Transkript
Schwerpunkt
Pro und Contra Tonsillektomie
Wann ist sie indiziert und wann nicht?
Foto: RBO
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Das Thema (Adeno-)Tonsillektomie sorgt nach wie vor für Diskussionen in der pädiatrischen Praxis: Sollen die Mandeln entfernt werden oder nicht? Was bringt die Operation und welche Risiken geht man dabei ein? Prof. Nicolas Gürtler und Dr. med. Hélène Cao Van präsentierten die Vor- und Nachteile des Eingriffs in einer Pro-und Contra-Session am Jahreskongress von pädiatrie schweiz.
Vor einigen Jahrzehnten war die (Adeno-)Tonsillektomie fast so etwas wie ein Routineeingriff, wenn Kinder schnarchten oder ständig unter Halsentzündungen litten. Doch seit mehr als 10 Jahren wird diskutiert, ob die Operation tatsächlich so notwendig und nützlich ist, wie man in früheren Zeiten annahm. Es geht dabei im Wesentlichen um zwei Indikationen: das obstruktive Schlafapnoesyndrom (OSAS) und rezidivierende Tonsillitiden. Weitere Indikationen für die Operation sind eine Tonsillenhyperplasie mit Atem- oder Schluckbehinderung, der Peritonsillarabszess und (selten) maligne Prozesse. Wenn es um OSAS oder rezidivierende Tonsillitiden geht, scheinen Schweizer Pädiater mit der Indikationsstellung für die Operation im Allgemeinen eher zurückhaltend zu sein. Zumindest stimmte an der Pro-und-Contra-Session eine grosse Mehrheit der Anwesenden im Auditorium gegen die Operation und für eine abwartende, konservative Therapiestrategie, als sie anhand von typischen Fällen aus der Praxis um ihre Meinung gefragt wurden.
Adenotonsillektomie bei OSAS
Bei Kindern mit OSAS gebe es gute Argumente für die Adenotonsillektomie, sagte Prof. Nicolas Gürtler, Universitätsspital Basel und Leiter der pädiatrischen ORL am Universitätskinderspital beider Basel (UKBB). So berichteten die Eltern über einen Rückgang oder das völlige Verschwinden der Symptome sowie eine verbesserte Lebensqualität und ein verändertes Verhalten der Kinder. Der positive Effekt der Operation sei auch in der Polysomnografie (PSG) nachweisbar, ergänzte der Referent. Selbstverständlich könne man nicht jedes Kind zur PSG schicken, aber in der Praxis seien bereits Handy-Aufnahmen für die ORL-Spezialisten nützlich. «Man sieht damit schon sehr viel, und das ist hilfreich bei der Beurteilung», sagte Gürtler. Prinzipiell immer zur PSG solle man Kinder < 2 Jahren und Kinder mit Adipositas, Down-Syndrom, kraniofazialen Problemen, neuromuskulären Störungen, Sichelzellanämie oder zystischer Fibrose schicken, fügte er hinzu. In diesem Punkt war sich Gürtler für einmal mit Dr. Hélène Cao Van, Leiterin der Abteilung für pädiatrische ORL und Pädaudiologie, Hôpitaux Universitaires de Genève, einig, die im Sinn der Contra-Position argumentierte.
Ein Contra-Argument ist der zweifelhafte Erfolg der Adenotonsillektomie bei OSAS in Studien. Cao Van berichtete über einen Cochrane-Review (1), wonach die drei verfügbaren Studien widersprüchliche Ergebnisse lieferten. So dokumentierte eine Studie aus dem Jahr 2013 bei den Operierten von einer besseren Lebensqualität nach 7 Monaten sowie von einem höheren Anteil an Kindern mit einem normalisierten Schlaf. In einer früher publizierten Studie kam man hingegen zu dem Schluss, dass die Schlafqualität nach 6 Monaten bei beiden Gruppen gleich gewesen sei. Die Autoren der dritten Studie verglichen Adenotonsillektomie mit CPAP bei Kindern mit Down-Syndrom oder Mukopolysaccharidose und fanden keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Lebensqualität nach 12 Monaten sowie eine vergleichbare Schlafqualität in beiden Gruppen (1). Die Referentin wies zudem auf eine Reihe von Fallstricken hin, die im Zusammenhang einer Adenotonsillektomie wegen OSAS zu bedenken seien: Handelt es sich möglicherweise um Schnarchen ohne Apnoen? Könnte es eine transiente Situation sein, bei der man 6 bis 12 Monate abwarten kann? Was spricht für eine spontane günstige Entwicklung? Gibt es andere Ursachen für die Obstruktion der oberen Luftwege? Gemäss Guidelines aus Frankreich und den USA sind folgende Kriterien im Zusammenhang mit der Adenotonsillektomie bei OSAS wichtig: • Einfaches Schnarchen ist keine Indikation für eine Ade-
notonsillektomie. • Die Indikation für eine Operation ist bei Kindern ohne
Komorbidität gegeben, wenn Atmungsstörungen am Tag oder in der Nacht mit einer Hypertrophie der Gaumen- und Rachenmandeln (Brodsky-Stadien 3 oder 4) assoziiert sind sowie bei weniger stark vergrösserten Mandeln, wenn es sich um einen engen Pharynx handelt. • Gibt es Komorbiditäten, die sich durch die OP ver bessern könnten, wie zum Beispiel Wachstumsverzögerung, Probleme in der Schule, Enuresis, Asthma oder Verhaltensstörungen?
Tonsillektomie bei rezidivierenden Halsentzündungen
Etwas schwieriger als bei OSAS sei das Stellen der Operationsindikation bei rezidivierenden Tonsillitiden, sagte
Prof. Nicolas Gürtler Dr. med. Hélène Cao Van
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Gürtler. Es sei immer ein individueller Entscheid. In Erwägung ziehen sollte man die Tonsillektomie gemäss den sogenannten Paradise-Kriterien (nach dem Erstautor der entsprechenden Studien) bei • > 3 Angina-Episoden pro Jahr seit 3 Jahren • > 5 Episoden pro Jahr seit 2 Jahren oder • > 7 Episoden pro Jahr. Nach Gürtlers Erfahrung seien die meisten Eltern mit der Operation zufrieden. In einer in Basel durchgeführten Umfrage betrug deren Anteil 75 Prozent; 8 Prozent waren unzufrieden und 17 Prozent gaben kein Feedback. In der Literatur fänden sich mehr Studien, deren Resultate für die Tonsillektomie sprächen, argumentierte der Vertreter des Pro-Lagers weiter. Unter anderem sei in diesen Studien die Rede von zusätzlichen, aber kleinen Effekten auf die Frequenz von Halsentzündungen, von einer statistisch signifikanten Reduktion der Konsultationen wegen Angina innert 6 Jahren Follow-up und von einer Verminderung von bis zu 8 Angina-Episoden innert 2 Jahren. Genauer ging Gürtler auf einen Cochrane-Review aus dem Jahr 2014 ein (2). Hier sei deutlich zu erkennen gewesen, dass in fast allen Studien, die in diesen Review einbezogen wurden, die Operation ein bisschen besser als die konservative Behandlung abschnitt. Darüber hinaus fehlten die Kinder seltener in der Schule, was ebenfalls ein nicht zu unterschätzender Vorteil sei. Auf denselben Cochrane-Review (2) bezog sich die Vertreterin des Contra-Lagers in ihrer Argumentation und betonte ein anderes Resultat, nämlich die Anzahl an Angina-Episoden im Follow-up. Man zählte bei den operierten Kindern in dem Jahr nach der Tonsillektomie 3 Halsweh-Episoden pro Jahr gegenüber 3,6 Episoden bei den konservativ behandelten Kindern, wobei 1 Episode bei den operierten Kindern auf die Operation selbst zurückzuführen ist. «Will man die Risiken einer Operation für einen derart überschaubaren Erfolg wirklich eingehen? Und korrigiert man möglicherweise ein Problem, um ein anderes zu bekommen?», sagte Cao Van. Zu den Risiken von Tonsillektomien beziehungsweise Adenotonsillektomien zählen die Vollnarkose mit Intubation, Schmerzen, primäre (0,2– 2%) und sekundäre (0,1–3%) Blutungen sowie ein zwar niedriges aber existentes Mortalitätsrisiko (1/50 000). Auch müsse man sich beim Checken der Paradise-Kriterien immer fragen, ob die Diagnose Angina wirklich korrekt und wie hoch die klinische Relevanz der Erkrankung tatsächlich sei. Und darüber hinaus sei zu bedenken, dass sich die Situation möglicherweise von selbst verbessern könne.
In der US-amerikanischen Guideline wird «watchful waiting» stark empfohlen, wenn die Kinder < 7 Episoden im letzten Jahr, < 5 Episoden pro Jahr in den letzten 2 Jahren und < 3 Episoden pro Jahr in den letzten 3 Jahren hatten. Die Operation ist hier eine Option, wenn nicht nur die oben oben genannten Paradise-Kriterien, sondern zusätzlich mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist: Fieber > 38,3 °C (101 °F), zervikale Adenopathie, tonsilläres Exsudat oder ein Nachweis A-beta-hämolytischer Streptokokken. Bei bestimmten Patientengruppen ist die Operation auch dann indiziert, wenn die genannten Kriterien nicht erfüllt sind, zum Beispiel bei Allergien oder Intoleranz gegen mehrere Antibiotika, bei PFAPA oder bei > 1 peritonsillärem Abszess in der Vorgeschichte. Auch die konservative Therapie bei Tonsillitiden habe Nachteile, argumentierte Gürtler. So gehörten Antibiotika 2009 zu denjenigen Medikamenten, die am häufigsten mit Nebenwirkungen bei Kindern assoziiert sind. Das sei durchaus problematisch, auch wenn man heutzutage sparsamer mit Antibiotika umginge als früher. Als weiteres Pro-Argument für die Operation führte Gürtler an, dass der Aspekt der Lebensqualität in den einschlägigen Studien vernachlässigt wurde, ebenso wie die Problematik häufiger Schulabsenzen, der Belastung der Familien und der Einschränkung sozialer Aktivitäten des Kindes. Zu guter Letzt wies Gürtler darauf hin, dass man heutzutage wesentlich schonender als früher operieren würde. So würde er bei einer OSAS heute meist keine Tonsillektomie mehr durchführen, sondern häufig eine Tonsillo tomie. Damit seien die Schmerzen deutlich geringer, ebenso das Nachblutungsrisiko. Das Auditorium blieb am Ende der Pro-und-Contra- Session trotzdem bei seiner eher ablehnenden Haltung gegenüber der (Adeno-)Tonsillektomie in den beiden exemplarisch ausgewählten Fällen.
Renate Bonifer
Dr. med. Hélène Cao Van und Prof. Nicolas Gürtler, Session: Adenotonsillektomie: umstritten oder doch nicht? Jahresversammlung pädiatrie schweiz am 16. Juni 2023 in Interlaken.
Literatur: 1. Venekamp RP et al.: Tonsillectomy or adenotonsillectomy versus non-surgical management for obstructive sleep-disordered breathing in children. Cochrane Database Syst Rev. 2015;2015(10):CD011165. 2. Burton MJ et al.: Tonsillectomy or adenotonsillectomy versus non-surgical treatment for chronic/recurrent acute tonsillitis. Cochrane Database Syst Rev. 2014; 2014(11):CD001802.
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