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SCHWERPUNKT
Wenn Kinder psychisch kranker Eltern Schutz brauchen
Kinder psychisch kranker Eltern sind manchmal besonders schutzbedürftig. Es braucht aber nicht für alle betroffenen Kinder eine Schutzmassnahme, welche von den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) angeordnet werden kann. Wann sind behördliche Kindesschutzmassnahmen angezeigt? Was bezwecken sie, und wie gestaltet sich die Schnittstelle zwischen Pädiatrie und Kindesschutzbehörden? Der vorliegende Artikel beleuchtet diese Fragen im Allgemeinen und im Hinblick auf Kinder psychisch kranker Eltern.
Von Christoph Heck und Michael Marugg
Das Kindeswohl ist ein bewusst unbestimmter Rechtsbegriff.
Kindesschutz ist ein Begriff, der im engen wie im weiten Sinne verstanden werden kann. In erster Linie sind es die Eltern, welche ihre Kinder umsorgen und erziehen und sie dabei in ihrer Entwicklung angemessen fördern und schützen. Im Bereich des Kindesschutzes betätigt sich auch die Lehrerin, die einen Bildungs- und teilweise einen Erziehungsauftrag wahrnimmt – im Prinzip auch der Detailhändler, wenn er alkoholische Getränke im Rahmen der gesetzlich zulässigen Altersgrenze verkauft. Somit sind es zahlreiche und unterschiedlichste Akteure, welche in irgendeiner Form mit Kindesschutz zu tun haben. Nicht zuletzt die einschlägigen Beratungsstellen und Institutionen, Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Pädiaterinnen und Pädiater. Die Kinder- und Jugendmedizin betätigt sich unweigerlich im engen wie auch im weiten Sinne im Bereich Kindesschutz. Dies nicht zuletzt aufgrund ihrer starken Betonung der Prävention. Entsprechend gibt es zwischen der Pädiatrie und den Institutionen und Behörden im Kindesschutz eine wichtige Schnittmenge.
kretisiert werden. Das Kindeswohl umfasst alle Aspekte der Persönlichkeit von Minderjährigen: die körperlichen, sozialen, emotionalen, kognitiven und rechtlichen. Dabei gilt der Grundsatz, dass das Kindeswohl dann gewährleistet ist, wenn die Grundbedürfnisse von Kindern befriedigt und die Grundrechte gesichert sind. Ein am Kindeswohl ausgerichtetes Handeln orientiert sich an diesen Aspekten und wählt die am meisten dienliche und am wenigsten schädliche Handlungsoption (1). Das bedeutet, dass zivilrechtliche Kindesschutzmassnahmen häufig nicht den optimalen Schutz, die optimale Förderung oder das optimale Wohlergehen eines Kindes gewährleisten können. Sie haben aber den Wirkungsanspruch, den unter den gegebenen Umständen bestmöglichen Schutz und die bestmögliche Förderung zu gewährleisten. Primärer Wirkungsanspruch aller zivilrechtlicher Kindesschutzmassnahmen ist es, einer Gefährdung Abhilfe zu schaffen und Schutz sicherzustellen. Die Förderung des Kindeswohls ist ein weiterer Wirkungsanspruch, jedoch der Gewährleistung des Schutzes nachrangig (Abbildung 1).
Zivilrechtlicher Kindesschutz und Kindeswohl
Der zivilrechtliche Kindesschutz kommt dann zum Zug, wenn ein Kind in seiner gesunden Entwicklung akut oder latent gefährdet ist und die Eltern von sich aus nicht in der Lage sind, Abhilfe zu schaffen. Somit stellt sich die Frage, wann ein Kind gefährdet ist beziehungsweise was das Wohl des Kindes ausmacht. Das Kindeswohl ist ein bewusst unbestimmter Rechtsbegriff. Es ist ein Grundsatz für die Ausgestaltung und Anwendung des Rechts, für die Ausübung der elterlichen Sorge und das Handeln von Fachpersonen, Institutionen und Behörden gegenüber Kindern und Jugendlichen und muss im Einzelfall kon-
Juristische Grundlagen
Kindesschutz soll rasch, nachhaltig und fachlich korrekt, doch mit minimalen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte und Familienstruktur der konkreten Gefährdungslage begegnen (2). Im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) ist das Kindesrecht (3) in den Artikeln 252 bis 327c geregelt. Die wesentlichen zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen, welche eine KESB oder ein Gericht anordnen können, bilden die Artikel 306 ff. Eine Vertretungsbeistandschaft nach Artikel 306 ZGB beispielsweise ist für das Kind dann erforderlich, wenn die Eltern am Handeln verhindert sind oder in einer Angelegenheit Interessen haben, die denen des Kindes widersprechen beziehungs-
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Abbildung 1: Wirkungsanspruch zivilrechtlicher Kindesschutzmassnahmen: Primär geht es um die Kindeswohlsicherung (Quelle: Amt für Jugend und Berufsberatung Kanton Zürich: kjzPortfolio 2014).
Abbildung 2: Die wesentlichen zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen
weise zu einer Interessenskollision führen. So zum Beispiel im Rahmen eines Strafverfahrens gegen die Eltern, bei denen das Kind geschädigt ist, oder gegebenenfalls in einer Erbschaftsangelegenheit. Eine Beistandschaft zur Beratung und Unterstützung (Art. 308 Abs. 1 ZGB), welche auch die Kontrolle der Erziehungstätigkeit der Eltern umfasst, ist eine weitere Möglichkeit einer angeordneten Kindesschutzmassnahme. Die Behörde kann der Beistandsperson punktuell Befugnisse erteilen (Art. 308 Abs. 2 ZGB) und falls nötig die elterliche Sorge in diesen Punkten einschränken (Art. 308 Abs. 3 ZGB). Beispiele eines Auftrags beziehungsweise expliziter Befugnisse an die Beistandsperson können sein: • die Anmeldung des Kindes beim Schulpsychologi-
schen Dienst zur Abklärung einer allfällligen Sonderschulbedürftigkeit; • die Anmeldung des Kindes bei der Kinderärztin zur Abklärung des Gesundheitszustandes; • die Anmeldung des Kindes bei einem Psychotherapeuten im Hinblick auf die Belastungsstörungen des Kindes aufgrund der Suchtproblematik der Eltern. Eine Beistandschaft kann auch zur Überwachung einer angeordneten Besuchsrechtsregelung bei getrennt lebenden Eltern erforderlich sein (Art. 308 Abs. 2 ZGB). Ein erheblicher Eingriff in die elterliche Sorge ist der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts (früher Obhutsentzug, Art. 310 ZGB). Dabei geht das Recht der Eltern, über den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen, an die Behörde über, welche das Kind an einem geeigneten Ort – in einer Pflegefamilie oder in einer Institution – unterbringt. Dieser starke Eingriff bedingt, dass eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls beim Verbleib des Kindes bei den Eltern vorliegen muss. Dabei gilt es abzuwägen, ob der Verbleib in einem dysfunktionalen System oder die Platzierung mit der Folge der Entwurzelung das kleinere Übel ist. Längst nicht jede Platzierung in einer Pflegefamilie oder in einem Heim wird behördlich angeordnet. Viele Platzierungen erfolgen auf Wunsch der Eltern und Kinder beziehungsweise Jugendlichen. Platzierungen in Schulheimen setzen eine Sonderschulbedürftigkeit voraus, für deren Abklärung die Schulbehörden zuständig sind.
Der Entzug der elterlichen Sorge (Art. 311 f. ZGB) ist ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von Eltern. Ist ein solcher Eingriff erforderlich, geht in der Rechtsfolge die Errichtung einer Vormundschaft für das Kind einher. Dieser Eingriff ist selten, weil zur Behebung einer entsprechenden Kindeswohlgefährdung meist der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts (Art. 310 ZGB) und weitere spezifische Massnahmen nach Art. 308 ZGB ausreichen. Massnahmen des zivilrechtlichen Kindes- und Erwachsenenschutzes dürfen nur angeordnet werden, wenn nicht andere Mittel ebenso geeignet sind, den Schutz zu gewährleisten. Private Lösungen beziehungsweise freiwillige Unterstützungsleistungen haben Vorrang. Der staatliche Eingriff soll nur dort stattfinden, wo diese privaten Lösungen nicht bestehen oder ausreichen oder von vornherein als ungenügend erscheinen. Nur dann können behördliche Massnahmen angeordnet werden (Art. 307 ff.) (4). Kindesschutzmassnahmen müssen daher verhältnismässig sein, das heisst, eine behördliche Massnahme, zum Beispiel eine Beistandschaft für das Kind, muss im konkreten Fall: • geeignet (zwecktauglich); • erforderlich (keine mildere Massnahme zwecktaug-
lich) und • zumutbar (angemessenes Verhältnis von Eingriffs-
zweck und Eingriffswirkung) sein.
Kindeswohlgefährdung bei Kindern psychisch kranker Eltern
Für Kinder psychisch kranker Eltern besteht der Leidensdruck häufig darin, dass sie das Verhalten ihrer erkrankten Eltern oder des erkrankten Elternteils nicht einordnen können. Das Alter des Kindes und die vorhandene oder nicht vorhandene Krankheitseinsicht der Eltern wie auch deren Behandlungsbereitschaft und der Behandlungserfolg sind wesentliche Einflussfaktoren hinsichtlich des Wohlergehens beziehungsweise des Ausmasses der Gefährdung betroffener Kinder. Sie leiden beispielsweise unter der Symptomatik ihrer an schwerer Depression erkrankten alleinerziehenden
Längst nicht jede Platzierung wird behördlich angeordnet, oft erfolgt sie auf Wunsch der Eltern und Kinder.
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Private Lösungen haben Vorrang.
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Mutter und verstehen die Ursachen für ihr Verhalten nicht, weil bisher niemand mit ihnen darüber gesprochen beziehungsweise sie darüber aufgeklärt hat. Ähnlich die Kinder eines an einer Schizophrenie erkrankten Vaters, der die Familienangehörigen in sein Wahnsystem integriert und dabei Frau und Kinder überwacht und gar körperlich angreift. Die Beispiele sind so zahlreich wie die Arten psychischer Erkrankungen. Von Bedeutung ist auch, ab welchem Alter und wie lange Kinder solchen Belastungen ausgesetzt sind. Die psychische Erkrankung von Eltern kann das frühkindliche Bindungsverhalten massgeblich und nachhaltig negativ beeinflussen, wobei eine frühkindliche Bindungsstörung, wie zum Beispiel unsicher-vermeidendes Bindungsverhalten, nicht zwangsläufig beim betroffenen Kind zu einer psychischen Störung führen muss. Vor diesem Hintergrund ist die allfällige Kindeswohlgefährdung im konkreten Einzelfall zu beurteilen. Mit einer Situationsanalyse müssen entwicklungsfördernde und -hemmende Faktoren identifiziert und beurteilt werden, um die Art und das Ausmass einer allfälligen Kindeswohlgefährdung einschätzen zu können. In der Folge gilt es, geeignete Massnahmen zu finden und diese auf ihre Zweckmässigkeit zu prüfen. Manchmal sind freiwillige Hilfsangebote ausreichend. Manchmal braucht es behördliche Anordnungen.
Fallbeispiel
Ein exemplarisches Beispiel ist die Situation eines 10-jährigen Mädchens, dessen alleinerziehende Mutter an einer Persönlichkeitsstörung mit Alkoholabusus leidet. Seit Jahren ist die Mutter teilweise für Monate in der psychiatrischen Klinik. Dieser Zustand besteht, seit das Kind 6 Jahre alt ist. Während einer ersten Akutsituation mit Hospitalisierung der Mutter konnte das Mädchen damals vorübergehend bei Nachbarn wohnen und die angestammte Schule weiterhin besuchen. Die Behörde wurde auf Meldung der Klinik auf die Situation der Familie aufmerksam und klärte die Situation eingehend ab. Die Gefährdung für das Kind bestand darin, dass die Mutter aufgrund ihrer Erkrankung ihr Kind erheblich vernachlässigte. Sie liebte ihre Tochter zwar und war stolz auf sie, vermochte jedoch zunehmend nicht, die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren, geschweige denn dem Kind ein angemessenes und förderliches Umfeld zu bieten. Verkompliziert wurde dieser Umstand durch die wiederholten und teilweise länger dauernden Aufenthalte der Mutter in der psychiatrischen Klinik. Die Kindesschutzbehörde ordnete daher eine Beistandschaft für das Kind an, welche die Mutter in ihrer Sorge um das Kind unterstützt und das Wohl des Kindes gewährleistet. Im Rahmen der Abklärungen zeigte sich, dass die Nachbarn gewillt und geeignet waren, das Mädchen auch längerfristig bei sich aufzunehmen. Seither lebt das Mädchen in der Nachbarsfamilie als Pflegekind und macht tageweise Besuche bei der Mutter. Diese Platzierung fand im Einvernehmen aller Beteiligten statt. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter musste deshalb nicht
entzogen werden. Die Beistandsperson erhielt den Auftrag, das Pflegeverhältnis zu begleiten. Im Rahmen der Mandatsführung erstattet die Beistandsperson der Behörde so oft als nötig, mindestens aber alle zwei Jahre Bericht und beantragt gegebenenfalls die Anpassung der Massnahme. Mit dieser individuellen Massnahme konnte der Schutz für das Kind sichergestellt werden. Mit der Platzierung und der Begleitung durch die Beistandsperson wird das Wohl des Kindes nicht nur gesichert, sondern darüber hinaus gefördert. Im konkreten Fall ist die Mutter weitgehend krankheitseinsichtig und kooperationsbereit. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, dass die freiwillige und die behördliche Unterstützungsmassnahme zum Wohle des Kindes Wirkung entfalten.
Was ist Aufgabe der KESB?
Wie die oben stehenden Ausführungen zeigen, ist die KESB die abklärende und anordnende Behörde. Sie entscheidet über die Anordnungen zivilrechtlicher Kindes- oder Erwachsenenschutzmassnahmen, sobald der Sachverhalt ausreichend klar ist. Sie klärt als Fachbehörde den Sachverhalt selber ab oder kann damit Fachstellen oder Fachpersonen beauftragen. Die KESB ist weder Beratungs- noch Schlichtungsstelle. Hierfür gibt es je nach Kanton unterschiedliche Angebote in der Kinder- und Jugendhilfe. Bis 2012 gab es in der Schweiz über 1400 Vormundschaftsbehörden. Mit der grundlegenden Revision des zum Teil hundert Jahre alten Vormundschaftsrechts hin zu einem zeitgemässen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht wurde auch die Behördenorganisation erneuert. Aufgrund der zunehmenden Komplexität und der Erweiterung der behördlichen Aufgaben wurde das Milizbehördensystem abgelöst. Seit 2013 gibt es in der Schweiz knapp 150 Kindesund Erwachsenenschutzbehörden. Diese sind je nach Kanton als Verwaltungsbehörde oder als Gericht organisiert. Die KESB sind in jedem Fall Fachbehörden und fällen ihre Entscheide mit mindestens drei Mitgliedern. Die am Entscheid beteiligten Mitglieder der Behörde gehören unterschiedlichen Professionen an. In vielen Kantonen müssen gemäss den gesetzlichen Bestimmungen die Disziplinen Recht und Soziale Arbeit zwingend vertreten sein. Fachwissen aus den Bezugsdisziplinen Pädagogik, Psychologie, Treuhand, Sozialversicherungsrecht, Vermögensverwaltung und Medizin kann von internen oder externen Stellen beigezogen werden. Die KESB klärt aufgrund einer Gefährdungsmeldung oder von Amtes wegen die Situation ab. Sie macht dies aufgrund ihres gesetzlichen Auftrags im Rahmen eines rechtmässigen Verfahrens. Die betroffenen Eltern und das Kind werden dabei persönlich und altersgerecht angehört. Die am Verfahren beteiligten Personen und Dritte sind zur Mitwirkung verpflichtet (Art. 448 ZGB und, als Korrelat, Art. 443 ZGB). Das Verfahren endet mit einem Entscheid, der bei der nächsthöheren gerichtlichen Instanz angefochten werden kann. Ordnet eine KESB oder ein Gericht zivilrechtliche Kindesschutzmassnahmen an, dann beauftragt die Be-
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hörde eine geeignete Person, welche die Kindesschutzmassnahme umsetzt. Die Mandate werden durch berufliche oder private Beistandspersonen geführt. Die beruflichen Beistandspersonen gehören einer von der KESB unabhängigen Berufsbeistandschaft an.
Wie wird ein Verfahren bei der KESB ausgelöst?
Häufig sind es Gefährdungsmeldungen aus Krippe, Hort, Kindergarten und Schule, welche bei der KESB ein Verfahren zur Prüfung allfälliger Kindesschutzmassnahmen auslösen. Meldungen erstatten aber auch Personen aus dem familiären Umfeld, die Eltern selber oder die Polizei, zum Beispiel nach einem Vorfall häuslicher Gewalt. Artikel 443 Abs. 1 ZGB enthält eine denkbar weite Umschreibung des Melderechts, allerdings sind auch Ausnahmen zu beachten. Kein Melderecht haben grundsätzlich Personen, die einem Berufsgeheimnis im Sinne von Art. 321 StGB unterstehen. Zu diesem Personenkreis zählen auch Pädiaterinnen und Pädiater. Bevor sie an die KESB gelangen, müssen sie entweder die Einwilligung der Eltern beziehungsweise des urteilsfähigen Kindes einholen oder sich von der zuständigen Stelle vom Berufsgeheimnis entbinden lassen. Zu dieser Grundsatzregelung gibt es wiederum gesetzlich vorgesehene Ausnahmen. So haben Berufsgeheimnisträger aufgrund von Art. 364 StGB ein Melderecht an die KESB, wenn an einem minderjährigen Kind eine strafbare Handlung begangen wurde. Dabei genügt es, dass die meldepflichtige Person ernsthaften Anlass hat, von einer strafbaren Handlung auszugehen. Einzelne Kantone haben zudem für gewisse Berufsgruppen (z.B. für Ärzte und Ärztinnen) kantonalrechtlich eine generelle Meldepflicht eingeführt. Solche Regelungen sind zulässig und erlauben eine Gefährdungsmeldung an die KESB ohne Entbindung vom Berufsgeheimnis. Das Regelungsgeflecht der Melderechte und -pflichten ist im geltenden Recht unübersichtlich und unbefriedigend. Deshalb hat der Bundesrat dem Parlament kürzlich eine Revision der Bestimmungen über die Melderechte und Meldepflichten im Kindesschutz unterbreitet. Danach soll die Meldepflicht generell auf Fachpersonen erweitert werden, die beruflich regelmässig Kontakt zu Kindern haben. Der Entwurf sieht auch Änderungen vor, die Trägerinnen und Träger eines Berufsgeheimnisses betreffen. Diese sollen neu
ein Melderecht erhalten. Damit können sie – müssen aber nicht – der KESB eine Gefährdungsmeldung einreichen, ohne die Zustimmung der betroffenen Personen einzuholen oder sich vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen. Sie sollen auch das Recht, nicht aber die Pflicht, erhalten, am Verfahren der KESB mitzuwirken und der Behörde abklärungsrelevante Information preiszugeben*. Ein Melderecht entbindet nicht von einer Interessensund Rechtsgüterabwägung im Einzelfall und eine Meldepflicht nicht von der Einschätzung, ob eine Schutzbedürftigkeit plausibel ist. Die KESB muss dann abklären, ob sich der begründete Anschein einer relevanten Gefährdung des Kindeswohls erhärtet oder nicht. Für eine sachrichtige Erstbeurteilung ist die Behörde auf möglichst zweckdienliche Informationen angewiesen. Es empfiehlt sich deshalb, die auf vielen KESB-Websites zugänglichen Formulare für die Gefährdungsmedlung zu verwenden. Wer eine Gefährdungsmeldung erstattet, wird nicht zu einer am Verfahren beteiligten Person und über den Verlauf des Verfahrens grundsätzlich nicht informiert. Gefährdungsmeldungen werden Bestandteil der Verfahrensakten, die von den betroffenen Personen eingesehen werden können. Die Identität der meldenden Person und der Inhalt der Meldung können nur aus besonderen Gründen und in der Regel zulasten der Abklärungsqualität nicht offengelegt werden.
Korrespondenzadresse: Christoph Heck Vizepräsident KESB Winterthur-Andelfingen Bahnhofplatz 17 8403 Winterthur E-Mail: christoph.heck@win.ch
Dr. iur. Michael Marugg ist Leiter Rechtsdienst der KESB Winterthur-Andelfingen.
Quellenverweise und Anmerkungen: 1. BK ZGB/Hegnauer Art. 264 und Maywald Jörg in Referat Jahresbericht MMI 2007. 2. BK-ZGB Art. 307 N4. 3. Das Erwachsenenschutzrecht ist in den Art. 360 bis 456 ZGB geregelt. Die Arten der Beistandschaft für Erwachsene sind in den Art. 393 bis 398 ZGB geregelt. 4. Rosch D, Fountoulakis C, Heck C (Hrsg.): Handbuch Kindes- und Erwachsenenschutz. Haupt-Verlag, 2016.
*Der Nationalrat ist am 26. April 2016 auf die Vorlage nicht eingetreten. Das Geschäft ging zurück an den Ständerat.
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