Transkript
SCHWERPUNKT
Bindung zwischen Eltern und Kind
Förderung der Entwicklung einer sicheren Bindung mit dem SAFE®-Programm
Die Bindungsentwicklung ist bei Kindern psychisch kranker Eltern gefährdet. Unabhängig von der Diagnose einer psychiatrischen Erkrankung ist das Vorliegen einer traumatischen Erfahrung bei der Mutter ein weiterer wichtiger Risikofaktor in der Entwicklung einer gesunden und sicheren Eltern-Kind-Beziehung. Durch die Begleitung mit dem SAFE®-Programm kann die Kapazität und Fähigkeit der werdenden Eltern gestärkt werden, eine sichere Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen und diesem Sicherheit und Schutz zu bieten.
Von Karl Heinz Brisch, Swinde Landers, Brigitte Forstner, Alena Beck und Julia Quehenberger
Schutz und Sicherheit sowie Erkunden und Lernen sind evolutionäre Grundbedürfnisse eines jeden Neugeborenen, die für das Überleben notwendig sind (1). Die erste zwischenmenschliche Beziehung des Neugeborenen zu einer Bezugsperson (sei es Mutter, Vater oder eine andere primäre Fürsorgeperson) beeinflusst die Entwicklung bestimmter Verhaltensmuster und schliesslich innerer Modelle und Vorstellungen über das Funktionieren von und die Erwartungen an zwischenmenschliche Beziehungen (1, 2). Eine sichere Bindung heisst, dass ein Kind durch feinfühlige Interaktionserfahrungen mit seinen Eltern gelernt hat, dass diese ihm bei Angst und Gefahr Schutz bieten und ihm helfen, seine Affekte zu regulieren. Wenn das Kind Angst hat, nehmen sie es auf den Arm und trösten es. Sobald es sich wieder beruhigt hat, kann es wieder spielen und die Welt erkunden. Angst aktiviert das Bindungssystem, das heisst, das Kind sucht die Nähe seiner primären Bindungsperson, und das Explorationssystem wird gehemmt und erst wieder aktiviert, wenn eine Beruhigung durch die Bezugsperson erreicht ist. Wenn sich Kinder nicht sicher sein können, ob und dass sie sich auf ihre Bindungspersonen verlassen können, können sie nicht wie ein sicher gebundenes Kind die Welt um sich herum erkunden. Neben der sicheren Bindung eines Kleinkindes zu seiner Bezugsperson werden auch andere Verhaltensmuster des Kleinkinds beobachtet, die mit einer ablehnenden, inkonsistenten oder beängstigenden Reaktion der Bezugsperson auf kindliche Bindungssignale assoziiert sind. Dies sind die unsicher-vermeidende, unsicher-ambivalente und desorganisierte Bindung. Man geht davon aus, dass die unsichere und besonders die desorganisierte Bindung ein Vulnerabilitätsfaktor und die sichere Bindung ein Schutz-
faktor für die emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern ist (3).
Besondere Vulnerabilität der Kinder psychisch kranker Eltern
Schwangerschaft und Geburt eines Kindes sind kritische Lebensereignisse für die Eltern, durch die vermehrt Unsicherheiten, Ängste und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Beziehungsgeschichte auftreten können. Diese Übergangsphase zeichnet sich durch ein erhöhtes Auftreten psychischer Probleme wie prä- und postnataler Depressionen, Angststörungen und/oder in Einzelfällen psychotischer Erkrankungsbilder aus (4). Eine bereits bestehende psychische Erkrankung in der Vergangenheit erhöht die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Belastung postnatal (5). Die Forschung zeigt, dass die Bindungsentwicklung bei Kindern psychisch kranker Eltern gefährdet ist. Beispielsweise sind Kinder von Müttern, die seit der Geburt des Kindes an einer diagnostizierten Depression erkrankten, deutlich seltener sicher und häufiger desorganisiert gebunden als Kinder von Vergleichsgruppen (6–8). Deneke und Lüders (9) sowie Mattejat und Remschmidt (10) beschreiben in Literaturübersichten die bisher in der Forschung gefundenen Besonderheiten in der Interaktion von Eltern mit psychischen Erkrankungen und ihren Säuglingen und Kleinkindern. Der Grad der Beeinträchtigung der Interaktionsqualität von Mutter-Kind-Dyaden ist dabei abhängig von der Art der psychischen Erkrankung der Mutter: Die Interaktion mit dem Kleinkind ist bei Müttern mit unipolaren affektiven Erkrankungen am wenigsten beeinträchtigt, bei bipolaren affektiven Erkrankungen stärker und bei Müttern mit einem psychotischen Krankheitsbild am stärksten (12). In Studien zu verschiedenen Störungsbildern wird meist
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Die erste zwischenmenschliche Beziehung eines Kindes beeinflusst spätere Verhaltensmuster und Vorstellungen über das Funktionieren von Bindungen.
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Abbildung: Exemplarischer Ablauf des SAFE®-Programms
Kasten 1: SAFE®-Mentorentraining
Das SAFE®-Mentorentraining steht Ärztinnen und Ärzten (Gynäkologie, Pädiatrie, Psychiatrie), Kinderkrankenschwestern und -pflegern, Hebammen sowie Fachleuten mit einem Abschluss in Psychologie, Pädagogik oder Sozialpädagogik offen, die im Bereich der frühen Hilfen und in der Arbeit mit Eltern und deren Säuglingen erfahren sind. In einer viertägigen Weiterbildung am Dr. von Haunerschen Kinderspital erlernen sie die Durchführung des Präventionsprogramms und erhalten über den Kontakt zur Abteilung Pädiatrische Psychosomatik Hilfestellung bei der Organisation eines Kurses und Supervision in der Durchführung. Inzwischen nahmen zirka 4200 Fachkräfte an der Weiterbildung teil und bieten das SAFE®-Programm in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie auch in anderen Ländern an.
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von einer Beeinträchtigung der Fähigkeit der Mütter berichtet, die inneren Zustände des Kindes zu erkennen und feinfühlig auf diese zu reagieren, (13, 14). Die Bindungsentwicklung des Kindes im ersten Lebensjahr hängt jedoch stark mit der Qualität der Interaktion zwischen Mutter und Kind zusammen (11). Darüber hinaus berichten Reck, Noe et al. (15), dass depressive Mütter Diskrepanzen oder eine fehlende Anpassung zwischen sich und dem Kind schlecht korrigieren können und positive kongruente Momente weniger gut steuern können. Ausserdem haben Säuglinge depressiver Mütter mit vier Monaten weniger Blickkontakt in der Interaktion (16) und erfahren weniger positive Berührungen sowie emotionale und informative, verbale Kommunikation der Mutter (17). Das Abklingen der depressiven Symptomatik führt nicht unbedingt zu einer einfachen Auflösung der Probleme in der Interaktion zwischen Mutter und Kleinkind (6, 18). Unabhängig von der Diagnose einer psychiatrischen Erkrankung ist das Vorliegen einer traumatischen Erfahrung bei der Mutter ein weiterer wichtiger Risikofaktor in der Entwicklung einer gesunden und sicheren Eltern-Kind-Beziehung. Die Bindungsforschung hat gezeigt, dass erlebte Traumata der Eltern einen starken Einfluss auf die Entwicklung einer desorganisierten Bindung des Kindes haben (19). Das Muster der desorganisierten Bindung kommt besonders häufig bei Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen vor (20). Eine desorganisierte Bindungsbeziehung entwickeln Kinder in der frühen Kindheit, wenn die Bezugspersonen nicht integrierte Affekte und Kognitionen in die Interaktion mit ihrem Kind einbringen (21). Diese Kinder machen von Anfang an unvorhersehbare und widersprüchliche Erfahrungen: Manchmal werden sie getröstet, manchmal werden sie zurückgewiesen, wenn sie Signale des Nähe- und Trostsuchens zeigen. Zum Beispiel wird unvorhersehbar ihr Lächeln nicht erwidert, ihr Schreien versetzt den anderen in Wut, oder sie werden alleingelassen. Kinder, die sogar Angst vor ihren Bindungspersonen haben oder sich von ihnen bedroht fühlen, wenden sich in ihrer Angst dennoch an die Bindungsperson, weil sonst keine andere vertraute Person vorhanden ist. Somit haben sie weder einen sicheren emotionalen Hafen, noch können sie explorieren. Diese Kinder verhalten sich in Bindungssituationen «desorganisiert», laufen etwa auf die Mutter zu, erstarren, weichen wieder vor ihr zurück und finden oftmals keine beruhigende Strategie. Bei Kindern psychisch kranker Eltern ist die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer unsicheren oder desorganisierten Bindung zu den Eltern demnach erhöht. Damit ist eine höhere Vulnerabilität gegeben, dass die Kinder selbst später an einem psychischen Leiden erkranken (22). Es besteht daher die Notwendigkeit, gerade werdende Eltern, bei denen ein Elternteil an einer psychischen Erkrankung leidet, im Übergang zur Elternschaft im Sinne einer primären Prävention verstärkt zu unterstützen. Dies ist einerseits von Bedeutung, um eine Verschlechterung oder das erneute Auftreten der psychischen Erkrankung zu verhindern, und andererseits, um die Weitergabe traumatischer Erfahrungen
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zu unterbrechen, die der psychischen Erkrankung möglicherweise zugrunde liegen. Durch die Begleitung mit dem SAFE®-Programm kann die Kapazität und Fähigkeit der werdenden Eltern gestärkt werden, eine sichere Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen und diesem Sicherheit und Schutz zu bieten.
Ablauf des SAFE®-Programms
Das SAFE®-Programm ist ein bindungstheoretisch fundiertes Trainingsprogramm, das sich an alle werdenden Eltern richtet. Dieses Präventionsprogramm wurde von Karl Heinz Brisch entwickelt, um die aktuellen Erkenntnisse aus der Bindungsforschung in die primäre Prävention umzusetzen und interessierten Eltern zugänglich zu machen. Ziel ist die Förderung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung.
Schon während der Schwangerschaft (ca. ab der 22. Schwangerschaftswoche, wenn die werdenden Mütter bereits Kindsbewegungen spüren) werden Eltern für die Bedürfnisse des Säuglings und des Kleinkindes sensibilisiert, und ihre elterlichen Kompetenzen werden gestärkt. Gemeinsam mit der Begleitung während des ersten Lebensjahres des Kindes wird so eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind gefördert. Wenn das Kind geboren ist, bekommen beide Elternteile im geschützten Einzelkontakt mit einer SAFE®Mentorin (Kasten 1) die Möglichkeit eines SAFE®Videofeedbacks. Zudem steht die Prävention der Weitergabe traumatischer Erfahrungen der Eltern an ihre Kinder im Mittelpunkt. Viele Eltern haben in ihrer eigenen Lebensgeschichte belastende, unverarbeitete
Kasten 2: Module des SAFE®-Programms
Modul I: Pränatale Kurstage Das Programm umfasst vorgeburtlich vier ganztägige Theorie- und Praxisseminare. In einer festen Gruppe von zirka fünf bis acht Elternpaaren beziehungweise Alleinerziehenden, welche über den gesamten Zeitraum des Elternkurses bis zum Ende des ersten Lebensjahres oder auch darüber hinaus bestehen bleibt, werden Erkenntnisse über die Bedeutung von Gefühlen und Fantasien in der Schwangerschaft sowie die vorgeburtliche Bindungsentwicklung und Auswirkungen der Schwangerschaft auf die Paarbeziehung und den Übergang in die Elternschaft vermittelt. Darüber hinaus wird die Bindungsentwicklung des Säuglings zum zentralen Thema. Anhand von Videos zur Eltern-Kind-Interaktion lernen die Eltern, feinfühlig die Signale eines Babys zu lesen und diese richtig zu interpretieren sowie angemessene Antworten für die Signale zu finden (videogestütztes Feinfühligkeitstraining). Die Teilnehmer werden über Mechanismen der unbewussten Weitergabe eigener traumatischer Erfahrungen an ihr Kind und die Aufrechterhaltung oben genannter Teufelskreise aufgeklärt. Bei einem Einzeltermin werden das Erwachsenenbindungsinterview (Adult Attachment Interview; [24]) durchgeführt und Traumafragebögen ausgefüllt, um die Belastungen der Mütter und Väter mit eigenen traumatischen Erfahrungen kennenzulernen und adäquate weitere Unterstützung anzubieten. Alle Eltern erlernen im Kurs stabilisierende Imaginationsübungen aus der Psychotherapie (z.B. Übung des inneren sicheren Ortes nach Luise Reddemann; [25]), auf die sie bei Bedarf zurückgreifen können, um die eigenen Affekte besser regulieren zu können, wenn sie sich mit dem Kind überlastet fühlen.
Modul II: Postnatale Kurstage Nach der Geburt finden im Laufe des ersten Lebensjahres des Kindes weitere sechs Kurstage statt. Von zentraler Bedeutung sind dabei das Erlernen einer adäquaten, feinfühligen Reaktion auf die Signale des Kindes im Sinne der elterlichen Feinfühligkeit und der Umgang mit Regulationsschwierigkeiten (Schreien, Einschlafen, Essen u.a.). Zudem liegt der Fokus auf der Besprechung der Themen und Fragen, die die Eltern in den verschiedenen Phasen der kindlichen Entwicklung im ersten Lebensjahr in den Kurs einbringen. Als wichtig für die Kursteilnehmer erweist sich der Kontakt zu und der Austausch mit den anderen Eltern: Sie erfahren,
dass gewisse Anpassungsschwierigkeiten und -prozesse hinsichtlich der neuen Rolle ganz normal sind.
Modul III: Feinfühligkeitsfeedback Zusätzlich werden Einzeltermine mit den Müttern und den Vätern vereinbart, um mittels Videofeedback zu eigenen Wickel-, Fütter-, Spiel- und Grenzsetzungssituationen die elterliche Feinfühligkeit zu verbessern. So ist eine direkte und individuelle Rückmeldung möglich, die einerseits die elterlichen Kompetenzen und Ressourcen wertschätzt und verstärkt und andererseits darauf hinweist, wo Schwierigkeiten entstehen können. Diese Methode ist sehr gut geeignet, um zu verstehen, welche Signale des Babys die Eltern richtig wahrnehmen, auf welche Bedürfnisse sie feinfühlig reagieren und mit welchen sie sich schwertun. Momente der Interaktionen, die sich durch eine hohe Feinfühligkeit und eine emotionale Verbundenheit zwischen Kleinkind und Elternteil auszeichnen, werden durch den besonderen wertschätzenden Fokus auf diese Situationen verstärkt.
Modul IV: Hotline für Krisensituationen Über eine telefonische Hotline können Eltern während des gesamten Kurses und darüber hinaus bei ihren vertrauten SAFE®-Mentorinnen und -Mentoren Rat und Hilfe in akuten, schwierigen Situationen einholen.
Modul V: Vermittlung einer Traumatherapie Bei bestehenden, insbesondere interpersonellen unverarbeiteten Traumata in der Geschichte der Eltern wird zur Unterbrechung der intergenerationalen Transmission von traumatischen Erfahrungen das Angebot zur Vermittlung einer Traumatherapie gemacht. Eine individuelle traumazentrierte Psychotherapie wird von darin spezialisierten Psychotherapeuten angeboten, die durch das Netzwerk der SAFE®-Mentoren zur Verfügung stehen. Durch das SAFE®-Programm soll für die Möglichkeit einer Therapie und ihre unterstützende und positive Wirkung sensibilisiert werden. Es kann sein, dass Eltern bereits zu Beginn des Kurses offen sind für eine Therapie oder sich im Verlauf des SAFE®-Programms oder auch danach für den tatsächlichen Beginn einer Psychotherapie entscheiden. Denn für den Beginn einer Therapie ist es nie zu spät.
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Erlebnisse (wie z.B. Erfahrungen von plötzlichen Verlusten, emotionaler Vernachlässigung bis zu Gewalt in der Familie) erfahren, die sich auf die Beziehung zu ihrem Kind auswirken beziehungsweise unbewusst wiederholt werden können (23). Eltern, die Schwierigkeiten im Umgang mit starken Affekten, wie zum Beispiel Wut und Angst, haben, erschweren es dem Kind, einen guten Umgang mit seinen Gefühlen zu erlernen. Für viele vorbelastete Eltern, die selbst traumatisierenden Erfahrungen wie Gewalt oder Verwahrlosung ausgesetzt waren, kann schon das Schreien des Säuglings ein Trigger sein, der starke Affekte auslöst. Diese können häufig nicht mehr reguliert werden und dazu führen, dass die Eltern zum Beispiel ihren Säugling schütteln und damit lebensgefährliche Verletzungen hervorrufen. Aber auch später können diese Eltern die Erfahrungen, denen sie selbst ausgesetzt waren, mit ihren Kindern reinszenieren, das heisst unbewusst wiederholen, was sie selbst erlebt haben. Durch das SAFE®-Programm soll dieser Teufelskreis durchbrochen werden, indem frühzeitig interveniert wird und gegebenenfalls weitere Hilfestellungen in die Wege geleitet werden. Die Abbildung zeigt den Ablauf des Programms. In Kasten 2 werden die verschiedenen Module des Programms beschrieben.
Väter oder Freunde im SAFE®-Kurs
Ein wichtiger Aspekt des SAFE®-Programms ist die Teilnahme der Väter. Gerade wenn die werdende Mutter psychisch erkrankt ist, ist die Stärkung und Einbeziehung des Vaters oder derzeitigen Partners von grosser Bedeutung. Bei alleinerziehenden Müttern kann zusätzlich eine andere vertraute Person (z.B. eine gute Freundin, ein guter Freund, die Mutter …) mit zu den Kurstreffen gebracht und so das Unterstützungssystem der erkrankten Person gestärkt werden. Die Förderung einer weiteren, konstanten und stabilen Bezugsperson für das Neugeborene ermöglicht eine für den Säugling beziehungsweise das Kleinkind weniger stressvolle Trennung, sollte die Mutter aufgrund ihrer psychischen Erkrankung einen Klinikaufenthalt beginnen müssen, bei der das Kind nicht mit aufgenommen werden kann. Zudem kann durch die Stärkung des Unterstützungssystems – durch das SAFE®-Programm an sich und den Einbezug einer weiteren vertrauten Person – nach unserer bisherigen Erfahrung das Risiko für die Notwendigkeit eines Klinikaufenthalts reduziert werden (26). Der Übergang zur Elternschaft ist auch für die Partnerschaft eine grosse Herausforderung: Die Routinen und Gewohnheiten des «Wir zu zweit» müssen sich zum «Wir zu dritt» entwickeln und ständig neu justiert und angepasst werden. Für die Auseinandersetzung mit den Erwartungen und den bevorstehenden Veränderungen bietet das SAFE®-Programm Impulse, Unterstützung durch die SAFE®-Mentorinnen und bewusste Zeit. Auch nach der Geburt des Kindes bietet jeder Kurstag die Möglichkeit zu reflektieren, wie die gegenwärtige Beziehungskonstellation zwischen Mutter, Vater und Kind ist, wie es den Eltern selbst damit geht und welche Veränderungen sie sich möglicherweise wünschen.
Bedeutung des pränatalen Beginns des Programms
Ein Unterscheidungsmerkmal des SAFE®-Programms gegenüber anderen Programmen zur Unterstützung der kindlichen Entwicklung im ersten Lebensjahr ist der Beginn der Begleitung schon während der Schwangerschaft. Die Phase der Schwangerschaft ist sowohl für werdende Mütter als auch Väter eine Phase, in der eine Offenheit für Veränderung und Reflexion besteht. Diese Offenheit, die auch Unsicherheiten und Ängste umfassen kann, wird durch den pränatalen Beginn des Kurses unterstützt, und positive Veränderungsimpulse werden begleitet und verstärkt. Ausserdem besteht pränatal die Möglichkeit, die Paarbeziehung zu stärken und Ressourcen auszubauen im Umgang mit stressigen Situationen, die negative Gefühle auslösen. Diese inneren Kapazitäten zur Reflexion bestehen mit der Geburt des Kindes meist nicht mehr im gleichen Ausmass. Zudem können Ängste und Unsicherheiten der Mütter während der Schwangerschaft die Wahrscheinlichkeit für eine Frühgeburt des Kindes erhöhen (27, 28). Das SAFE®-Programm bietet hier die Möglichkeit einer Begleitung, die mit Entspannungsübungen und Unterstützung hilft, Ängste und Stress zu reduzieren. Aus diesem Grund ist die Vernetzung von Pädiatern mit Gynäkologen und Hebammen sowie Psychotherapeuten und Psychiatern, die die werdenden Eltern pränatal versorgen und beraten, wichtig, um Handlungsbedarf möglichst schon während der Schwangerschaft zu erkennen und Unterstützung, zum Beispiel in Form der Teilnahme an einem SAFE®-Kurs, anzubieten.
Möglichkeiten der postnatalen Förderung der Entwicklung einer sicheren Bindung
Sollte die Vermittlung eines SAFE®-Kurses während der Schwangerschaft nicht möglich gewesen sein, kann auch nach der Geburt des Kindes mit der Unterstützung begonnen werden. Kinderärzten obliegt die Aufgabe, das psychische Wohlbefinden der Mutter und des Vaters nach der Geburt des Kindes regelmässig abzuklären. Besonders wichtig ist dabei das frühzeitige Erkennen einer postpartalen Depression eines Elternteils. Ein gängiger Fragebogen zum Screening auf postpartale Depression ist die Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS; [29]), die im Internet zum Download frei verfügbar ist (www.mutter-kind-behandlung.de/downloads/fragebogen_EPDS.pdf). In einer Studie von Reck et al. wiesen etwa 9 Prozent der Mütter eine verstärkte postpartale depressive Symptomatik im EPDS auf, die einen Risikofaktor für den Beziehungsaufbau zwischen Säugling und Mutter sowie die kindliche Entwicklung darstellt (30).
SAFE®-Spezial für spezifische Risikokontexte
Ursprünglich wurde das SAFE®-Programm für die Allgemeinbevölkerung entwickelt. Jedoch können Anpassungen des SAFE®-Programms an die spezifi-
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schen Bedürfnisse bestimmter Zielgruppen vorgenommen werden. Dazu bietet die Abteilung Pädiatrische Psychosomatik des Klinikums der Universität München regelmässig Weiterbildungen zur Umsetzung des SAFE®-Programms mit spezifischen Zielgruppen an, wie beispielsweise SAFE®-Spezialkurse für Eltern mit Mehrfachbelastungen, Pflege- und Adoptivkindern, für Mutter-Kind-Heime oder MutterKind-Einheiten der Justizvollzugsanstalten, für Eltern mit Frühgeborenen oder psychisch kranke Eltern sowie für die Anwendung von Aspekten des SAFE®-Programms in der Krippe, im Kindergarten und in der Schule.
Anpassung des SAFE®Programms für Mütter mit Suchterkrankungen
Suchterkrankungen können durch einen Mangel an sicherheitsspendenden Beziehungserfahrungen entstehen. Die Droge dient dann statt einer Bindungsbeziehung der Stress- und Affektregulation (31). Hierdurch entstehen besondere Herausforderungen in der Versorgung des Kindes und beim gesunden Beziehungsaufbau zum Kind. Eine Schwangerschaft stellt bei dieser Klientel meist eine grosse Chance dar, etwas zu verändern und mithilfe des SAFE®-Programms neue Bindungserfahrungen zu ermöglichen und vorhandene Muster bewusst zu machen. Werdende Eltern mit einer Suchterkrankung können unserer Erfahrung nach meist selbst nicht auf sichere Bindungserfahrungen zurückgreifen und auf deren Grundlage eine positive und sichere Beziehung zu ihrem eigenen Kind aufbauen. Deshalb legt der SAFE®Sucht-Kurs ein besonderes Augenmerk auf das Kennenlernen der Erfahrungen der werdenden Mütter und Väter, sodass mit der Lebensgeschichte der Eltern besonders sensibel umgegangen werden kann. Die Erfahrung zeigt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer besonders zuverlässig wöchentliche Einzeltermine einhalten. Zu Beginn des Kurses ist ein Kleingruppensetting zu herausfordernd für diese Zielgruppe. In einem Pilotprojekt der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik des Klinikums der Universität München hat sich gezeigt, dass die Interventionen des SAFE®Sucht-Kurses bei vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern wichtige Punkte aufgreifen. Beispiele dafür sind das Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes, das Akquirieren von Unterstützungsmöglichkeiten (Einbeziehung von Jugendhilfe, Beginn ambulanter Psychotherapie etc.) sowie die Hinführung zur eigenen Lebensgeschichte unter Einbeziehung der Bedeutung der Droge/des Alkohols und einer Reflektion dessen, was zu einer gesünderen Entwicklung des Kindes beiträgt.
Erste Ergebnisse der SAFE®-Evaluationsstudie
Das SAFE®-Programm wurde in einer grossen randomisierten Kontrollgruppenstudie mit 167 Familien am Dr. von Haunerschen Kinderspital in München evaluiert. Vorläufige Ergebnisse zu Teilstichproben sind
vielversprechend: Mütter, die pränatal einen unverar-
beiteten Bindungsstatus – möglicherweise aufgrund
eines unverarbeiteten Traumas – aufweisen, erleben
die Geburt positiver und weniger traumatisch, wenn
sie den SAFE®-Kurs besuchen (32). Väter, die an dem
SAFE®-Programm teilnehmen, sind im Vergleich zur
Kontrollgruppe emotional verfügbarer in der Interak-
tion mit dem Kleinkind (33).
Korrespondenzadresse:
OA PD Dr. med Karl Heinz Brisch
Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie
Dr. von Haunersches Kinderspital
Klinikum der Universität München
Pettenkoferstr. 8a
D-80336 München
E-Mail: Karl-Heinz.Brisch@med.uni-muenchen.de
www.khbrisch.de
Weitere Informationen zum SAFE®-Programm: www.safe-programm.de
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