Transkript
FORSCHUNG
Pflanzliche Vielstoffgemische als Netzwerk-Arzneien
Komplexe Wirkmuster bei Multimorbidität am Beispiel tibetischer Phytotherapeutika
Herbert Schwabl und Cécile Vennos
Wirkmuster pflanzlicher Vielstoffrezepturen
Ein Charakteristikum von Phytotherapeutika ist, dass ihre pflanzlichen Wirkstoffe eine Vielzahl von potenziell aktiven chemischen Stoffen, zum Beispiel sekundäre Pflanzenstoffe, beinhalten. Diese liegen in der Regel jedoch in sehr kleiner Dosierung vor. Würde ein einzelner dieser Stoffe isoliert eingesetzt, könnte er für sich keine pharmakologische Wirkung erzielen. Innerhalb des Vielstoffgemischs der Pflanzendroge wirken die chemischen Komponenten jedoch zusammen. Dabei kommt es zu Synergismen, die eine gewünschte Wirkung verstärken, zu additiven Wirkungen und zu Antagonismen, wobei mögliche un-
erwünschte Wirkungen von anderen Komponenten aufgehoben oder abgeschwächt werden (1). Das Zusammenspiel vieler aktiver Inhaltsstoffe führt auch zu einem weiteren Charakteristikum vieler Phytotherapeutika, dem sogenannten Multi-Target-Wirkmechanismus. Das heisst, sie sprechen verschiedene Ziele (targets) im Körper an und setzen im Organismus vielfältige therapeutische Impulse (2). Fasst man diese Impulse und die synergistischen und antagonistischen Verbindungen zwischen den verschiedenen Wirkaspekten zusammen, ergibt das ein komplexes Wirkmuster, das für jede Rezeptur charakteristisch ist. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von pleiotropen Wirksignaturen (3). Bei Tibetischen Rezepturen gilt dieses Prinzip nicht nur auf der Ebene der Einzel-
pflanze, sondern zusätzlich auch auf der übergeordneten Ebene der Pflanzenmischung. Tibetische Arzneimittel sind fixe Kombinationen von typischerweise 5 bis 30 meist pflanzlichen und mineralischen Bestandteilen (Abbildung 1). Damit stellen sie innerhalb der Phytotherapie insofern eine Besonderheit dar, da sie das Prinzip der Vielstofflichkeit jeder Pflanze durch die Kombination noch potenzieren (4). Die einzelnen Arzneipflanzen innerhalb des Tibetischen Komplexpräparats können daher in viel kleinerer Dosierung aufscheinen, als sie beispielsweise in der europäischen Phytotherapie als Alleinwirkstoff üblich sind.
Der Organismus als Netzwerk von Funktionskreisen
Aus Sicht der Systembiologie wird der Organismus als komplexes System be-
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trachtet, wobei er als Netzwerk von verschiedenen interagierenden Funktionskreisen beziehungsweise Unternetzwerken beschrieben werden kann. Mithilfe moderner OMICS-Technologien und -Wissenschaften, wie zum Beispiel der Genomik, Proteomik und Metabolomik, bezieht der aktuelle Forschungsansatz Systeme auf verschiedenen Hierarchiestufen bis hin zum Netzwerk der gesamten molekularen Interaktionen, dem sogenannten Interaktom (5) (Abbildung 2), mit ein. Oberstes Ziel des Systems «Organismus» ist die Homöostase, das heisst, das Gleichgewicht innerhalb des Systems unter verschiedenen Einflüssen aufrechtzuerhalten (6). Aus dem Idealfall von störungsfreien Abläufen resultiert ein dynamischer Systemzustand, der mit dem Begriff der Gesundheit des Organismus umschrieben werden kann. Eine Eigenschaft komplexer Netzwerke ist ihre Plastizität, welche es ermöglicht, auf innere und äussere Signale zu reagieren. Weiter besteht eine Redundanz von Verbindungen, wobei die Verbindungen direkt oder indirekt über verschiedene Knotenpunkte des Netzwerks verlaufen können und schwach oder stärker ausgeprägt sind (7). Der Aufbau des Netzwerks und die Art und Ausprägung der Verbindungen bestimmen, ob und wie ein System auf Reize reagieren und das Gleichgewicht aufrechterhalten oder wiederherstellen kann. Ein länger bestehendes Ungleichgewicht im Netzwerk «Organismus» äussert sich als Krankheit. Auch der morbide Zustand kann durch ein bestimmtes Funktionsmuster im Netzwerk gedeutet werden, je nachdem, welche Funktionskreise, Strukturen und Organe in welchem Ausmass beteiligt sind.
Chronische Erkrankungen und Multimorbidität
Besonders komplexe Krankheiten sind solche mit multifaktorieller Pathogenese, bei denen gleichzeitig eine Vielzahl von Funktionskreisen auf unterschiedlichen Ebenen betroffen ist. Dazu gehören vor allem chronische Erkrankungen und sogenannte Alterserkrankungen, die in allen modernen Gesellschaften stetig zunehmen. Dabei steigt nicht nur die Anzahl chronisch Kranker, häufig treten bei einem Patienten auch gleichzeitig mehrere (chronische) Krankheitszustände auf. Die Multimorbidität, also das gleichzeitige Vorliegen von zwei oder mehr chronischen Erkrankungen, bekommt
Abbildung 1: Komponenten eines pflanzlichen Vielstoffgemisches am Beispiel von Padma 28. Das Tibetische Phytoarzneimittel besteht aus 22 pflanzlichen und mineralischen Komponenten.
nicht nur in der Diagnostik und Therapie einen immer grösseren Stellenwert, sie hat auch sozialmedizinisch und ökonomisch eine wachsende Bedeutung (8). Bei der Behandlung multimorbider Patienten muss berücksichtigt werden, dass es sich hier nicht bloss um eine Aufsummierung verschiedener Einzelerkrankungen handelt, sondern dass Multimorbidität oft ein eigenständiges, vielgestaltiges und dynamisches Krankheitsbild darstellt. Ebenfalls ist nicht zu vernachlässigen, dass seelisch-körperliche Zusammenhänge existieren. Einerseits tragen multimorbide Patienten ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen, andererseits haben Patienten mit seelischen Erkrankungen ein hohes Risiko für die Entwicklung chronischer somatischer Erkrankungen (9).
Netzwerk-Arzneien bei Multimorbidität
Die medikamentöse Behandlung multimorbider Patienten ist schwierig. Oft wird
mit jeder zusätzlichen Diagnose das vom Patienten einzunehmende Medikamentenarsenal erweitert. Dieses Vorgehen ist unbefriedigend und kann zu polypharmaziebedingten Problemen führen, wie beispielsweise zu vermehrten Arzneimittelinteraktionen oder zur Minderung der Patienten-Compliance. Anstelle von oder in Ergänzung zu hochspezifischen Wirkstoffen, die an einzelne Liganden binden (single target), bieten Multi-Target-Phytotherapeutika erweiterte Behandlungsansätze. Als Netzwerk-Arzneien können Multi-Target-Phytotherapeutika besser auf die in diesem Fall stark vernetzte Krankheitsstruktur eingehen und Impulse an unterschiedlichen Knotenpunkten setzen. Aus systemischer Sicht ist bei der Wahl einer Therapie beziehungsweise bei der Planung eines Behandlungsschemas eine Rezeptur zu wählen, deren Wirkspektrum eine möglichst grosse Überlappung mit dem Netzwerkcharakter des multimorbi-
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Abbildung 2: Der menschliche Organismus kann als Netzwerk von interagierenden Unternetzwerken verschiedener Hierarchiestufen dargestellt werden. Verschiedene Knotenpunkte des Netzwerks sind oft über mehrere Wege miteinander verbunden (3).
schen Arzneimittelwahl aufgrund der Multifunktionalität von Phytotherapeutika (11) meistens zu einer Überschneidung der drei Wirkebenen: N spezifisch: Orientierung an Sympto-
men/Symptomkomplexen beziehungsweise spezifischen Krankheiten N adaptogen: Orientierung am Gesamtorganismus und seinen Reaktionsweisen N systemisch: Orientierung an Basisstörungen (zum Beispiel Entzündungsvorgänge). Überträgt man diese Gedanken auf das Netzwerk, wird schnell erkennbar, dass jedem Phytotherapeutikum eine charakteristische Signatur (3) zukommt, weshalb Phytotherapeutika auch als Netzwerk-Arzneien (12) bezeichnet werden (Abbildung 3). Durch den pleiotropen Charakter ist dieses Wirkmuster breiter als bei Monosubstanzen und auf viele, vor allem schwach ausgeprägte Verbindungen ausgelegt (13).
Abbildung 3: Rot ist beispielhaft ein komplexes Wirkmuster eines pflanzlichen Vielstoffpräparats dargestellt, wobei die Dicke der Linien unterschiedliche Verbindungsstärken darstellen. Die phytotherapeutische «Signatur» ist deutlich komplexer und aufgrund der Pleiotropie breiter aufgefächert als bei hochspezifischen Single-Target-Arzneimitteln (3).
den Krankheitszustandes aufweist. Ebenfalls sollten therapeutische Massnahmen, seien es medikamentöse oder andere, sowie deren Abfolge entsprechend der Reaktionskapazität des Organismus gewählt werden, sodass das Netzwerk die therapeutischen Signale auch verarbeiten kann und es bei der Wiederherstellung der Homöostase unterstützt wird.
Phytotherapeutika als Netzwerk-Arzneien
Phytotherapeutika sind typischerweise Vielstoffgemische, die meist nach einem Multi-Target-Wirkmechanismus agieren und eine komplexe und charakteristische Wirksignatur haben (2). Die Wirkstoffe lassen sich mit folgenden Eigenschaften beschreiben (10):
N zahlreiche aktive Prinzipien, niedrig konzentrierte Einzelkomponenten
N einzelne Wirkstoffbestandteile liegen meist nur in sehr geringen Mengen vor, dadurch keine vollständigen Blockaden/ Stimulierungen/Sättigungen
N multiple, pleiotrope (das heisst von einander unabhängige) Mechanismen und dadurch gleichzeitige Ansprache mehrerer Mechanismen im Netzwerk
N schwache Bindungen N ausgeprägte Plastizität des Wirkstoffes,
das heisst seine dynamische Komplexität kann sich der dynamischen Multimodalität der Targets anpassen, noch dazu mit relativ wenig Nebenwirkungen. Entsprechend dem breiten Wirkungsspektrum kommt es bei der phytotherapeuti-
Das Beispiel Padma 28 aus netzwerkbiologischer Sicht
Die auf der Tibetischen Medizin basierende Rezeptur Padma 28* besteht aus 20 verschiedenen Pflanzendrogen, Kalziumsulphat und natürlichem Kampfer. Sie wird in der Schweiz seit über 35 Jahren bei Durchblutungsstörungen eingesetzt, mit beginnenden Symptomen wie eingeschlafenen Händen und Füssen, Kribbeln und Ameisenlaufen und bei Schweregefühl in den Armen und Beinen. Aus der traditionellen Sicht wird die Rezeptur als «kühlend, mobilisierend und die Blutzirkulation anregend» beschrieben. Das heisst, sie hemmt eine überschiessende Tripa-Energie (Hitze im Körper) und regt das rLung-Prinzip (das bewegliche Element) an (14). Sie ist demnach besonders geeignet bei Patienten mit arteriosklerotischen Beschwerden, bei denen typischerweise das energetische Gleichgewicht in Richtung Hitze und Stagnation verschoben ist. Gemäss verschiedenen Studien besteht die moderne Signatur dieser Formel unter anderem aus antientzündlichen, antioxidativen und durchblutungsfördernden Eigenschaften (14).
Der Einsatz bei Multimorbidität
Pflanzenrezepturen mit vielschichtigen Wirkmustern können insbesondere bei
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multikausalen und chronischen Erkrankungen mit komplexer Krankheitssignatur wertvolle Therapieansätze liefern. Das lässt sich am Beispiel Padma 28 zeigen, das ein klassisches Multi-Target-Präparat ist und bei mehreren kausalen Faktoren von arteriosklerotischen Störungen ansetzt. Insbesondere bei pflanzlichen Vielkomponentenrezepturen, die durch die erfahrungsmedizinische Erprobung entwickelt wurden, ist das Multi-Target-Konzept und damit verbunden die Pleiotropie stark ausgeprägt. Solche Kombinationspräparate eignen sich besonders als systemische Basistherapie, kombiniert mit selektiven Arzneimitteln und/oder bei multimorbiden Patientinnen und Patienten. Die Sichtweise auf den Organismus als Netzwerk von interagierenden Teilen lässt nicht nur die Darstellung von Wirkmustern zu, sie bietet auch Unterstützung zur systemischen Betrachtung von komplexen Erkrankungen wie zum Beispiel der Multimorbidität als eigenständiges Krankheitsbild. Solche systemtheoretischen und netzwerkpharmakologischen Konzepte können durch ein besseres Verständnis auch die Anschlussfähigkeit traditioneller, komplementärmedizinischer Methoden an die
wissenschaftlich orientierte, moderne Medizin unterstützen und so integrative Behandlungsansätze fördern.
Anmerkung
Aktuell ist ein Sonderheft der Zeitschrift
«Forschende Komplementärmedizin» (Band
20, suppl. 2, 2013) zum Thema «Tibetische
Arzneimittel in der modernen Medizin» er-
schienen. Die Beiträge können online her-
untergeladen werden unter http://kar-
ger.com/Journal/Issue/261035.
N
Anschrift der Verfasser Dr. Herbert Schwabl (Korrespondenzadresse) Dr. Cécile Vennos Padma AG 8340 Hinwil h.schwabl@padma.ch
Literaturreferenzen:
1. Vennos C., Schwabl H.: Tibetische Medizin: Vielstoffgemische in der modernen Forschung, Phytotherapie 2006; 3: 21–24.
2. Schwabl H., Vennos C.: Der «multi-target»-Ansatz tibetischer Heilmittel: Wirkmechanismen von Padma 28 im entzündlichen Geschehen am Beispiel der Arteriosklerose, Schweiz Zschr GanzheitsMedizin 2006; 18: 213–8.
3. Schwabl H., Vennos C., Saller R.:Tibetische Rezepturen als pleiotrope Signaturen – Einsatz von Netzwerk-Arzneien bei Multimorbidität, Forsch Komplementmed 2013; 20(Suppl 2): 35–40.
4. Schwabl H., Vennos C.: Tibetische Medizin: Grundzüge einer erweiterten Phytotherapie, Phytotherapie 2006; 2: 9–11.
5. Vidal M., Cusick M.E., Barabasi A.L.: Interactome networks and human disease, Cell 2011; 144: 986–98.
6. Varela F.J.: Principles of biological autonomy, North Holland; New York, Oxford, 1979.
7. Simko G.I., Gyurko D., Veres D.V., Nanasi T., Csermely P.: Network strategies to understand the aging process and help age-related drug design, Genome medicine 2009; 1: 90.
8. Bopp M., Holzer B.M.: Prävalenz von Multimorbidität in der Schweiz – Definitionen und Datenquellen, Praxis 2012; 101: 1609–1613.
9. Mercer S.W., Gunn J., Bower P.,Wyke S., Guthrie B.: Managing patients with mental and physical multimorbidity. BMJ 2012; 345: e5559.
10. Schwabl H, Vennos C, Saller R.: Tibetische Rezepturen als pleiotrope Signaturen – Einsatz von Netzwerk-Arzneien bei Multimorbidität. Forschende Komplementärmedizin. 2013; 20(suppl 2): 35–40.
11. Saller R., Holzer B.: Multimorbidität, Komorbidität und phytotherapeutische Vielstoffgemische als Arzneimittel, Forsch Komplementmed. 2010; 17: 300–302.
12. Saller R., Melzer J., Rostock M.: Antiinflammatorische wirksame Phytotherapeutika und ihr mögliches Potential bei tumorkranken Menschen, Forsch Komplementmed. 2011; 18: 203–212.
13. Gertsch J.: Botanical drugs, synergy, and network pharmacology: forth and back to intelligent mixtures, Planta Med 2011; 77: 1086–1098.
14. Ueberall F., Fuchs D., Vennos C.: Das antiinflammatorische Potential von Padma 28 – Übersicht experimenteller Daten zur antiatherogenen Wirkung und Diskussion des Vielstoffkonzepts, Forschende Komplementärmedizin 2006; 13 Suppl 1: 7–12.
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