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Titel
Arsenicum
Untertitel
Eparieren
Lead
Der dreijährige Sohn eines Chirurgenkollegen weiss genau, was sein Vater macht: «Eparieren!» Diese Tätigkeit, die sowohl Operieren wie Reparieren umfasst, übt der Vater nicht nur als Allgemeinchirurg aus, sondern sie erstreckt sich auch auf das Kleben zerbrochener Haushaltgegenstände, das Wiederherstellen von Spielzeug und das Instandsetzen von kaputten Elektrogeräten. Der Kleine hat gelernt: Egal, ob der Vater seinem Freund den entzündeten Appendix entfernt oder seinem Teddybären das Ohr annäht – nachher ist alles wieder gut.
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Rubriken — ARSENICUM
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5594
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Eparieren

D er dreijährige Sohn eines Chirurgenkollegen weiss genau, was sein Vater macht: «Eparieren!» Diese Tätigkeit, die sowohl Operieren wie Reparieren umfasst, übt der Vater nicht nur als Allgemeinchirurg aus, sondern sie erstreckt sich auch auf das Kleben zerbrochener Haushaltgegenstände, das Wiederherstellen von Spielzeug und das Instandsetzen von kaputten Elektrogeräten. Der Kleine hat gelernt: Egal, ob der Vater seinem Freund den entzündeten Appendix entfernt oder seinem Teddybären das Ohr annäht – nachher ist alles wieder gut. Zwar unterscheiden sich die Werkzeuge und die Kleber je nach Material, aber die Techniken sind dieselben und das Ziel auch. «Heil machen!», wie der Kleine sagt. Er traut seinem Vater zu, alles wieder in Ordnung zu bringen. Klebestellen und Nähte akzeptiert er. Vater konnte zwar nichts tun, als kürzlich die geliebte Urgrossmami starb, aber das hat ihm der Sohn nicht übel genommen. «Sie war richtig tot», erklärte er mir ernst. «Da kann man nichts mehr machen. Nur um sie rum sitzen, es weneli weinen, sich umarmen und das Züg verteilen. Ich habe ihr Sackmesser bekommen.» Der Kleine hat klar erkannt, was Endlichkeit ist, was noch zu retten ist und wer es retten kann. Und er weiss sogar, was eine Defektheilung ist. «Das Ohr lampt!», kommentiert er, den Teddybären im Arm. «Aber egal, Hauptsache es ist wieder dran!» «Hört er denn wieder gut?», frage ich und merke dann, dass ich den Intellekt des jungen Mannes unterschätzt und mich unmöglich gemacht habe. «Es ist doch nur ein Plüschteddy!», erklärt der Dreijährige. Erstaunt, dass ein Erwachsener so etwas nicht weiss. «Der hört doch nichts. Aber ohne Ohr hätte er scheisse ausgesehen.» Recht hat er. Manchmal ist eine kosmetische Korrektur entscheidend. Manchmal reicht sie nicht aus. Aber mit einer Reparatur lässt sich viel erreichen. Doch wir leben in einer Welt der Schadenhysterie. Jeder Blechschaden wird sofort in der Garage ausgebeult. «Schadstoffe» halten unsere Patienten in Todesangst. Vor lauter Panik, etwas Chemie-

gift in der Luft einzuatmen, müssen sie den Zigarettenkonsum verdoppeln. «Schädlicher Gebrauch!», urteilt ICD-10 über den Konsum von Tabak, Alkohol und anderen Drogen. «Bleibende Schäden …», seufzt der Psychiater, wenn sein Patient mal etwas Unangenehmes erlebt oder suboptimale Eltern hatte. Vor lauter Angst, zu Schaden zu kommen, versichern sich alle und realisieren dabei oft nicht, dass eine Versicherung nicht den Eintritt des Schadenereignisses verhindern kann, sondern allenfalls die materiellen Konsequenzen abmildert. Als Hausärzte können wir oft Schäden verhindern oder gering halten. Die frühzeitige Diagnose und die rechtzeitige Überweisung zum Spezialisten haben schon manchen unserer Patientinnen und Patienten gerettet. Und Defektheilungen sind besser als gar keine Heilung – das weiss sogar der Kleine mit seinem Teddybären. Doch anstatt dass wir Grundversorger betonen, wie viel wir «eparieren» (weil die Hausärzte nicht nur Wunden versorgen, sondern auch mal einen Hammerkopf fixieren, wenn der Nachbar genervt mit dem leeren Holzgriff kommt), jammern wir mit allen über die Schäden. Die Erkenntnis, dass Wunden verheilen und überwundene Schäden zu mehr Lebensglück beitragen können, scheint nur noch bei Selbsthilfegruppen vorhanden zu sein. Anstatt sich unserer Erfolge bewusst zu sein – vom vernarbten Knie bis zur halbwegs geretteten Ehe –, klagen wir Hausärzte über Schadensbilder von Soma und Psyche, die wir beobachtet haben. Und realisieren nicht, wie oft wir instrumentalisiert und manipuliert werden. Nehmen wir das Mundspülmittel M., welches uns von allen angepriesen wurde, weil es Zahnschäden verhüte. Tat es nicht, sondern griff den Schmelz an. Bewusst wurde die Angst vor Schäden geschürt, damit etwas verkauft werden konnte. Schauen wir mal kritisch an, was wir so alles verorden: Medikamente, Therapien … damit sich andere «schadlos» halten. Und manchmal müssen wir einen Schaden einfach so sein lassen, weil er nicht «eparierbar» ist.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 19 I 2013