Transkript
EDITORIAL
Zu viele dicke Kinder …
Das Ernährungsbewusstsein scheint ja inzwischen im Zentrum auch der jüngeren Gesellschaft angekommen zu sein. Biolebensmittel, Vegi-Kultur oder Slow Food liegen längst voll im Trend; dessen problembewussten Anhängern geht es nicht nur um die eigene Gesundheit, sondern auch um Nachhaltigkeit für Mensch und Tier in einer globalisierten Welt. Wer da nicht so schnell mitkommt, läuft schon mal Gefahr, gezielt aufs Korn genommen zu werden. So machte sich etwa der Hamburger Hip-Hopper Jan Delay 2014 in seinem Song «Dicke Kinder» seinen verkürzten Reim auf die Essgewohnheiten des Prekariats: «Der Kevin und die Sandy und die Mama und der Papa, die machen alle viel und gerne ‹happahappa›. Ihre Figuren sind schon lange aus den Fugen dank der Wurst mit Gesicht und dem Käse aus der Tube.» Im hier gezeichneten Bild scheint zumindest das Familienleben noch intakt zu sein: Immerhin werden die ungesunden Mahlzeiten noch gemeinsam eingenommen … Entgegen dem oben angedeuteten Zeitgeist ist im Laufe der letzten 25 Jahre der Anteil der übergewichtigen Personen an der Bevölkerung in Europa und auch hierzulande stetig gestiegen: Etwas mehr als die Hälfte aller Männer und 32 Prozent der Frauen (ab 15 Jahren) in der Schweiz sind derzeit von Übergewicht, 11 beziehungsweise 9 Prozent gar von Fettleibigkeit betroffen, wobei sich die Zahlen für Adipositas seit 1992 nahezu verdoppelt haben. In der Altersgruppe der Jungen sieht es nicht eben besser aus: Anfang des neuen Jahrtausends waren fünfmal so viele Kinder wie noch in den 1980er-Jahren zu dick. Seither bleiben die Werte, die eine Prävalenz von rund 20 Prozent übergewichtigen und etwa 7 Prozent adipösen Buben und Mädchen ausweisen, auf diesem hohen Niveau stabil – mitsamt allen ungünstigen Voraussetzungen, die das eingedenk der Tatsache, dass der Anteil der übergewichtigen Personen mit zunehmendem Alter ansteigt, für die individuelle wie auch die allgemeine gesundheitliche Entwicklung der jetzt noch jungen Generation mit sich bringen mag. Da stellt sich natürlich, wie immer, die Frage nach den Ursachen und den möglichen Lösungen des Problems. Dass Fast Food und Bewegungsmangel nur ein Teil – und noch dazu eher Folge denn Auslöser – dessen sind und dass Salatbars und Sportangebote in Schulen daher eher zu kurz und, wenn überhaupt, zu spät greifen, ist mittlerweile anerkannter Kon-
sens, auch in speziell damit befassten gesundheitspolitischen Fachkreisen. Doch wenn nicht bereits die entsprechende Zielsetzung, dann wird spätestens der Weg in Richtung einer tiefgreifenderen Veränderung oft von sozialen Barrieren versperrt, die sicher auch durch Bildungsnotstand und Migrationshintergründe aufgeschichtet werden. Vielmehr aber sind sie den Vereinsamungstendenzen in einer zwar allzeit vernetzten, aber im Kern entfremdeten, den Einzelnen stets und immer wieder auf die Suche nach Selbstoptimierung schickenden Gesellschaft geschuldet. Und hier sind gerade Dicke «zu dick zum Fliehn», wie es vor bald 40 Jahren Marius Müller-Westernhagen, ein anderer deutscher Sänger, im Gegensatz zum Kollegen Delay noch mit einer gewissen Empathie konstatierte … Seit einigen Jahren geht die medizinische Forschung der Hypothese auf den Grund, dass Schlaf und Körpergewicht in enger Beziehung stehen, und findet immer mehr entsprechende Evidenz, nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen. Schlechter oder zu wenig Schlaf ist demnach ein Risikofaktor für Übergewicht. Aber auch umgekehrt beeinträchtigen zu viele Kilos den erholsamen Schlaf. Jüngst konnten nun neuseeländische Wissenschaftler in einer der bis anhin seltenen entsprechenden Untersuchungen an Kindern unter zwei Jahren nachweisen, dass weder ernährungs- noch bewegungs-, stattdessen jedoch schlaforientierte unterstützende familiäre Interventionen sich auf den Body-Mass-Index der Kinder günstig auswirkten (1). So weit so richtig. Doch müssen wir in einem derart komplexen Wirkungsgefüge aber wohl noch viel umfassender darüber nachdenken, was den Schlaf der Kinder und auch der Erwachsenen stört. Schlaf soll zur Erholung führen, aber es braucht auch zunächst einmal Ruhe für den Schlaf selbst. Sind heutzutage nicht schon Kinder vielfältigst gestresst und wie ihre Eltern am Abend zwar kaputt, aber nicht wirklich müde? Was machen 24/7-Online-Gadgets und medialer Konsum bis in die späten Abendstunden mit unserer Fähigkeit, abschalten, runterkommen, uns hinlegen und tatsächlich ausruhen zu können? Dass auch Fragen wie diese wissenschaftlich angegangen werden wollen und können, zeigt das aktuelle Beispiel einer kalifornisch-kanadisch-australischen Studie (2), die die Auswirkungen von Videospielkonsum und Softdrinks auf die Schlafqualität und die Entwicklung von Adipositas bei 9- bis 17-Jährigen untersucht hat und dabei kaum überraschende Zusammenhänge, wenn auch noch kaum Abhilfe aufzuzeigen vermochte. Und auch die Zwischenergebnisse einer Umfrage zur Nutzung digitaler Medien unter 6000 Minderjährigen und ihren Eltern im Rahmen der deutschen BLIKK-Studie (3) weisen in dieselbe Richtung.
Ralf Behrens
1. Taylor BJ et al.: Targeting sleep, food, and activity in infants for obesity prevention: an RCT. Pediatrics 2017; 139(3): pii: e20162037; DOI: 10.1542/ peds.2016–2037.
2. Turel O et al.: A model linking video gaming, sleep quality, sweet drinks consumption and obesity among children and youth. Clin Obes 2017, Mar 20; DOI: 10.1111/cob. 12191.
3. BLIKK Medien-Studie 2016: Erste Ergebnisse von 3048 Kindern. Pressemitteilung 9.11.2016, www.rfh-koeln.de/sites/rfh_koelnDE/myzms/content/e380/e1184/ e29466/e34095/e34098/20161121_BLIKK_Pressemitteilung_Aend_VJ_ger.pdf.
ARS MEDICI 9 I 2017
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