Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Xenophobie
D er Schreibende sass noch arglos in der Praxis und erledigte Administratives, als die Kollegen und Freunde anriefen. Die Masseneinwanderungs-Initiative, so berichteten sie, sei angenommen. «Stellt ihr mich jetzt an die Grenze?», fragte der gut integrierte Schwob, der die Innere Medizin unseres kleinen Spitals kompetent und mit viel Herzblut leitet. In seinem Gefrotzel war aber ein besorgter Unterton. «Du bist doch schon längst eingewandert», tröstete ich ihn. «Hast Besitzstand. Und einen langjährigen Arbeitsvertrag. Nur wenn du dich für einen Job im besser entlöhnenden Nachbarkanton bewerben würdest, dann würden wir dich rausschmeissen!» Er konnte kaum lachen. Genau wie Kristin, die exzellente junge holländische Oberärztin, die mich wenig später anrief. «Sag mal, wie schnell wird das umgesetzt? Muss ich mir subito einen Job ausserhalb der Schweiz suchen?» «Du bist vermutlich die nächsten drei Jahre sicher», beschwichtigte ich sie. «Und weil dein SklaventreiberChefarzt, der lieber ausländische Workaholics als gewerkschaftlich organisierte Schweizer anstellt, jetzt gebremst wird, wird es dir vermutlich besser gehen. Weil deine Schweizer Kollegen die arbeitsrechtlichen Minimalforderungen durchsetzen werden. Und du weniger Duckmäuser und Schleimer in deinem Umkreis haben wirst.» Sie atmete tief ein. «Okay. Wir haben hier Zustände, die mein Landsmann Dr. Piet Westdijk vor vielen Jahren schon in seinem Artikel ‹Syndrom des ausländischen Oberarztes› satirisch angeprangert hat. Lauter Nichtschweizer, die ausgebeutet werden und sich nicht wehren. Aber weisst du, diese Abstimmung erschreckt einen schon. Man fühlt sich so unerwünscht.» Unsere junge Medizinstudentin, die hier ein Praktikum macht, berichtete: «Meine Eltern, die vor Jahrzehnten aus Ostpreussen und Schlesien vertrieben wurden, haben mich schon in Panik angerufen.» Auch bei Hans-Peter, einem mit einer Schweizerin verheirateten, hier geborenen Deutschen, wurden Kindheitstraumata reaktiviert. «Meine Eltern hatten in den Siebzigerjahren grosse Angst, als die Schwarzenbach-Überfremdungs-Initiative lanciert wurde!», erinnerte er sich. «Wir klebten vor dem TV und erwarteten jederzeit das Klingeln der Fremdenpolizei, die uns ausschaffen würde. Über den Film
‹Schweizermacher› konnten wir nicht lachen … Dabei wurde mein Vater, ein hoch qualifizierter Ingenieur, aktiv angeworben.» Nachmittag und Abend vergingen mit ähnlichen Telefonaten. Und am nächsten Morgen ging es weiter mit verstörten Patienten. Die portugiesische Putzfrau, der aufgebrachte türkische Busfahrer, der ängstliche tschechische Automechaniker und die wütende spanische Kellnerin. Ihre Diskushernien, diabetischen Entgleisungen und viralen Infekte belasteten sie weniger als die Tatsache, dass die Schweiz, welche sie nach vielen Jahren Erwerbstätigkeit hier fast schon als zweite Heimat ansahen, sie nicht akzeptierte. «Mein Bruder und seine Familie sind auch hier. Und unsere Cousine. Werden wir jetzt alle ausgeschafft?», fragte Frau Da Silva voller Panik. Herr Hasanoglu zischte: «Jeden Dienst mache ich. Den Frühdienst ab 4.50 Uhr. Den geteilten Dienst, der einem den ganzen Tag kaputt macht. Und den Spätdienst, wo die Besoffenen dir den Bus vollkotzen. Immer bin ich da. Nie krank. Immer zuverlässig. Und das ist der Dank!» Ähnlich aufgebracht war Señora Gomez, die seit Jahrzehnten für einen mickrigen Stundenlohn eine schwierige Kundschaft bedient. Sie musste nichts sagen, denn als Hausarzt kannte ich ihre Geschichte. Und ihren Ehemann, der genauso hart wie sie arbeitete. Die Kinder, die sie nur in den Ferien sahen, weil sie von den Grosseltern grossgezogen wurden. Die Visite im Altersheim abends um fünf wurde zum Spiessrutenlauf. Für keine(n) der Pflegenden gab es ein anderes Thema. Bosnierinnen, Serben, Kroatinnen, Koreaner, Sri Lanker, Inderinnen, Italiener – alle fragten mich, wie das geschehen konnte. «Aber Sie können ja nichts dafür», sagten sie dann. «Sie haben natürlich dagegen gestimmt.» Feige und verlogen lächelte ich. Denn auch ich habe für die Initiative gestimmt. In der festen Überzeugung, dass sie nie und nimmer angenommen würde. Aber ich wollte ein Zeichen setzen. Gegen die vielen ausländischen Drogendealer, die in unserer Stadt junge Menschen verderben. Gegen die ausländischen Faulenzer, die unser Sozialsystem missbrauchen. Gegen die arroganten Nordeuropäer, die alle leitenden Stellen bekommen, weil sie schneller reden und mehr publizieren. Augenscheinlich habe ich nicht realisiert, wie viele engagierte Menschen ich damit brüskiere …
ARSENICUM
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ARS MEDICI 3 I 2014