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SGAI-SSAI
Hypothese über Zunahme chronischer Erkrankungen
Schädigen Umweltschadstoffe, Klimawandel und westlicher Lebensstil die Epithelbarriere?
In den letzten Jahrzehnten ist ein weltweiter, epidemieartiger Anstieg chronischer Erkrankungen zu beobachten. Eine Erklärung hierfür liefert die von Prof. Cezmi Akdis aus Davos aufgestellte EpithelbarriereHypothese, die diesen Anstieg auf eine zunehmende Störung von Epithelbarrieren des Körpers zurückführt. Die vielfältigen Mechanismen beschrieb der Schweizer Allergologe in seinem Übersichtsvortrag auf dem SGAI-SSAI-Jahreskongress 2025.
Etwa seit 1960 ist weltweit ein deutlicher Anstieg von Asthma und Allergien zu beobachten. Ähnliche Zunahmen finden sich in industrialisierten Ländern auch bei anderen chronischen Erkrankungen, wie Autoimmunerkrankungen und metabolischen Störungen. Nahrungsmittelallergien, die früher eine Seltenheit waren, haben vor allem seit der Jahrtausendwende drastisch zugenommen. Die eosinophile Ösophagitis ist eine Diagnose, die in älteren Lehrbüchern nicht einmal vorkam und inzwischen ebenfalls häufig gestellt wird.
Gerade der Anstieg seit der Jahrtausendwende steht zumindest im zeitlichen Zusammenhang mit der verstärkten Anwendung von Zusatzstoffen und Emulgatoren in verarbeiteten Nahrungsmitteln. Während viele Fertigprodukte noch vor 20 Jahren nur wenige Tage haltbar waren, besitzen die gleichen Produkte heute eine Haltbarkeit von einem Jahr, gab Prof. Akdis zu bedenken: «Was aber ist der Preis dafür?» So wurden seit 1960 etwa 350'000 neue Substanzen in das Lebensumfeld von Menschen und Tieren eingeführt, oft ohne eine ausreichende Kontrolle (1). Es fällt jedenfalls auf, dass viele chronische Krankheiten in dieser Zeit um ein Vielfaches zugenommen haben.
Epithelbarriere-Hypothese als mögliche Erklärung Eine Erklärung bietet die Epithelbarriere-Hypothese. Erstmals beschrieben wurde sie im Jahr 2000, damals noch mit dem Fokus auf die Hautbarriere. Im Lauf der nächsten Jahre wurde sie auf andere epitheliale Grenzschichten des Körpers ausgeweitet, die immunologischen Effekte sowie die beteiligten toxischen Substanzen wurden ebenfalls benannt. Eine Erkenntnis ist auch, dass eine Entzündung in einem Teil des Körpers ebenfalls zu Entzündungsreaktionen in anderen Kompartimenten führen kann. Die Entzündungsreaktionen werden durch Schadstoffe begünstigt, welche den Zusammenhalt der Epithelzellen beeinträchtigen und diese nicht nur für die Schadstoffe selbst, sondern auch für Mikroben
und Nanopartikel durchgängiger werden lassen, was Entzündungsreaktionen fördert. Neben den Schadstoffen beeinträchtigen auch Allergene die Epithelbarrieren. Zudem werden auch synergistische Effekte beobachtet: Patienten mit Hausstaubmilben-Allergien sind zu Hause auch vermehrt mit Mikro- und Nanoplastik sowie mit Luftschadstoffen konfrontiert; dies führt zur Verstärkung der Entzündungseffekte und somit zu einer verstärkten Symptomatik.
Das vermehrte Verständnis dieser Zusammenhänge führte zur Publikation einer Vielzahl an wissenschaftlichen Arbeiten, aus denen die folgenden Kriterien erarbeitet wurden, um die Krankheiten zu definieren, bei denen entsprechend der Epithelbarriere-Hypothese eine Beteiligung dieser Faktoren anzunehmen ist: • Steigende Prävalenz seit den 1960er- oder den 2000er-
Jahren, die nicht durch eine Änderung der Diagnose methode zu erklären ist, • epithelialer Barrieredefekt und Epithelitis (Nachweis von IL-1, IL-25, IL-33, TSLP u. vielen anderen Chemokinen), • mikrobielle Dysbiose mit Verlust der Kommensalen und Kolonisierung mit opportunistischen Pathogenen, • gemeinsames Auftreten unterschiedlicher Erkrankungen, die diese Kriterien erfüllen, im Rahmen von Multimorbiditäten, sowie eine • zirkulierende Inflammation.
Mehr als 70 Erkrankungen aus verschiedenen Bereichen Mit diesen fünf Kriterien wurden über 70 Erkrankungen identifiziert, bei denen die Epithelbarriere-Hypothese wohl eine Rolle spielt. Unter den Hauterkrankungen werden u.a. die atopische Dermatitis, Alopecia areata, allergische und irritative Kontaktdermatitis sowie die Psoriasis dazugezählt. Unter den Atemwegserkrankungen sind es das Asthma, die allergische Rhinitis, die chronische Rhinosinusitis sowie die COPD. Als gastrointestinale Erkrankungen werden die eosi-
20 congressselection Dezember | 2025
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nophile Ösophagitis, die Peridontitis, Nahrungsmittelallergien sowie die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen dazugerechnet. Auch neuropsychiatrische Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson, aber auch Erkrankungen des autistischen Spektrums sowie chronische Depression, Multiple Sklerose, die amyotrophe Lateralsklerose, Migräne und der ischämische Schlaganfall stehen nach heutiger Erkenntnis mit der gestörten Epithelbarriere in Verbindung. Von den Autoimmunerkrankungen hob Prof. Akdis die rheumatoide Arthritis, die Osteoarthritis, aber auch die Erkrankungen des metabolischen Syndroms wie Diabetes, Adipositas sowie die mit einer metabolischen Dysfunktion assoziierte Fettleber hervor. Unter den Augenerkrankungen sind die altersassoziierte Makuladegeneration und das Glaukom von Bedeutung. Weitere assoziierte Erkrankungen sind Anämie, Nierenerkrankungen im Endstadium, Herzversagen, Myokarditis und weitere kardiovaskuläre Erkrankungen; auch schwere Verläufe von COVID-19 haben eine Assoziation zur gestörten Epithelbarriere.
Die im Rahmen der Gesundheitseffekte beobachteten Zunahmen chronischer Erkrankungen sind dabei nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren zu beobachten und weisen dort Ähnlichkeiten zu den Erfahrungen in der Humanmedizin auf (2).
Sportler besonders von den Folgen betroffen Zusammen mit einer Arbeitsgruppe aus Davos befasste sich Prof. Akdis auch mit den Folgen einer geschädigten Epithelbarriere bei Sportlern (3). Sportler und körperlich aktive Menschen haben ein erhöhtes Risiko, Substanzen ausgesetzt zu sein, die die Epithelbarrieren und das Mikrobiom schädigen, und ihre extreme körperliche Belastung belastet viele Organe, was zu Gewebeschäden und Entzündungen führt. Die kalorienreiche Ernährung von Sportlern basiert oft auf verarbeiteten Lebensmitteln, die Emulgatoren und andere Zusatzstoffe enthalten können, die zu einer Funktionsstörung der Epithelbarriere und einer mikrobiellen Dysbiose beitragen können. Die Art der in Sportgeräten und -bekleidung verwendeten Materialien und deren umfangreiche Exposition können die entzündlichen Wirkungen verstärken. Daher ist diese Bevölkerungsgruppe von den Folgen der Barriereschädigung in besonderer Weise betroffen.
Zunehmender Einsatz von Zusatzstoffen als wichtiger Faktor Eine besondere Rolle für die Epithelschädigung spielt der sehr toxische anionische Emulgator Natriumdodecylsulfat bzw. Natriumlaurylsulfat (SDS, SLS). Die Substanz wird seit 1960 eingesetzt, zunächst in Wasch-Detergenzien, später auch in Schampoos und Haushaltsreinigern und nach 2000 auch in einigen Zahnpasten. SDS kann in Hausstaub, Kissen und Bettbezügen nachgewiesen werden. Die Substanz wirkt selbst in Verdünnungen von 1:50 000 zytotoxisch.
Eine weitere Gefahrenquelle sind die Substanzen, die modernen Spülmaschinen-Klarspülern zugegeben werden. Verantwortlich für den so beliebten Glanz der Gläser sind
alkoholische Alkoholetoxylate, die auf den Gläsern fest trocknen und in Verdünnungen bis zu 1:20 000 ihre toxische Wirkung entfalten können (4). Diese Substanzen werden von dem damit behandelten Geschirr permanent mitaufgenommen und schädigen vor allem das Darmepithel.
Auch verarbeitete Nahrungsmittel werden mit dem Ziel, die Haltbarkeit zu verlängern und eine Trennung der flüssigen Bestandteile zu verhindern, mit Emulgatoren, Konservierungsmitteln und Surfactants versehen. Sie entfalten ihre Wirkung, indem sie Pilze und Bakterien abtöten und die Speisen verdicken, sodass die Speisen lange appetitlich aussehen. Diese Wirkung sei wohl nicht wirklich ohne eine anschliessende Schädigung menschlicher Zellen zu erreichen, warnte Prof. Akdis.
Mikro- und Nanoplastik in allen Organen nachweisbar Etwa 9,5 Milliarden Tonnen Plastik wurden bereits produziert, und 7 Milliarden Tonnen verbleiben als Verschmutzung in der Umwelt, davon 1 Milliarde Tonnen Mikroplastik. Plastikpartikel sind in allen Organen, insbesondere in der Amnionflüssigkeit, in der Perikardflüssigkeit, in den Plaques von Koronararterien, im Gehirn, in Hoden und in Ovarien nachweisbar. Mikro- und Nanoplastik werden von Zellen aufgenommen und wirken immunmodulatorisch, machen Epithelbarrieren durchlässiger und interagieren mit Rezeptorbindungen. Das macht deutlich, dass Gewebebarrieren nicht in der Lage sind, wichtige Organe vor Mikroplastik zu schützen. Insgesamt hat die Verschmutzung mit Plastik einen wesentlichen Einfluss auf den Klimawandel, den Verlust an Biodiversität sowie auf die menschliche und tierische Gesundheit.
Mikroinflammation auch bei scheinbar gesunden
Personen
Neue Untersuchungen haben gezeigt, dass auch bei voll-
ständig beschwerdefreien Personen oft eine Mikroinflamma-
tion nachweisbar ist. Dazu wurden bei 95 «völlig gesunden
Personen» die 451 Serumproteine semiquantitativ unter-
sucht. Es gab eine Gruppe mit geringer, eine Gruppe mit
mittelgradiger und eine Gruppe mit hochgradiger Entzün-
dung. «Alle gesunden Menschen sind also nicht gleich. Es
gibt völlig Gesunde, aber auch Gesunde mit Entzündungs-
zeichen», betonte Prof. Akdis. Die Gruppe mit höheren Ent-
zündungszeichen zeigte auch eine höhere Risikokonstella-
tion für Mortalität jeglicher Ursache. Ausserdem wurden die
IgG-Aktivitäten gegen 344 000 Epitope untersucht. Das Er-
gebnis: Bei den Gesunden mit niedrigen Entzündungszeichen
war eine höhere IgG-Aktivität gegen Kommensalen nach-
weisbar. Wenn die Personen also eine gute Immunität gegen
die kommensalen Bakterien, die Epithelbarrieren überwin-
den, haben, weisen sie weniger systemische Entzün-
dungszeichen auf.
Das Zusammenspiel von Bakterien und Euka-
Neu ab 2026
ryonten ist eine Errungenschaft der langen gemeinsamen Evolution. «Als die erste
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Grafik: nach C. Akdis
SGAI-SSAI
Epithelbarriere-Hypothese
Fehlerhafte BarriereHeilungskapazität des Epithels
Epigenetische Regulation
und Chronifizierung
Genetische Ursachen und Exposition gegenüber barriereschädigenden Substanzen
Direkte Toxizität gegenüber Epithel
und Mikroben
Mikroinflammation in der Zirkulation und Chronifizierung
Migration von Entzündugszellen zu entfernten Organen
Entwicklung von allergischen, autoimmunen und neuropsychiatrischen
Krankheiten
Kolonisierug mit opportunistischen
Pathogenen
Direkte Toxizität gegenüber Epithel und Mikroben: Genetische Defekte in barrierebezogenen Molekülen oder die Exposition gegenüber Substanzen, die die Epithelbarriere schädigen, führen zu einer Störung der Hautund Schleimhautbarrieren und können auch eine direkte Toxizität für gesundheitsfördernde kommensale Mikroben aufweisen.
Epithelitis und mikrobielle Dysbiose: Es folgt eine Translokation der Mikrobiota in inter- und subepitheliale Bereiche und die Besiedlung durch opportunistische Krankheitserreger. Dies geht mit einer mikrobiellen Dysbiose und einer verminderten Biodiversität der kommensalen Bakterien einher. Die Epithelitis beginnt mit der Freisetzung mehrerer Alarmine.
Abwehrreaktion: Es entwickelt sich eine Immunreaktion gegen Kommensalen und opportunistische Krankheitserreger im Darm und im Atmungssystem, und es kommt zu einer systemischen Entzündung. Die Biodiversität nimmt aufgrund des Verlusts von Kommensalen und der Besiedlung durch opportunistische Krankheitserreger ab.
Verlust an Kommensalen; mikrobielle Dysbiose und abnehmende Biodiversität
Abwehrreaktion
Immunantwort auf Kommensalen und opportunistische
Pathogene
Translokation von Mikrobiota in subepitheliale Areale
Epithelitis und mikrobielle Dysbiose
Migration von Entzündungszellen zu entfernten Organen: Chronische Entzündung im subepithelialen Bereich ist einer der Hauptgründe für die Entwicklung chronischer Erkrankungen in den betroffenen Geweben. Entfernte Organe sind aufgrund von zirkulierenden Mikroentzündungen und Migration von aktivierten Entzündungszellen betroffen.
Epigenetische Regulation und Chronifizierung: Eine durch Entzündungen und epigenetische Veränderungen beeinträchtigte Fähigkeit zur Wiederherstellung der Epithelbarrierefunktion löst einen Teufelskreis aus undichten Barrieren, mikrobieller Dysbiose und chronischer Entzündung aus.
Pathogenetische Ereignisse als Mechanismen der Epithelbarriere-Theorie: Eine Kaskade von Ereignissen spielt eine Rolle bei der Pathogenese von Krankheiten, die mit der Entstehung vieler chronischer nichtübertragbarer Krankheiten in Verbindung stehen.
Prokaryonten-Zelle auf die erste Eukaryonten-Zelle traf, beschlossen sie, zusammenzuarbeiten», so Prof. Akdis. Daher tragen alle Eukaryonten-Zellen einige Prokaryonten-Zellen in sich. Diese evolutionäre Entwicklung führte dazu, dass beide Seiten die Nährstoffe, Vitamine und Metaboliten der anderen nutzen. Daher seien unsere kommensalen Bakterien wichtig für unsere Gesundheit, betonte Prof. Akdis. Diese evolutionäre Kooperation wird aber heutzutage gestört. So hat die Zahl der Kommensalen-Spezies im Darm von einst 4000 auf nunmehr 2000 abgenommen, die Zahl der Kommensalen-Spezies auf der Haut sank von 800 auf etwa 300.
Was passiert mit unseren Epithelbarrieren? Das Erste ist die Epithelitis: Bei Exposition gegenüber den verschiedenen toxischen Substanzen bricht die Barriere, und die Mikrobiota gelangen in tiefere Schichten. Das führt zur Inflammasom-Aktivierung und Freisetzung vieler Chemokine, das Immunsystem wird aktiviert. Der Körper reagiert auf dieses tiefere Eindringen und steuert dagegen – so kommt es zur chronischen Entzündungsreaktion. Ausser den Kommensalen können auch pathogene Bakterien wie Staphylococcus aureus leichter eindringen. Daher ist die Immunaktivierung einerseits wichtig, um Organentzündungen,
Abszesse und Sepsis zu verhindern, sie hat aber andererseits auch schädigende Effekte. Es entwickelt sich ein Teufelskreis aus Barriereschädigung und Inflammation, dessen Mechanismen unter dem Begriff der Epithelbarriere-Hypothese zusammengefasst wurden (Abbildung).
Adela Žatecky
Quelle: Vortrag «Epithelial Barrier Theory and the Development of Allergic, Autoimmune and Neuropsychiatric Diseases» beim Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (SGAISSAI) am 28. August 2025 in Lausanne.
Referenzen: 1. Wang Z et al.: Toward a Global Understanding of Chemical Pollution:
A First Comprehensive Analysis of National and Regional Chemical Inventories. Environmental Science & Technology 2020 54 (5), 2575-2584. doi: 10.1021/acs.est.9b06379 2. Ardicli S et al.: Epithelial barrier dysfunction and associated diseases in companion animals: Differences and similarities between humans and animals and research needs. Allergy. 2024;79:3238–3268. doi: 10.1111/all.16343 3. Kistler W et al.: Epithelial barrier theory in the context of nutrition andenvironmental exposure in athletes. Allergy. 2024;79:2912–2923. doi: 10.1111/all.16221 4. Ogulur I et al.: JACI 2023 Gut epithelial barrier damage caused by dishwasher detergents and rinse aids. J Allergy Clin Immunol. 2023;151(2):469-484. doi:10.1016/j.jaci.2022.10.020
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