Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Medizintechnik
Gefühlvolle Handprothese
Ein europäisches Team unter der Leitung von Silvestro Micera, École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), hat eine neue Handprothese entwickelt,
die den Patienten spüren lässt, was er in der Hand hält: «Das sensorische Feedback war unglaublich», berichtet der 36-jährige Patient, an dem die neue Prothese erstmals getestet wurde. Er konnte wieder spüren, was er in Händen hielt: «Ich konnte fühlen, ob es weich oder hart, rund oder eckig war.» Um sicherzugehen, dass er die Dinge tatsächlich nur fühlte, konnte er während der Tests weder sehen noch hören. Die neue Prothese unterscheidet sich grundlegend von den zurzeit verfügbaren, die zwar ein willentlich gesteuertes Zugreifen, aber kein Tastgefühl ermöglichen. Dem Patienten wurden an der GemelliKlinik in Rom zunächst vier ultrafeine, an der Universität Freiburg im Breisgau entwickelte Elektroden in die noch vorhandenen Nerven implantiert. Diese Elektroden wurden etwa einen Monat später mit der Prothese verbunden. Die vergleichsweise groben elektrischen Impulse der künstlichen Sensoren an den Fingerspitzen der Prothese werden durch Computeralgorithmen in fein
modulierte Signale umgerechnet, die
als neuronale Reize wahrgenommen
werden können. Obwohl neun Jahre
vergangen waren, seit der Patient seine
Hand durch einen Unfall mit Feuer-
werkskörpern verloren hatte, funktio-
nierten die verbliebenen Nerven immer
noch und übermittelten die künstlich
erfassten Tastsignale (Foto: EPFL, Life-
hand2). Das Protokoll der Pilotstudie
schrieb vor, dass die Elektroden aus
Sicherheitsgründen nach einem Monat
wieder aus dem Arm des Patienten ent-
fernt werden mussten, was sowohl der
Patient als auch das Forscherteam be-
dauert haben dürften. Die Ärzte und
Wissenschaftler glauben, dass die Elek-
troden noch für lange Zeit funktioniert
hätten. Ob und wann eine sensitive
Handprothese auf den Markt kommen
könnte, ist noch ungewiss.
RBOO
Raspopovic S et al.: Restoring Natural Sensory Feedback in Real-Time Bidirectional Hand Prostheses. Sci Transl Med 2014; 6: 222ra19 und Pressemitteilung des EPFL vom 5. Februar 2014.
Prävention
Besonders strenge Hypertonietherapie schützt nicht vor dem Verlust an Geisteskraft
Auf der Suche nach präventiven Massnahmen zum Erhalt der kognitiven Leistungsfähigkeit untersuchte man bei Typ-2-Diabetikern den Zusammenhang zwischen Blutdrucksenkung, Lipiden und Entwicklung der kognitiven Leistung. Es ist bekannt, dass Typ-2Diabetiker ein höheres Risiko für leichte kognitive Einbussen, das sogenannte «mild cognitive impairment», tragen, sodass man allfällige präventive Effekte irgendwelcher Massnahmen bei ihnen eher sehen sollte als bei Gesunden. Die Resultate einer entsprechenden Auswertung der Daten von Teilnehmern der vor einigen Jahren abgeschlossenen ACCORD-Studie sind jedoch enttäuschend. Es handelte sich
um 2977 Diabetiker ohne Anzeichen kognitiver Beeinträchtigung, die entweder der Gruppe mit dem Blutdruckziel < 120 mmHg oder < 140 mmHg zugeteilt wurden. Ausserdem wurde ihnen entweder ein Fibrat zur Lipidsenkung verabreicht oder ein Plazebo. Nach gut drei Jahren wurden diverse kognitive Tests bei allen durchgeführt sowie ein CT des Gehirns bei insgesamt 503 Studienteilnehmern. Es fand sich kein Vorteil der strengeren Blutdruckkontrolle und auch kein Vorteil durch Fibrate versus Plazebo bezüglich der kognitiven Leistungsfähigkeit. Im CT-Scan zeigte sich überdies, dass die Abnahme der Hirnmasse in der Gruppe mit der intensiven Therapie höher war (18,9 ml vs. 14,5 ml; p = 0,01). Bekanntermassen wurde die ACCORDStudie vorzeitig abgebrochen, weil im Studienarm mit den strengen Blutdruckzielen mehr Patienten starben. Offenbar bewirkt die strenge Hypertoniekontrolle (< 120 mmHg als Ziel) auch bezüglich der Kognition nichts oder schadet ihr möglicherweise sogar. Es gibt allerdings auch Ärzte, die den Beobachtungszeitraum von 40 Monaten für zu kurz halten, um allfällige Effekte überhaupt beurteilen zu können. RBOO Williamson J et al.: Cognitive function and brain structure in persons with type 2 diabetes mellitus after intensive lowering of blood pressure and lipid levels: A randomized clinical trial. JAMA Intern Med 2014; online DOI: 10.1001/jamainternmed.2013.13656. 126 ARS MEDICI 3 I 2014 RÜCKSPIEGEL Infektiologie Vorsicht bei Katzenbissen! Katzenbisse sehen oft harmlos aus, sind aber nicht zu unterschätzen, weil die feinen, dünnen Eckzähne der Katze tief ins Gewebe eindringen und dort beträchtliche Infektionen bewirken können. An der Mayo Clinic in Rochester wertete man die Krankengeschichten von Patienten mit Katzenbissen aus, die von 2009 bis 2011 in die Klinikambulanz gekommen waren. Von den insgesamt 193 Patienten wurde etwa ein Drittel (57 Patienten) stationär aufge- nommen. Von diesen benötigten 38 ein chi- rurgisches Débridement und 8 mehr als einen Eingriff. In einigen wenigen Fällen war sogar plastische Chirurgie nötig. Besonders gefährlich waren Katzenbisse am Handgelenk oder anderen Gelenken: Hier war die Hospitalisationsrate höher. Die am- bulante orale Antibiotikatherapie bei den nicht hospitalisierten Patienten verlief meist erfolgreich; sie versagte in 14 Prozent der Fälle, sodass diese Patienten dann doch noch ins Spital mussten. RBOO Babovic N et al.: Cat bite infections of the hand: assessment of morbidity and predictors of severe infection. J Hand Surg 2014; 39(2): 286. Vor 10 Jahren Facebook Am 4. Februar 2004 startet Facebook. Die Diskussionen über Datenschutz und Privatsphäre der Nutzer erreichten bald auch medizinische Kreise, etwa bei der Frage, ob ein Arzt mit seinem Patienten «befreundet» sein darf. Vor allem unter jüngeren Nutzern soll Facebook mittlerweile schon wieder out sein, auch wenn viele Millionen weiterhin fleissig ihre Profile polieren. Vor 50 Jahren 714X In Frankreich wird Gaston Naessens angeklagt, weil er sich als Arzt und Apotheker ausgab. Er hatte Eltern leukämiekranker Kinder und Krebskranken mit einem angeblichen Wunderserum Hoffnung gemacht. Naessens praktizierte damals in Bastia auf Korsika. Wie «Die ZEIT» berichtete, protestierte die Bevölkerung für ihren Wunderdoktor, weil er einen kranken Knaben kuriert habe (das Kind erlitt wenige Wochen später einen Rückfall). Naessens ging später nach Kanada und fand dort neue Gönner. Noch heute beruft sich ein kanadisches Unternehmen auf ihn und verkauft 714X, dessen Wirksamkeit nie nachgewiesen werden konnte. (Foto: Fotolia) Psychiatrie Ambulante Therapie bei Magersucht genauso gut wie stationäre Ein Team um Beate Herzpertz-Dahlmann an der RTWH Aachen hat in einer Studie nachgewiesen, dass eine kurze stationäre Aufnahme mit nachfolgender ambulanter Therapie bei jungen Anorexiapatientinnen genauso wirksam ist wie eine komplett stationäre Therapie. Die Patientinnen waren 11 bis 18 Jahre alt und wurden an sechs Anorexiazentren in Deutschland behandelt. Die Studie umfasste 172 Patientinnen, 85 in der stationär und 87 in der ambulant behandelten Gruppe. «Ambulant» bedeutete einen dreiwöchigen stationären Aufenthalt mit anschliessender ambulanter Therapie im Sinn einer Tagesklinik (von 8 bis 16.30 Uhr täglich). Die therapeutischen Massnahmen (Psychotherapie, Ernährung etc.) waren bei allen Teilnehmerinnen, sowohl stationär als auch ambulant, die gleichen. Das Ende der Therapie war definiert als das Erreichen und das zwei Wochen lange Halten eines bestimmten BMI-Wertes (zwischen dem 15. und 20. altersgemässen Perzentil). Im Durchschnitt war das bei den stationär behandelten Mädchen nach 6 und bei den ambulant behandelten nach 7 Wochen der Fall. Ein Jahr nach Beginn der Therapie waren die Resultate für die ambulant oder stationär behandelten Mädchen vergleichbar. Die ambulante Therapie nach einer kurzen stationären Startphase sei eine gute, kostengünstige Alternative, die von vielen Mädchen auch als weniger belastend empfunden werde, weil sie nicht so lange in der Klinik bleiben müssten, so die Autoren der Studie. RBOO Herpertz-Dahlmann B et al.: Day-patient treatment after short inpatient care versus continued inpatient treatment in adolescents with anorexia nervosa (ANDI): a multicentre, randomised, open-label, non-inferiority trial. Lancet; early online publication, 17 Jan 2014; doi:10.1016/S0140-6736(13)62411-3. Vor 100 Jahren Alkoholstopp Um die Schweden von übermässigem Alkoholkonsum abzubringen, wird Anfang Januar 1914 in einem Pilotversuch in Göteborg, Stockholm und Jönköting eingeführt, dass nur staatliche Abgabestellen Alkohol in rationierten Mengen abgeben dürfen. Drei Jahre später wird das System auf ganz Schweden ausgedehnt. Männer und ledige Frauen dürfen ein sogenanntes «Motbok» beantragen, in welchem der Alkoholbezug vermerkt wird. Erst 1955 entfällt das Rationierungsbuch, der Alkoholverkauf bleibt jedoch staatlichen Läden vorbehalten (Foto: Wikimedia Commons). In Norwegen ging man noch weiter und verbot ab 1916 die meisten alkoholischen Getränke komplett. Weil Alkohol zu medizinischen Zwecken erlaubt blieb, er- schlossen sich Ärzte durch das Ausstellen von Rezep- ten eine neue Einnahmequelle, die erst 1923 versiegte, weil danach auch die «medizinische» Anwendung restriktiv kontrolliert wurde. RBOO