Bernhard Güntert fest, Professor am Institut für Management und Ökonomie der UMIT2 in Innsbruck. Entscheidend für eine verbesserte Integration der Gesundheitsdienstleistungen ist, dass die Wertschöpfungskette über alle Institutionen hinweg optimiert wird. Sie muss patientenorientiert sein, nicht institutionsorientiert. Dies bedeutet gemäss Güntert ein verändertes Rollenverhalten der Akteure: Der Patient ist aktiv für seine Koorperation verantwortlich. Der Health-Professional muss lernen, sich «nicht als Nabel der Welt, sondern als Teil in einem Prozess» zu sehen. Und die Rolle des Staates ist es, eine patientenorientierte Finanzierungsstruktur zu schaffen (siehe Kasten). Paul op’t Roodt (Leiter Personalentwicklung der Zürcher Höhenkliniken Wald und Davos) hob den Unterschied in der Entwicklung hervor: «Die enorme und rasant voranschreitende Entwicklung im gesamten Gesundheitswesen findet hauptsächlich auf fachlicher Ebene statt. Sie hat noch zu wenig organisatorische Aspekte beziehungsweise solche des Managements berücksichtigt.» Das Management soll verbessert werden, indem der Patient oder die Patientin konsequent in das Zentrum des Prozesses gestellt wird.
Zürcher Höhenkliniken: Prozessorientierte betriebliche Organisation
Die Zürcher Höhenkliniken Wald und Davos waren bis Ende 2002 klassisch organisiert: Die Linienorganisation trennt die verschiedenen Berufsgruppen in einer Klinik. Die Medizin, die Pflege und die Therapien hatten ihre je eigenen hierarchischen Strukturen. Die Linienorganisation seg-
mentiert auch die Bereiche, welche der Patient durchläuft. Sie behindert einen interdisziplinären Ablaufprozess. Paul op’t Roodt hat in den Zürcher Höhenkliniken die Organisation auf den Patientenprozess ausgerichtet: Eine Matrixorganisation3 ermöglicht nun die Arbeit in Netzwerken und vernetzt die Versorgung. Sie bedeutet einen eigentlichen Paradigmenwechsel: Pflege, Medizin und Therapie sind nicht mehr hierarchisch nebeneinander gestellt, sondern miteinander in einem organisatorischen Geflecht verbunden. Die Organisation ist auf die Prozesse ausgerichtet, anstatt auf die fachbezogenen Disziplinen. «Dies erfordert jedoch viel Sozialkompetenz von den Teammitgliedern», so op’t Roodt. Wesentlich für eine Matrixorganisation ist es, dass die Führungs- und Fachverantwortung getrennt ist: Reha-KoordinatorInnen und Fachverantwortliche heissen die zwei unterschiedlichen Funktionen. Konkret sieht dies so aus: Es wurden interdisziplinäre Teams gebildet, welche von einem Reha-Koordinator oder einer Reha-Koordinatorin geleitet werden. Er (oder sie) ist ein innerbetrieblicher Case-Manager. Dieser führt das Team personell und ist verantwortlich für den Patientenprozess. Der Reha-Koordinator begrüsst den Patienten in der Klinik und leitet den Eintrittskoordinationsrapport. An diesem Rapport werden die monodisziplinären Eintrittsbefunde zusammengetragen, es findet eine gemeinsame Erstbeurteilung des Patienten statt, und die Reha-Ziele werden gesetzt. Während des Aufent-
1 Die vier Ziele von Case Management (Ewers 2001): Den Versorgungsprozess koordinieren, die Grenzen von Organisationen und Professionen überwinden, Patientenorientierung und Patientenpartizipation herstellen und arbeitsteilig handelnde Akteure auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichten.
2 UMIT: Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik.
3 Matrixorganisation: Struktur, bei der sich zwei Organisationsformen überlappen. Eine ist nach Fachabteilungen gegliedert, die andere nach Objekten/Projekten.
42 Managed Care 7 ● 2004
V E RA N S TA LT U N G S B E R I C H T
ben und das Neue entwickelt werden. «Keine Stationsschwester mehr zu haben und sich an zwei Vorgesetzte zu gewöhnen ist nicht einfach», so der Leiter der Personalentwicklung.
Maja Nagel Dettling, Studienleiterin NCS Case-Management WE’G/SBK, stellte die theoretischen Grundlagen von CaseManagement vor.
halts ist der Reha-Koordinator für die Rapporte und das Controlling des Rehabilitationsverlaufs zuständig. Zudem ist er auch Ansprechperson für den Patienten. Beim Austritt überprüft er die Ziele, erledigt die Administration und verabschiedet den Patienten. Demgegenüber haben die Fachverantwortlichen ein vertieftes Fachwissen und Kenntnisse in Didaktik und Lernpsychologie. Sie kontrollieren die Tätigkeiten fachlich. Dies sichert die Qualität und verbessert das Fachgebiet. Sie bilden Lernende aus und coachen die Mitarbeitenden, und sie vertreten die Klinik fachlich nach aussen. An regelmässigen interdisziplinären Sitzungen werden die Patienten besprochen. «Dazu ist eine gemeinsame, eindeutige Sprache nötig», so op’t Roodt. Die interdisziplinären Rapporte haben zum Teil die Chefarztvisiten abgelöst. Auch die Dokumentation wird gemeinsam geführt. Im Dokumentationszimmer treffen die Pflege und die Therapie zusammen. Dies fördert vernetztes, berufsübergreifendes Denken und Wissen. Op’t Roodt: «Das Personal sieht die intensivere Kommunikation als Gewinn, die Zusammenarbeit hat sich verbessert.» Für die Mitarbeitenden der beiden Kliniken war der Wandel trotzdem ziemlich schwierig. Die herkömmlichen Strukturen mussten aufgege-
Suva: Soziales Netz und gewerbliches Umfeld einbeziehen
Im Werbespot der Suva geht ein Bürostuhl seinen verunfallten Be-Sitzer im Spital besuchen. «Um einen verunfallten Arbeitskollegen sollten Sie sich kümmern, Stühle tun dies nur im Film», so ertönt die Stimme aus dem Hintergrund. Sie macht darauf aufmerksam, dass das soziale und berufliche Umfeld für einen Verunfallten sehr bedeutend ist. Willi Morger (Direktor der Suva) sagte, dass die Suva lange gemeint hätte, für Rehabilitation seien der medizinische Bereich und Rechtsfragen wichtig. Dies sei aber nicht immer der Fall. Denn immer wieder komme es vor, dass an sich «banale» Fälle entgleisten. Dazu zählt Morger beispielsweise Schleudertraumata oder chronische Rückenbeschwerden. Die Gründe für eine Entgleisung lägen «im sozialen Netz und im gewerblichen Umfeld». So genannte weiche Faktoren seien Prädikatoren für schwierige Fälle. Die Suva möchte diejenigen teuren Fälle vermeiden, die nicht teuer sein müssten. Morger: «Es ist normal, dass eine Tetraplegie hohe Kosten verursacht.» Die Suva hat deshalb das New-CaseManagement (NCM) entwickelt. Sie legt dabei besonderes Augenmerk auf die schwer wiegenden Fälle und diejenigen, die entgleisen könnten. Zusammen sind diese 5 Prozent der Fälle verantwortlich für 80 Prozent der Kosten der Suva. Diese komplexen Fälle werden durch ein Case-Manager-Team umfassend betreut. Das ganze Umfeld des Patienten wird beleuchtet (sozial, beruflich, medizinisch und rechtlich), und das Vorgehen wird geplant. Die Informationen werden elektronisch ausgetauscht, die Kommunikation wird so viel schneller. Aus Datenschutzgründen ist nötig, dass der Patient dazu einwilligt. Das NCM ist prozess- und kundenorientiert: Auch viele Ärzte und andere Leistungserbringer wurden zur Entwicklung befragt. Morger berichtete, dass die Mitarbeitenden der Suva sehr positiv auf das NCM
Paul op’t Roodt, Leiter Personalentwicklung der Zürcher Höhenklinik Wald und Davos, referierte über die neu eingeführte Matrixorganisation.
Bernhard Güntert, Professor am Institut für Management und Ökonomie an der UMIT in Innsbruck, über Case-Management in der Marktsituation.
reagiert hätten. In Qualitätszirkeln wird zudem überlegt, wie es verbessert werden kann. Ein Case-Management ist sehr aufwändig: Pro Jahr wickelt ein Case-Manager bei der Suva ungefähr 35 Fälle ab. Für Morger ist ein gutes Case-Management eine Win-win-Situation: «Die beste Eingliederung ist das Beste für die Betroffenen und die Versicherer.»
Managed Care 7 ● 2004 43
V E RA N S TA LT U N G S B E R I C H T
Daniel Luginbühl vom Seco, Direktion für Arbeit, beschrieb das Projekt «Interinstitutionelle Zusammenarbeit IIZ».
Zusammenarbeit der Behörden
Auch auf der behördlichen Seite gibt es Lücken und Löcher, die den Ablauf verzögern. «Der Klient dreht so krankmachende Kurven», sagte Daniel Luginbühl (Seco, Direktion für Arbeit). Er nannte zwei Hindernisse: die Systemzuständigkeit der einzelnen Institution und das «Kässelidenken». Das Projekt interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ)4 wurde aufgrund eines parlamentarischen Vorstosses gestartet: Die Arbeit der Behörden soll koordiniert werden, damit der Klient möglichst rasch und nachhaltig in den ersten Arbeitsmarkt reintegriert werden kann. Dazu müssen Methoden der Zusammenarbeit entwickelt werden, so Luginbühl. Der Klient wird auch hier in die Mitte gestellt. Als Erstes wurden die Lücken und Probleme der interinstitutionellen Zusammenarbeit analysiert. Ein Handbuch zeigt nun Lösungen auf und liefert zugleich Instrumente für deren Umsetzung.5 Als Zweites sollte
4 Das IIZ wird von den folgenden Organisationen getragen: Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren, Konferenz der kantonalen Volkswirtschaftsdirektorinnen und Volkswirtschaftsdirektoren, Staatssekretariat für Wirtschaft seco, Bundesamt für Sozialversicherungen, Verband schweizerischer Arbeitsämter, Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe, Association romande et tessinoise des institutions d’action sociale, Schweizerischer Verband für Berufsberatung, IV-StellenKonferenz.
5 Download «Handbuch zur interinstitutionellen Zusammenarbeit»: www.iiz.ch
Case-Management in der Marktsituation
Einen entscheidenden Einfluss auf das Gesundheitssystem hat die Finanzierung, so Bernhard Güntert. Die Anreizsysteme verhindern eine integrierte Versorgung. Die Tendenz geht heute dahin, dass «der Markt es regeln soll». Der Markt spielt sich zwischen den Anbietern und den Nachfragern ab. Ein idealer Markt kennt viele Anbieter und Nachfrager, und für beide ist der Zugang frei. Es gibt Informationen über Eigenschaften, Menge, Preis und Qualität. Die Entscheidung des Nachfragenden fällt aufgrund des Nutzens der Kostenfolge. Im Gesundheitswesen besteht gemäss Güntert nun aber ein Dreiecksverhältnis zwischen Anbieter, Nachfrager und Kostenträger. Zwischen ihnen spielen verschiedene Märkte: Leistungs-, Krankenversicherungs- und Expertenmarkt.
Güntert nannte verschiedene Strategien, welche den Markt wieder an die ideale Situation annähern sollen:
■ Patient Empowerment soll das Informationsdefizit des Nachfragenden (über Preis, Eigenschaft, Menge) beheben: Informationen, Ratgeber, Gesundheitsportale zählen dazu. Güntert ist jedoch skeptisch: «Ist es realistisch, dass der Patient alle Informationen kennen kann und will, die er für einen guten Entscheid braucht?»
■ Auch die Managed-Care-Organisationen (MCOs) versuchen, einen normalen Markt entstehen zu lassen. Anbieter und Versicherer kommen unter einem Dach zusammen, damit zwischen ihnen und den Patienten/Kunden der Markt spielen kann. Güntert: «Die MCOs sind in der Schweiz zwar ausgereift, haben sich aber (noch) nicht durchgesetzt.»
■ Ein weiterer Lösungsansatz ist das Prinzipal-Agent-Modell, so Güntert. Der Patient sucht sich einen Agenten, der für ihn auswählt und entscheidet. Dazu gehören die Formen des Case-Managements. Bei den Hausarztmodellen wird der Hausarzt zum Agenten.
eine Anschubfinanzierung von bottom-up in den Kantonen Projekte animieren, welche die Zusammenarbeit verbessern. In der Zwischenzeit laufen in 18 Kantonen 20 Projekte, so Luginbühl. Case-Management wird in drei davon gemacht: in Bern, Aargau und Solothurn. In Bern zum Beispiel sitzen die involvierten Stellen zusammen mit dem Klienten an einen runden Tisch. Gemeinsam führen sie ein Assessment der Situation durch. Die Experten legen eine Strategie fest, die dann eine Stelle ausführt. Der Klient fühlt sich ernst genommen, und er ist «glücklich und zufrieden», so Luginbühl. Im ersten Jahr wurden durch das Assessment-Team über 100 Fälle gelöst. 30 Prozent der gemeinsam besprochenen Klienten konnten in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. Die restlichen 70 Prozent wurden rasch zur IV weitergewiesen. Dies ist auch für die IV befriedigend. Das interinstitutionelle Team hat sein Wissen erweitert. Luginbühl: «Die einzelnen Stellen merken, was die andern können». Der Kanton Bern prüft einen Weiterzug des Projekts. Auch die Zusammenarbeit mit privaten Stellen kann fruchtbar sein: Spezialisierte Stellenvermittler werden für schwierig zu vermittelnde Klienten eingesetzt. Dies zeigte die Diskussion auf. Die privaten Vermittler
Willi Morger, Direktor Suva, erläuterte das New-Case-Management, das soziale und berufliche Faktoren explizit miteinbezieht.
suchen Stellen in kleineren Betrieben
und betreuen Klient und Betrieb auch
nach der Platzierung.
Luginbühl schloss: «Das Projekt IIZ
hat in der behördlichen Zusammen-
arbeit einen Veränderungsprozess in
Gang gesetzt.»
■
Bericht: BRIGITTE CASANOVA REDAKTION «MANAGED CARE»
44 Managed Care 7 ● 2004