Transkript
VERNETZT
Curriculum Hausarzt Freiamt — ein Arterhaltungsprogramm
Ärztenetze haben Möglichkeiten, welche die Energien und Ressourcen einer einzelnen Praxis überschreiten würden. Die 12 Kollegen des Netzwerks Freiamt setzen sich konkret für den Nachwuchs in der Hausarztmedizin ein – das Projekt umfasst den ganzen Ärzteverband Freiamt und das dazugehörige Kreisspital Muri.
(Der einfacheren Lesbarkeit halber wird im folgenden Artikel nur die männliche Form verwendet. Gemeint sind — wo passend — beide Geschlechter)
Was haben Blauwal, grosser Panda und Hausarzt gemeinsam? Sie alle sind mehr oder weniger vom Aussterben bedroht. Bei Ersteren versuchen der WWF und verwandte Organisationen das Überleben zu sichern. Letzterem versuchen wir im Freiamt mit einem Arterhaltunsprogramm – dem Curriculum Hausarzt Freiamt – die Weiterexistenz zu ermöglichen. Dieses Ausbildungskonzept kann auch in anderen Spitalregionen problemlos implementiert werden.
Wie der Atlantische Fleckendelfin mit Jungem — begleitet der Hausarzt den jungen Kollegen beim Kennenlernen des Praxisalltags.
Das Jammern über den fehlenden Hausärztenachwuchs, über die geringe Wertschätzung unseres Berufes, die ausgebliebene Besserstellung durch Tarmed
und vieles andere mehr mag seine Berechtigung haben. Wir als Hausärzte dürfen aber auch dazu stehen, dass wir einen abwechslungsreichen, spannenden, meist befriedigenden und ganz ordentlich bezahlten Job haben. Dies dürfen wir auch dem medizinischen Nachwuchs vermitteln. Der Freiämter Ärzteverband und das Kreisspital Muri haben zusammen einen Ausbildungsgang entwickelt, der jungen Medizinern die hausärztliche Tätigkeit vertraut und schmackhaft machen soll. Im Wesentlichen besteht das Programm aus vier Schritten:
1. Einzeltutoriat Einige Kollegen im Freiamt betreuen Medizinstudenten ab dem 1. Studienjahr (Uni Bern) und aus dem 3. Jahr (Uni Basel) im Einzeltutoriat während einigen Halbtagen pro Semester. Die Erfahrungen der Studenten und der Lehrärzte sind fast durchwegs positiv. Es macht allen Beteiligten (auch den MPA) Spass, Lehrer und Lernender in der eigenen Praxis zu sein. Endlich schaut mir jemand bei meiner alltäglichen Tätigkeit über die Schultern und lobt mich für mein Untersuchungsgeschick oder macht mich auf Unzulänglichkeiten aufmerksam! Ich hoffe, dass möglichst viele Kollegen durch ein Einzeltutoriat die Begeisterung
für den Hausarztberuf bei den Studenten wecken können!
2. Wahlstudienjahr Das Spital Muri bietet weiterhin Stellen für Unterassistenten auf allen Abteilungen an. Vermehrt werden geeignet erscheinende junge Kollegen auf die Ausbildungsmöglichkeit zum Hausarzt am Spital Muri aufmerksam gemacht.
3. Curriculum Hausarzt Freiamt Die Gruppe der Studienabgänger, die Hausarzt werden möchte, wird immer kleiner. Die Ärzte in Ausbildung geben mit zunehmender Weiterbildungszeit immer weniger häufig das Berufsziel Hausarzt an. Um dem entgegen zu wirken, brauchen wir als Hausärzte eine Lobby am Spital. Wir müssen die Kontakte zu unseren potenziellen Nachfolgern in der Institution Spital intensivieren. Der Freiämter Ärzteverband hat deshalb mit dem Regionalspital Muri eine spezielle Form der Zusammenarbeit entwickelt. Bei der Stellenausschreibung werden gezielt an der Hausarztmedizin interessierte Kollegen gesucht. Ihnen wird angeboten, dass sie an allen Abteilungen des Spitals (Medizin, Chirurgie und Gynäkologie) eine Anstellung finden können. Zusätzlich besteht die Mög-
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Wie ein Pottwal abtauchen: Hausarzt nach gelungener Nachfolgeregelung.
lichkeit der Mitarbeit auf der Anästhesie, im Röntgen und auf der Geriatrie. Während der gesamten Weiterbildungszeit wird der junge Kollege von einem Hausarzt als Pate begleitet. Während zweier Halbtage im Monat besucht der Assistent seinen Götti in der Praxis. Dabei nimmt er an der Sprechstunde teil und macht Besuche mit. So lernt der junge Arzt die Besonderheiten der Hausarztmedizin und die Unterschiede zur Spitalmedizin kennen. Zusätzlich lernt der angehende Praktiker die betriebswirtschaftlichen Aspekte einer Hausarztpraxis mit all ihren Facetten kennen. Ab dem zweiten Weiterbildungsjahr in Muri darf der Assistent auch während insgesamt 10 Tagen pro Jahr bei den verschiedenen Spezialisten im Freiamt als Hospitant an der Sprechstunde teilnehmen. Er lernt so das ganze Netzwerk der praktizierenden Ärzte kennen und entschliesst sich möglicherweise Teil dieses ihm nun vertraut gewordenen Netzwerks zu werden. Die Praktika in den Praxen sind Teil der Arbeitszeit. Der Assistent wird durch das Spital weiter entlöhnt. Dem Praktiker entstehen keine Kosten. Er wird in der Pilotphase von der argomed, später vom Freiämter Ärzteverband mit rund 1000 Franken pro Jahr entlöhnt.
In diesem System gibt es nur Gewinner: Der Assistenzarzt kann seine im Spital gemachten Erfahrungen in der Praxis umsetzen und vom Götti das eine oder andere abschauen und wird von diesem auf die spezifischen Aufgaben des Hausarztes vorbereitet. Der Praktiker findet durch den jungen Kollegen einen engen Draht zum Spital und hat Zugang zu neuem Wissen. Vielleicht gelingt es ihm sogar, auf diesem Weg seinen persönlichen Praxisnachfolger mit auszubilden. Das Spital investiert in die Zukunft, indem es loyale und vor Ort ausgebildete Hausärzte in die Praxis im Freiamt entlässt.
4. Praxisassistenz Der Kanton Aargau stellt ab 2008 Geld für insgesamt 6 Jahresstellen «Praxisassistenz» aus dem Lotteriefond zur Verfügung. Dies bedeutet, dass alljährlich 12 Assistenten für sechs Monate in einer Lehrpraxis arbeiten können und dabei 75 Prozent des Lohns vom Staat beziehen. Junge Kollegen im HA-Curriculum am Spital Muri werden – sofern sie Interesse haben – rechtzeitig dem Aargauischen Ärzteverband gemeldet und können so eine entsprechende Praxisassistenz zugesprochen bekommen.
Am 1. Januar 2008 hat die erste Kollegin ihr Curriculum zum Hausarzt im Freiamt begonnen. Wir hoffen, dass jährlich 1 bis 2 Kollegen neu in diesen Ausbildungsgang aufgenommen werden können. Dank der ausgezeichneten und verständnisvollen Zusammenarbeit zwischen den involvierten Hausärzten und den Chefärzten und dem Spitaldirektor sollte es möglich sein, dass wir in den nächsten Jahren regelmässig gut ausgebildete und auf die Praxistätigkeit bestens vorbereitete Hausärzte als unsere Nachfolger begrüssen dürfen.
In Anlehnung an Senecas Zitat: «Wir
haben nicht zuwenig Zeit, wir haben zu
viel Zeit, die wir nicht nutzen», möchte
ich schliessen mit: «Wir haben nicht zu
wenige Hausärzte, wir haben zu viele
Ärzte, die nichts vom wunderbaren
Beruf Hausarzt wissen!»
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Dr. med. Roli Schumacher, seit 20 Jahren (meist) begeisterter
Hausarzt in Villmergen
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