Transkript
INTERVIEW
«Ein möglicherweise lebenslanges Schmerzproblem»
Neuropathische Schmerzen infolge onkologischer Therapien
Etwa jeder vierte Krebspatient leidet unter Schmerzen als Nebenwirkung der gegen den Tumor gerichteten Chemotherapie. Wir sprachen mit Dr. med. Steffen Eychmüller, Leitender Arzt des Palliativzentrums am Kantosspital St. Gallen, über die Entstehung, Häufigkeit und Prognose dieses iatrogenen Schmerzsyndroms.
Wie hat man sich die chemotherapieinduzierte Allodynie beziehungsweise Hyperalgesie vorzustellen? Eychmüller: Allodynie bedeutet, dass man «anders spürt». Bei der chemotherapieinduzierten peripheren Neuropathie ist das meist ein Kältegefühl und Taubheit in Händen und Füssen. Diese Allodynie kann im Alltag extrem limitierend sein. Es kommt zum Beispiel gar nicht so selten vor, dass sich die Patienten an Kochtöpfen die Hand verbrennen, weil sie die Hitze viel zu spät verspüren. Die Hyperalgesie, also die extreme Schmerzempfindlichkeit (gegenüber Berührungen), ist ein Schmerz, bei dem selbst allerkleinste Reize äusserst starke Schmerzempfindungen hervorrufen. Bei einer chemotherapieinduzierten Hyperalgesie sind vor allem die Akren betroffen. Das kann so weit gehen, dass die Patienten selbst den minimalen Druck von Socken und Strümpfen nicht mehr aushalten können.
ARS MEDICI: Herr Eychmüller, unter welchen Schmerzen leiden Krebspatienten als Folge ihrer Chemotherapie? Dr. med. Steffen Eychmüller: Die drei bedeutendsten klinischen Manifestationen einer peripheren Neuropathie, die durch onkologische Therapien ausgelöst wird, sind die äusserst schmerzhafte Hyperalgesie, die Empfindungsstörung Allodynie und eine gestörte Propriozeption, das heisst, die Patienten wissen nicht mehr so genau, in welcher Position sich ihre Gliedmassen gerade befinden. Das kann im Alltag mindestens genauso schlimm sein wie der Schmerz. Wir sprechen hier also über zwei verschiedene Aspekte, zum einen über den neuropathischen Schmerz und zum anderen über weitere Manifestationen dieser peripheren Neuropathie.
ARS MEDICI: Wie häufig sind Schmerzen als Nebenwirkung einer Chemotherapie? Eychmüller: Wir können davon ausgehen, dass insgesamt etwa jeder vierte bis fünfte Krebspatient unter Schmerzen als Nebenwirkung der gegen den Tumor gerichteten Therapie leidet. Es gibt glücklicherweise immer mehr Patienten, die ihre Tumorerkrankung überleben. Viele verdanken das aber – insbesondere bei soliden Tumoren – genau jenen klassischen Chemotherapeutika, wie Taxanen oder Cisplatin, bei denen es ganz häufig zu einer Chemotherapieinduzierten peripheren Neuropathie kommt. Diese Patienten haben in der Folge ein möglicherweise lebenslanges Schmerzproblem.
ARS MEDICI: Verschwinden diese Schmerzen, wenn man die Chemotherapie aussetzt? Eychmüller: Man weiss wenig darüber, und die Literatur ist spärlich. Wenn die Noxe entfällt, ist allenfalls das Potenzial vorhanden, dass sich dieser neuropathische Schmerz wieder zurückbildet. Wir wissen aber von anderen neuropathischen Schmerzformen, dass die pathophysiologischen Mechanismen extrem komplex sind, und wir kennen zelluläre Signalkaskaden bis hin zur DNA-Veränderung, die letztlich zu persistierenden, neuropathischen Schmerzen führen können. In der Forschung richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Zerstörung der Neuroglia bei neuropathischen Schmerzsyndromen. Es scheint, dass das Supportgewebe rund um die Nervenfaser irreversibel geschädigt ist, sodass der Schmerz persistieren kann, selbst wenn die Noxe nicht mehr besteht. Ganz genau weiss man das aber noch nicht.
ARS MEDICI: Was kann man gegen die Schmerzen tun? Eychmüller: Bei neuropathischen Schmerzen kommen generell Antidepressiva und Antiepileptika, beispielsweise Gabapentin und Pregabalin, infrage. Diese Substanzen beeinflussen die Funktion der präsynaptischen Kalziumkanäle, sodass es in der Folge zu einer verminderten Stimulation postsynaptischer Rezeptoren kommt. Man nimmt an, dass ihre analgetische Wirkung bei neuropathischen Schmerzen auf diesem Mechanismus beruht. Speziell zu den neuropathischen Schmerzen
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infolge einer Chemotherapie gibt es aber kaum Studien. Man kennt weder die optimale Dosis noch den besten Zeitpunkt für die Medikation. Darum handeln wir ganz pragmatisch und machen immer einen Behandlungsversuch mit diesen Substanzen. Eine weitere Möglichkeit, die wir ebenfalls bereits von anderen neuropathischen Schmerzsyndromen her kennen, sind NMDA-Rezeptor-aktive Opioide, nämlich Methadon und Ketamin. Ich habe einige positive Resultate für Methadon bei Patienten mit einer ausgeprägten, schmerzhaften Hyperalgesie und Allodynie gesehen. Hyperalgesie und Allodynie sind ja die beiden guten Indikationen für Methadon. In der Zukunft ist wahrscheinlich auch das Ketamin eine interessante Medikation, um die neuropathischen Schmerzkomponenten besser zu behandeln. Das gilt übrigens nicht nur für den chemotherapieinduzierten Schmerz, sondern ganz allgemein für neuropathische Schmerzen.
Dr. med. Steffen Eychmüller, Leitender Arzt, Palliativzentrum Kantonsspital St. Gallen
ARS MEDICI: Bei den neuropathischen Schmerzen sind also die NMDA-Rezeptoren entscheidend? Eychmüller: Das kann man so nicht sagen. Man weiss zwar, dass es bei neuropathischen Schmerzsyndromen zu einer postsynaptischen Vermehrung der NMDA-Rezeptoren kommt. Das ist aber nur einer der Mechanismen. Mindestens genauso wichtig sind die bereits genannten Funktionsveränderungen der zellulären Kalziumkanäle sowie die Schädigung der Neuroglia.
INTERVIEW
Fazit für die Praxis
■ Jeder vierte bis fünfte Krebspatient leidet unter Schmerzen als Nebenwirkung der gegen den Tumor gerichteten Chemotherapie.
■ Eine chemotherapieinduzierte Hyperalgesie kann so weit gehen, dass die Patienten selbst den minimalen Druck von Socken und Strümpfen nicht mehr aushalten können.
■ Ein chemotherapieinduziertes Schmerzsyndrom ist nicht dosisabhängig.
kämpfen. Darum bin ich davon überzeugt, dass die therapiebedingte periphere Neuropathie viel häufiger ist, als wir definitiv wissen.
ARS MEDICI: Weiss man, welche Patienten besonders gefährdet sind? Eychmüller: Nein, es gibt keine nachgewiesenen einzelnen Risikofaktoren. Risikokonstellationen sind allerdings klar: beispielsweise eine vorbestehende Polyneuropathie bei Diabetes mellitus. Wir wissen auch nicht, warum die Schmerzen bei dem einen Patienten so rasch kommen und bei dem anderen mit genau derselben Dosis überhaupt nicht.
ARS MEDICI: Gibt es auch therapeutische Ansätze, die auf die Neuroglia zielen? Eychmüller: Nein, die gibt es für den Einsatz beim Menschen noch nicht. Man hat sich in der Forschung jahrelang auf die Nervenfaser selbst konzentriert. Bei den neurogliaschädigenden Prozessen im Rahmen neuropathischer Schmerzsyndrome sind noch viele Fragen offen. Energieabhängige Prozesse scheinen eine Rolle zu spielen, und, stark vereinfachend gesagt, man versucht, die Energiezufuhr für bestimmte Rezeptoren in der Neuroglia zu vermindern, um die Pathogenese dieses Teils des neuropathischen Schmerzes zu bremsen. Aber hier ist noch extrem viel Grundlagenforschung nötig, und das können wir therapeutisch derzeit noch nicht nutzen.
ARS MEDICI: Ich habe den Eindruck, dass man zurzeit therapeutisch nicht sehr viel machen kann, oder täusche ich mich da? Eychmüller: Man kann in der Tat nur symptomatisch ansetzen und vor allem versuchen, die Hyperalgesie zu lindern – aber wenn das gelingt, ist das schon eine ganze Menge. Die Propriozeptionsstörung kann man medikamentös nicht behandeln. Man kann mit den Patienten aber trainieren, sodass sie beispielsweise weniger häufig stolpern. Das kennen wir auch von anderen Erkrankungen mit peripheren Neuropathien. Wenn man ergotherapeutisch gut berät und trainiert, ist das mindestens so wichtig wie eine medikamentöse Behandlung.
ARS MEDICI: Kommen wir zurück in den klinischen Alltag. Sie sagten einmal, iatrogene neuropathische Schmerzen seien viel häufiger, als das von Ärztinnen und Ärzten wahrgenommen werde. Warum? Eychmüller: Es gibt sicher den einen oder anderen Patienten, der diese Schmerzen aus Angst vor einem Therapieabbruch zu verheimlichen sucht. Krebspatienten stellen aber generell für sich immer eine ganz persönliche Rechnung der Vor- und Nachteile ihrer Therapie auf. Das betrifft nicht nur den Schmerz, sondern auch andere Nebenwirkungen: «Was nehme ich in Kauf, um dem Krebs Paroli zu bieten?» Es wird extrem viel in Kauf genommen, um die Tumorerkrankung zu be-
ARS MEDICI: Ist das chemotherapieinduzierte Schmerzsyndrom dosisabhängig? Eychmüller: Nein, das ist es nicht. Es kann schon bei minimalen Dosen dazu kommen. ARS MEDICI: Können auch andere Tumortherapien neuropathische Schmerzen auslösen? Eychmüller: Darüber wissen wir noch nicht viel. Beispielsweise ist die Radiotherapie in dieser Hinsicht ein unklares Kapitel. Nach der Bestrahlung bei Tumoren, die in Nervenplexus infiltrieren, können sehr komplexe Schmerzbilder zurückbleiben, zum Beispiel die gefürchteten, gemischt nozizeptiv-neuropathischen Schmerzen. Das ist bei der Radiotherapie gegen Knochenschmerzen anders, hier haben wir sehr viel bessere Resultate. Wir wissen also nicht, ob eine Bestrahlung bei Plexusinfiltration hinsichlich der Schmerzproblematik letztlich gut oder schlecht ist.
ARS MEDICI: Wie gut ist die Versorgung der Krebspatienten im Hinblick auf diesen Schmerz? Eychmüller: Wir haben versucht, die Antwort auf diese Frage aus der Studie «Pain in Europe» herauszulesen. Diese Studie ist allerdings relativ undifferenziert, und wir wissen nicht, welche Schmerzarten besonders gut oder besonders schlecht behandelt werden. Wir können aber allgemein sagen, dass der gemischte Schmerz mit nozizeptiven und neuropathischen Anteilen – und Letztere können eben auch chemotherapieinduziert sein – schwierig zu behandeln ist. Darüber hinaus ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Schmerz auch insgesamt schlechter diagnostiziert wird und die Patienten nicht optimal versorgt werden. Eines unserer wichtigsten Fortbildungsziele ist darum, dass in der Praxis und im Spital gezielt nach dem neuropathischen Schmerzanteil gesucht wird. Das ist sehr wichtig, denn die klassischen Analgetika und viele der µ-RezeptorOpioide helfen hier kaum oder gar nicht. Bei aller Euphorie für die Opioide – die ja gute Schmerzmittel sind – muss man auch daran denken, dass es eine opioidinduzierte Hyperalgesie gibt. Wenn man also einen Patienten mit Hyperalgesie vor sich hat, kann man diesem Patienten zwar ein klassisches Opioid wie Morphium geben; aber wenn seine Schmerzen danach schlimmer werden, darf ich unter Umständen nicht immer höher dosieren, sondern ich muss wegen der opioidinduzierten Hyperalgesie gegebenenfalls das Opioid wechseln.
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ARS MEDICI: Ist die schmerztherapeutische Versorgung von
Krebspatienten überall in der Schweiz gegeben oder muss man
als Patient Glück haben, in welcher Institution man landet?
Eychmüller: Die Vernetzung zwischen den Schmerzspezia-
listen und den Onkologen, aber auch beispielsweise mit der
Neurologie könnte besser sein, und die Abteilungen für
Schmerztherapie befinden sich an den meisten grösseren Spi-
tälern im internationalen Vergleich noch im Geburtsstadium.
Aber auch die Onkologen würden von einer besseren Vernet-
zung profitieren. Onkologen müssen sich mit vielen neuen
Therapieformen und genauso vielen neuen Nebenwirkungs-
spektren befassen, sie sollen gleichzeitig psychosoziale Kom-
munikationswunder vollbringen und quasi nebenbei die
Schmerztherapie erledigen – das ist in guter Qualität kaum zu
schaffen. Die Betreuung der Patienten ist in fachübergreifen-
den Krebszentren, im Sinne der sogenannten Comprehensive
Cancer Centers, wie sie von der ESMO* gefordert werden,
wahrscheinlich besser.
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Das Interview führte Renate Bonifer.
* ESMO: European Society for Medical Oncology
Kontaktadresse: Dr. med. Steffen Eychmüller
Leitender Arzt Palliativzentrum Kantonsspital St. Gallen
9007 St. Gallen E-Mail: steffen.eychmueller@kssg.ch
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