Transkript
QUALITÄTSENTWICKLUNG
Möglichkeiten und Grenzen
der Qualitätsmessung
aus ärztlicher Sicht
Wenn Qualitätsmessungen
dazu dienen sollen, die
Qualität ärztlichen Handelns
zu beurteilen, ist bei der
Auswahl der Messindikatoren
grösste Sorgfalt geboten.
Andernfalls besteht die Ge-
fahr, dass sich durch die
Qualitätsmessung die Ge-
samtqualität verschlechtert.
Guido Schüpfer
Q ualitätsmessungen im Gesundheitswesen sind wertvoll, denn sie führen typischerweise zu Verbesserungen in den gemessenen Bereichen. So können beispielsweise die Durchimpfungsraten bei Kindern, die Betreuung von Schwangeren oder die Ergebnisse der Koronarchirurgie durch Qualitätsmessungen verbessert werden. Um den tatsächlichen Nutzen von Qualitätsmessungen zu beurteilen, müssen allerdings zwei Fragen beachtet werden: Wird gemessen, was gemessen werden soll? Und: Bewirken die Messungen das Beabsichtigte? Im Folgenden wird die Tragweite dieser Fragen erläutert; dabei wird der Fokus auf Performance-Messungen und auf die klinische ärztliche Tätigkeit gelegt.
Was wird gemessen?
Die klinische Performance ist definiert als der Prozess, den ein Arzt auslöst/ausführt/definiert, wenn er einen Patienten behandelt, und der zu einem Outcome (Behandlungs-
ergebnis) führt. Die klinische Performance kann nur dann sinnvoll beurteilt werden, wenn Variablen gemessen werden, die unter der Kontrolle des einzelnen Arztes oder der Ärzteschaft stehen. Insbesondere bei der Outcome-Messung ist deshalb Vorsicht geboten, denn neben der ärztlichen Behandlung tragen viele weitere Variablen zum Outcome bei, die der betreffende Arzt nicht kontrollieren kann (sog. Confounder, siehe Abbildung). Beispiel: Man könnte bestimmen, wie viele Patienten bei einem bestimmten Anästhesisten einen Herzstillstand erleiden. Um aus diesem Outcome tatsächlich Rückschlüsse auf den Anästhesisten ableiten zu können, müssen aber verschiedene Variablen, die der Anästhesist nicht beeinflussen kann, mitberücksichtigt werden. Jeder Outcome, der gemessen wird, muss um diese Variablen (sog. Risikofaktoren) adjustiert werden. Im genannten Beispiel wären dies etwa die kardialen Risikofaktoren der Patienten und die Art der Chirurgie. Die Risikoadjustierung ist ein relativ komplexes Unterfangen. Viele Modelle sind wissenschaftlich noch ungenügend abgestützt oder befinden sich noch in Entwicklung. In der Praxis ist es deshalb schwierig, aufgrund einer Outcome-Messung Rückschlüsse auf die Qualität eines Spitals oder eines einzelnen Arztes zu ziehen. Nur mit statistischer Analyse und sehr grossen Fallzahlen können Outcomevariablen richtig definiert und ausgewertet werden. Es bestehen Zweifel, ob die Datenqualität in Europa dafür genügt. Bei der Prozessmessung dagegen können die so genannten Confounder-Variablen relativ einfach ausge-
Guido Schüpfer
schaltet werden. Wenn zum Beispiel gemessen werden soll, wie zuverlässig die Ärzte den Prozess «perioperative Betablocker-Therapie im Rahmen nichtkardialer Chirurgie» einhalten, so können bei dieser Evaluation alle Patienten ausgeschlossen werden, die eine Betablocker-Intoleranz oder eine Allergie gegen Betablocker aufweisen. Wenn die Ausschlusskriterien genügend robust sind, sollte die Compliance für den Prozess 100 Prozent erreichen. Grundsätzlich können also Prozesse beziehungsweise kann die Einhaltung von Behandlungsstandards oder Behandlungspfaden einfach gemessen werden, wenn die (Soll-)Prozesse richtig definiert sind. Daher beruhen in der Praxis die meisten Performancemessungen auf der Messung der Prozesskomponente und nicht auf der Messung der Outcome-Komponente. Allerdings ist auch bei der Performancemessung auf der Basis von Prozessmessungen eine gewisse Vorsicht geboten. Die Ergebnisse sind nämlich nur relevant, wenn wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen ist,
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QUALITÄTSENTWICKLUNG
Abbildung:
Welche Faktoren beeinflussen die Ergebnisse?*
Ausgangslage des Vergleichs: Welche Patienten?
Initialer Gesundheitsstatus
Outcome: Gesundheitsstatus nach Intervention
Qualität der Behandlung: Welche Expertise/
Kompetenz hatte der Therapeut?
Art der Behandlung: Was wurde
getan?
* Abbildung modifiziert nach Herbert P.: Outcome Research. Aspen Publishers (USA), 1997
dass der als Bestandteil der Performance-Messung beobachtete Prozess tatsächlich zu einem verbesserten Patienten-Outcome beiträgt. Dies ist zurzeit bei vielen anerkannten Prozessmessungen nicht der Fall. Um hier Abhilfe zu schaffen, muss die medizinische Outcome-Forschung weiter gefördert werden.
Was bewirken die Messungen?
Qualität hat verschiedene Dimensionen: Neben der traditionellen Unterscheidung zwischen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität ist auch die Unterscheidung zwischen «objektiver» und subjektiver Qualität von Bedeutung: Während traditionelle klinische Endpunkte wie Überlebensrate (10/5 Jahre), Rezidivfreiheit (Rate, Dauer), Remission (d.h. Abklingen von Krankheitserscheinungen [Rate, Dauer]), Nebenwirkungen, biochemische Befunde, Leitlinien-Konformität und Kosteneffektivität meist vom Arzt gemessen werden, müssen Endpunkte wie Lebensqualität, Erfüllung der Erwartungen, Berücksichtigung der Patientenpräferenzen, negativer Affekt, soziales Stigma und «Coping» (Einhalten der Therapieempfehlung) vom Patienten beurteilt werden. Messungen führen meist (insbesondere wenn gute Messergebnisse finanziell belohnt werden) dazu, dass grosse Anstrengungen in die gemes-
senen Bereiche gesteckt werden, während andere Bereiche umgehend vernachlässigt werden. So wird beispielsweise auf die Vorgaben von Versicherungen oder Regulationsbehörden fokussiert, um bei derartigen Messungen gut dazustehen. Da die Zahl der Messungen aber prinzipiell beschränkt ist und meist nur wenige Bereiche der ärztlichen Behandlungstätigkeit gemessen werden, führen die Messungen möglicherweise zu Qualitätsverschlechterungen in Bereichen, welche gleiche oder gar grössere Bedeutung haben. Wird Qualität in der Gesundheitsversorgung mehr und mehr über mess- und zählbare Aktivitäten definiert, so werden Interventionen zur Qualitätsverbesserung von der ärztlichen Profession losgelöst und zu einer Managementaufgabe erklärt. Ärzte befürchten daher, dass ihre Profession an Autorität verliert und dass in der Folge die Professionalität ihres Handelns abnimmt. Vereinfacht bedeutet professionelles ärztliches Handeln wohl, dass der Arzt die Interessen des Patienten vor seine eigenen stellt. Verstehen Leistungserbringer Qualitätsmanagement als Mikromanagement, welches sie primär dazu zwingen soll, extern auferlegten Anforderungen zu genügen und nicht die Versorgung zu verbessern, so dürfte die Professionalität ihres Handelns zu leiden beginnen. Wenn unge-
eignete Qualitätsmessungssets imple-
mentiert werden, werden Leistungser-
bringer, die nicht auf die Messungen
fokussieren, sondern auf Professiona-
lität Wert legen, bei den Benotungen
schlechter abschneiden.
Wie eine Organisation bei Qualitäts-
messungsprogrammen abschneidet,
hängt schliesslich auch davon ab,
wie sie organisiert ist. Prinzipiell ist
zu berücksichtigen, dass bestimmte
Organisationstypen der Versorgung
von bestimmten Qualitätsmessungs-
arten favorisiert werden (was selten
beabsichtigt wird).
Die genannten unbeabsichtigten Ef-
fekte von Qualitätsmessungen sind
kein Grund, ganz auf sie zu verzich-
ten. Allerdings müssen bei der Inter-
pretation der Messergebnisse die
folgenden Aspekte berücksichtigt wer-
den:
■ Gute Scores bei Qualitätsmessun-
gen dürfen nicht mit guter Qualität
verwechselt werden. Die meisten
Qualitätsaspekte werden nicht (und
wahrscheinlich auch künftig nie) ge-
messen; viele lassen sich auch gar
nicht messen. Entscheidend bleibt
die Gesamtqualität des Einzelnen
beziehungsweise der einzelnen Ver-
sorgungseinheit/Nonprofit-Organisa-
tion (z.B. Spital), die wesentlich
auch auf der Professionskultur des
einzelnen Leistungserbringers und
der Institution basiert.
■ Es ist wichtig, nicht beabsichtigte
Effekte von Qualitätsmessungen zu
identifizieren und zu minimieren.
Die Qualitätsbeurteilung darf nicht
allein auf Messergebnissen basieren,
sondern muss auch die nicht gemes-
senen Bereiche einbeziehen.
■ Es bleibt zu erforschen, wie die
ärztliche Professionskultur durch
Qualitätsmessungen beeinflusst wird
und welche Abhängigkeit besteht
zwischen Qualitätsmessungsansätzen
und der Organisationsform der Leis-
tungserbringer (z. B. Chefarztsystem
vs. Belegarztsystem).
■
Autor:
Dr. med. Guido Schüpfer, MBA HSG
Leitender Arzt Anästhesie Stabschef Ärztliche Direktion
Kantonsspital Luzern 6001 Luzern
E-Mail: guido.schuepfer@ksl.ch
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