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ARZT UND RECHT
Unfall oder Krankheit?
Beurteilung der natürlichen Kausalität bei unfallbedingten Körperverletzungen
Für die Beurteilung, ob und wie lange zwischen einem Unfall und einer organischen Körperverletzung ein Ursachenzusammenhang besteht, ist die Definition der natürlichen Kausalität des Bundesgerichts massgebend. Dabei genügt bereits eine Teilkausalität. Das Fallbeispiel einer Knieverletzung bei symptomfreiem Vorzustand zeigt: Die medizinisch-naturwissenschaftliche Kausalitätsbeurteilung stimmt für die Unfallversicherung nicht immer mit der juristischen Beurteilung überein.
Fallbeispiel Knieverletzung • Ein 45-jähriger Maler steht in einem 100%igen Anstel-
lungsverhältnis, ist obligatorisch unfallversichert und hat den folgenden, symptomfreien Vorzustand: Ruptur des vorderen Kreuzbands im linken Kniegelenk mit einer Läsion des Retinaculum patellae mediale (neun Jahre vor dem Unfall, konservativ behandelt, ohne Auswirkung auf Arbeitstätigkeit als Maler). • Beim Aussteigen aus der Badewanne ist der Maler ausgerutscht und nach vorne aus der Badewanne herausgefallen. Sofort traten extreme, nicht klar lokalisierbare, einschiessende Schmerzen ins linke Knie auf. Ob er das Knie beim Unfall verdreht hat, konnte er nicht genau sagen. Die Notfallbehandlung erfolgte am gleichen Tag. • MRI-Befund: komplexer Riss im Hinterhorn und im Korpus des medialen Meniskus, der bis zum Vorderhorn ausläuft; leichte Flüssigkeitsdurchtränkung der Weichteile anterior der Patella und der Patellarsehne, differenzialdiagnostisch einer Bursitis entsprechend; minimaler Gelenkerguss ohne Baker-Zyste. • Die Operationsindikation wurde sechs Tage nach dem Unfall gestellt. Diagnose: mediale komplexe Meniskusläsion links. Operation zwei Monate nach dem Unfall: Kniearthroskopie mit Teilmeniskektomie des Innenmeniskus und Plicaresektion. Verlauf nach Operation: postoperativer Hämarthros mit dreimaliger Punktion. • Nachdem die Operationsfolgen vollständig abgeheilt waren, konnte der Maler seine Tätigkeit wieder zu 100% aufnehmen.
«Unfall» gemäss Gesetz über die obligatorische Unfallversicherung (UVG) Der vorliegende Beitrag bezieht sich ausschliesslich auf unfallbedingte Verletzungen, wenn also der juristische Unfallbegriff (1) erfüllt ist: Ein Unfall ist die «plötzliche», «nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung» eines «ungewöhnlichen äusseren Faktors» auf den menschlichen Körper. Der Beitrag äussert sich nicht zur «unfallähnlichen Körperschädigung» (2) oder zu «Berufskrankheiten» (3).
Fall ff: Das Ausrutschen beim Aufstehen in einer Badewanne mit einer entsprechenden Krafteinwirkung auf das Knie stellt einen Unfall im Rechtssinne dar. Die Voraussetzungen der Plötzlichkeit, der nicht beabsichtigten schädigenden Einwirkung auf das Knie und des äusseren Faktors (rutschiger nasser Badewannenbelag) sind erfüllt.
Unfall oder Krankheit? Die obligatorische Unfallversicherung gemäss UVG bezahlt für Unfallfolgen zuerst vorübergehende und allenfalls anschliessend dauernde Sozialversicherungsleistungen wie Heilungs-/Operationskosten (4), Taggeld und Rente bei Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit (5) sowie eine Integritätsentschädigung (6). Dabei macht es für Verunfallte aufgrund des besseren Versicherungsschutzes gemäss UVG einen Unterschied, ob eine Unfallversicherung die Versicherungsleistungen erbringt oder eine Krankenversicherung. Der vom Unfall betroffene Körperteil kann jedoch bereits zum Zeitpunkt des Unfalls – häufig asymptomatische – Degenerationen (z.B. Knorpelschäden) und andere Vorzustände (z.B. Risse) aufweisen. Die Unfallversicherung ist nur so lange leistungspflichtig, wie Folgen eines Unfalls vorliegen, und erbringt für rein unfallfremde Gesundheitsstörungen keine Leistungen. Deshalb ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob und wie lange eine verunfallte Person unter Unfallfolgen leidet, resp. ob und wie lange eine Unfallversicherung leistungspflichtig ist. Um diese Fragen beantworten zu können, werden versicherungsmedizinische vertrauensärztliche Beurteilungen und Gutachten durchgeführt.
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Fall ff: Eine unabhängige gutachterliche Beurteilung ergab Folgendes: • «Vorzustand: überwiegend wahrscheinlich, dass sich
dieser innerhalb von neun Jahren bis zum Unfall schicksalshaft auch ohne Unfall zu dem nach dem Unfall nachweisbaren Meniskusriss entwickelt hat.» • «Der Unfall hat überwiegend wahrscheinlich zu einer vorübergehenden Verschlimmerung (3 bis 4 Monate bei prolongiertem Verlauf) eines krankhaften Vorzustands geführt.» • «Die Operation wurde überwiegend wahrscheinlich aufgrund eines krankhaften Vorzustands und nicht aufgrund der Unfallfolgen durchgeführt.» • «Die Operation wäre überwiegend wahrscheinlich ohne das Unfallereignis nicht zum gleichen Zeitpunkt und in der gleichen Art und Weise durchgeführt worden. Trotz Unfall wäre aber gar keine Operation notwendig gewesen. Da weder mechanische Symptome wie Blockaden oder eine Streckhemmung vorlagen, hätte einer konservativen Behandlung der Vorzug gegeben werden sollen.»
Natürliche Kausalität Ob und wie lange eine Unfallversicherung nach einer unfallbedingten organischen Körperverletzung Leistungen erbringen muss, hängt von der Beurteilung der natürlichen Kausalität zwischen dem Unfallereignis und der Gesundheitsstörung ab. Die natürliche Kausalität wird vom Bundesgericht in konstanter Rechtsprechung folgendermassen definiert (7):
«Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität der versicherten Person beeinträchtigt hat, der Unfall mit anderen Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele.»
Vor dem Hintergrund dieser Definition hat das Bundesgericht festgestellt, dass sich die Leistungspflicht des Unfallversicherers nicht nur auf unmittelbare bzw. direkte, sondern auch auf mittelbare bzw. indirekte Unfallfolgen erstreckt (8). Es ist danach zu fragen, was gewesen wäre, wenn sich der Unfall nicht ereignet hätte, und dies mit dem zu vergleichen, was nach dem Unfall war.
Kriterien zur Beurteilung der natürlichen Kausalität sind unter anderem: Unfallmechanismus, Schweregrad der somatischen Primärverletzung, Art der Verletzung, Komplikationen in der Behandlung, bildgebender Befund, zeitlicher Zusammenhang, (Funktionseinbussen im) Verlauf, Vorzustand, kon-
kurrierende Ursachen, Erkenntnisse aus der medizinischen Forschung. Angesichts der Tatsache, dass in vielen Fällen der genaue Unfallmechanismus aufgrund der Angaben der betroffenen Patienten nicht genau rekonstruiert werden kann, wird dem Kriterium des Unfallmechanismus zur Beurteilung der Unfallkausalität keine übergeordnete Bedeutung mehr beigemessen. Es geht vielmehr darum, die einzelnen Kriterien, die für oder gegen eine traumatische Genese der Verletzung sprechen, aus medizinischer Sicht gegeneinander abzuwägen und den Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wahrheit zu entsprechen (9).
Hinsichtlich der Frage, ob beispielsweise auch ein Sturz mit direktem Schulteranprall geeignet ist, eine Rotatorenmanschettenruptur zu verursachen, und welchen Einfluss das Alter hat, stellte das Bundesgericht fest, dass es nicht seine Aufgabe sei, den Expertenstreit hinsichtlich des Nachweises der Unfallkausalität von Rotatorenmanschettenrupturen zu entscheiden (10).
Teilkausalität Ist ein Gesundheitsschaden aufgrund eines geringen oder massiven Vorzustands nur teilweise auf die Folgen eines Unfalls zurückzuführen, stellt sich für ein Rechtssystem die Frage, ob die Unfallversicherung für diesen Schaden überhaupt nicht, teilweise oder vollständig aufkommen muss. Der Schweizer Gesetzgeber hat diese Frage für das Unfallversicherungsrecht gemäss UVG klar geregelt (11): Die Unfallversicherung hat auch bei einer (noch so geringen) Teilkausalität für den gesamten Gesundheitsschaden aufzukommen, obwohl er nur teilweise unfallbedingt ist (12). Die Unfallversicherung übernimmt in diesen Fällen Funktionen der Krankenversicherung (13).
Die Konsequenz der gesetzlichen Regelung in der Schweiz ist, dass die Unfallversicherung auch bei (massiven) Vorzuständen und (lediglich minimaler) Teilkausalität die vollen Versicherungsleistungen erbringen muss. Selbst wenn sich die Gesundheitsschädigung bei einer Gewichtung der konkurrierenden Ursachen zum stark überwiegenden Teil als Krankheitsfolge darstellt, ist die Unfallversicherung grundsätzlich vollumfänglich leistungspflichtig (14). Auch wenn z.B. die Gesundheitsschädigung weitgehend dem massiven Vorzustand zuzuschreiben ist und eine Kniegelenksdistorsion dem asymptomatischen Charakter des Knieleidens ein Ende setzte, ändert das nichts an der Teilursächlichkeit des Unfallereignisses (15).
Der Unfall kann auch eine (Teil-)Ursache für eine Operation sein Wenn eine Operation wegen eines Unfalls vorverschoben und damit zu einem früheren Zeitpunkt durchgeführt werden musste als ursprünglich geplant, begründet dies die natürliche Kausalität und damit die Leistungspflicht der Unfallversicherung (16). Dass ein operativer Eingriff früher oder später auch ohne Unfall notwendig geworden wäre, ändert nichts an der Leistungspflicht des Unfallversicherers (17).
Wenn der Unfall für die Operation nur zeitlich bestimmend war (18), ist für die Leistungspflicht der Unfallversicherung entscheidend, ob die bereits zuvor latente Operationsindika-
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tion durch die unfallbedingte Aktivierung des Vorzustands zur akuten geworden ist, oder aber, ob der Operationsbedarf lediglich bei den unfallbedingten kurativen und diagnostischen Handlungen (zufällig) entdeckt wurde, ohne dass die Operationsindikation einen inneren Zusammenhang mit dem Unfall aufwies (19).
Das bedeutet, dass eine Operation, die aus medizinischer Sicht rein unfallbedingt nicht notwendig gewesen wäre, die aber deshalb (möglicherweise fälschlicherweise) gemacht wurde, weil der Unfall einen Vorzustand aktiviert hat, aus juristischer Sicht in natürlichem Kausalzusammenhang mit dem Unfallereignis steht. Der beschriebene «innere Zusammenhang» zum Unfallereignis genügt für die Begründung der natürlichen Kausalität. Nur wenn im Rahmen der Behandlung eines Verunfallten per Zufall festgestellt wird, dass dieser aus einem unfallfremden Grund noch operiert werden müsste, fehlt es am «inneren Zusammenhang» und damit an der natürlichen Kausalität gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung.
Kommt eine rein medizinisch-wissenschaftliche Beurteilung zum Schluss, dass kein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, muss aus juristischer Sicht vor dem Hintergrund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum natürlichen Kausalzusammenhang geprüft werden, ob diese Beurteilung alle für den natürlichen Kausalzusammenhang wesentlichen Umstände berücksichtigt hat. Denn die natürliche Kausalität kann auch durch einen Umstand – wie eine Operation – begründet werden, der aus rein medizinischwissenschaftlicher Sicht nicht im Zusammenhang mit dem Unfall stand, aus juristischer Sicht aber nicht zum gleichen Zeitpunkt in der gleichen Art und Weise ohne Unfall vorhanden gewesen wäre.
Fall ff: Die Operation des Knies war aus medizinischer Sicht unfallbedingt nicht notwendig, sondern aufgrund des Vorzustands. Rein unfallbedingt hätte eine konservative Behandlung durchgeführt werden müssen. Die Operationsindikation wurde jedoch bereits wenige Tage nach dem Unfall gestellt, nachdem dieser zu einer vorübergehenden Verschlimmerung des Vorzustands geführt hatte. Es besteht damit ein innerer Zusammenhang mit dem Unfall. Ohne Unfall wäre die Operation nicht zum gleichen Zeitpunkt in der gleichen Art und Weise durchgeführt worden. Damit besteht aus juristischer Sicht der natürliche Kausalzusammenhang.
Adäquanz Die sogenannte Adäquanz (die ausschliesslich juristisch beurteilt wird) spielt als rechtliche Eingrenzung der sich aus dem natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des Unfallversicherers im Bereich der organisch objektiv ausgewiesenen Unfallfolgen praktisch keine Rolle, da sich hier gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung die adäquate Kausalität mit der natürlichen Kausalität deckt (20). Für nicht bildgebend/apparativ nachweisbare Unfallfolgen findet eine Adäquanzprüfung statt und führt gemäss aktueller bundesge-
richtlicher Rechtsprechung regelmässig zur Leistungsbefreiung der Unfallversicherung. Deshalb können auch grundsätzlich keine Leistungen für invalidisierende Schmerzen, deren Ursache nicht bildgebend/apparativ nachgewiesen werden kann, gegenüber einer Unfallversicherung durchgesetzt werden. Damit beschäftigt sich der vorliegende Beitrag nicht.
Fall ff: Bildgebend/apparativ ist ein organischer Körperschaden im Sinne eines komplexen Risses im Hinterhorn und im Korpus des medialen Meniskus nachgewiesen. Auch die durchgeführte Teilmeniskektomie und die Plicaresektion sind bildgebend/apparativ nachweisbar. Deshalb spielt die Adäquanz keine selbständige Rolle, sie ist mit der Bejahung der natürlichen Kausalität ebenfalls erfüllt.
Exkurs: Das deutsche Recht ist in der Schweiz nicht anwendbar! Anders als im Schweizer Recht wird im deutschen Recht die Adäquanz auch bei apparativ/bildgebend nachweisbaren unfallbedingten organischen Körperverletzungen separat geprüft. Der deutsche Richter ist dabei auf medizinisches Fachwissen angewiesen: Nach der deutschen «Theorie der wesentlichen Bedingung» ist die Unfallfolge nur adäquat, wenn der Unfall nach der Anschauung des praktischen Lebens eine «wesentliche Ursache» der Gesundheitsschädigung ist und folglich gegenüber anderen Ursachen (z.B. Degeneration, Krankheit) eine überragende Bedeutung spielt. Wenn der Unfall als Ursache im gesamten Ursachenspektrum (insbesondere Degeneration und andere unfallfremde Gesundheitsstörungen) im Hintergrund steht, ist er nach deutschem Recht nicht adäquat.
Äussert sich in der Schweiz ein Arzt oder eine Ärztin, ein Gutachter oder eine Gutachterin zur natürlichen Kausalität, wird diese medizinisch vor dem Hintergrund der bundesgerichtlichen Definition der natürlichen Kausalität geprüft und begründet. Werturteile oder eigene Überzeugungen dürfen dabei keine Rolle spielen. Auch bei einem massiven Vorzustand genügt nach Schweizer Recht eine auch noch so kleine unfallbedingte Teilkausalität für die Bejahung der natürlichen Kausalität.
Dauer der Zuständigkeit gemäss UVG Die Unfallversicherung ist für eine beschränkte Zeit vorübergehend zuständig (Heilungskosten und Taggelder), bis der Gesundheitszustand erreicht ist, der vor dem Unfallereignis vorlag (status quo ante) oder der sich auch durch den schicksalsmässigen Verlauf eines krankhaften Vorzustands ergeben hätte (status quo sine) (21) (Abbildung 1a und 1b).
Die Unfallversicherung ist zuerst vorübergehend (Heilungskosten und Taggelder) und anschliessend lebenslänglich (Heilungskosten, Invalidenrente und Integritätsentschädigung) zuständig, wenn das Unfallereignis zu einer richtungsgebenden Veränderung der Gesundheit geführt hat. Der Gesundheitszustand ist also aufgrund des Unfalls dauerhaft schlechter, als er ohne Unfall gewesen wäre. Das gilt auch bei einer richtungsgebenden Veränderung eines gleichbleibenden oder progredienten krankhaften Gesundheitszustands (22) (Abbildung 2a und 2b).
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Zeitlich beschränkte Zuständigkeit: status quo ante und status quo sine
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Abbildungen: E. Züblin
Abbildung 1a: Vorübergehende Zuständigkeit der Unfall- Abbildung 1b: Vorübergehende Zuständigkeit der Unfall-
versicherung, bis der status quo ante erreicht ist
versicherung, bis der status quo sine erreicht ist
Zeitlich unbeschränkte Zuständigkeit: richtungsgebende Veränderung des Gesundheitszustands
Abbildung 2a: Dauernde Zuständigkeit der Unfallversi- Abbildung 2b: Dauernde Zuständigkeit der Unfallversi-
cherung: richtungsgebende Veränderung bei gleichblei- cherung: richtungsgebende Veränderung bei progredien-
bendem Vorzustand
tem Vorzustand
Eine Operation stellt immer eine richtungsgebende Veränderung eines Gesundheitszustands dar. War sie erfolgreich, muss die Unfallversicherung häufig keine Leistungen mehr erbringen, weil der Gesundheitsschaden behoben werden konnte. Wenn die Operation nicht erfolgreich war oder wenn es zu einem Rückfall kommt, wird die Leistungspflicht der Unfallversicherung erneut begründet, weil aufgrund des Unfalls eine richtungsgebende operative Veränderung vorliegt und die Unfallversicherung für diese lebenslänglich zuständig ist.
Fall ff: Mit der Operation des Knies (Teilmeniskektomie des Innenmeniskus und Plicaresektion) ist eine richtungsgebende Veränderung am Knie herbeigeführt worden. Damit ist der Unfallversicherer für den Knieschaden grundsätzlich lebenslänglich zuständig. Beim Verlauf nach der Operation mit postoperativem Hämarthros und dreimaliger Punktion muss die Unfallversicherung Taggelder und Heilungskosten bis zur vollständigen Wiederaufnahme der Arbeitstätigkeit und bis zum Abschluss der Heilbehandlung bezahlen. Bei einem Rückfall ist die Unfallversicherung erneut zuständig.
Beweislast Wer aufgrund von Gesetz und Rechtsprechung eine Tatsache beweisen muss und diesen Beweis nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erbringen kann, trägt den rechtlichen Nachteil aus der unbewiesenen Tatsache. Im Zusammenhang mit der Beurteilung der natürlichen Kausalität zwischen Unfall und Gesundheitsschaden ist deshalb entscheidend, ob der Verunfallte oder die Unfallversicherung die Beweislast trägt.
Nach dem Unfall trägt der Verunfallte die Beweislast: Er muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit beweisen, dass der Unfall eine Verletzung verursacht hat, die behandelt werden muss und die zu Arbeitsunfähigkeit führt. Trotzdem ist es die Unfallversicherung, die dafür die notwendigen medizinischen Abklärungen durchführt, versicherungsmedizinische Beurteilungen veranlassen und gegebenenfalls Gutachten in Auftrag geben muss (23). Kann die natürliche Kausalität nicht nachgewiesen werden, ist die Unfallversicherung nicht leistungspflichtig.
Die Fragestellung an den medizinischen Sachverständigen lautet deshalb unter diesen Umständen wie folgt: Kann mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, dass zwischen dem Unfall und den Gesundheitsstörungen
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mindestens ein teilweiser natürlicher Kausalzusammenhang besteht?
Wenn die natürliche Kausalität zwischen Unfall und Gesundheitsschaden einmal nachgewiesen ist und die Unfallversicherung deshalb ihre Leistungspflicht anerkennt und Versicherungsleistungen für die Unfallfolgen erbringt, trägt die Unfallversicherung die Beweislast, wenn sie ihre Leistungen einstellen will: Dann muss sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit beweisen, dass entweder der status quo ante oder der status quo sine zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetreten ist (24).
Die Fragestellung an den medizinischen Sachverständigen lautet deshalb unter diesen Umständen wie folgt: Kann mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt auch kein teilweiser natürlicher Kausalzusammenhang mehr besteht?
Es ist aus juristischer und versicherungsmedizinischer Sicht etwas anderes, ob die Begründung des mindestens teilweisen natürlichen Kausalzusammenhangs oder der Wegfall jeglicher Teilkausalität mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden muss.
Vor diesem Hintergrund wird immer wieder die Frage kontrovers diskutiert, was genau nach dem Unfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als unfallbedingt nachgewiesen wurde resp. welche Befunde eine Unfallversicherung nach dem Unfallereignis im Hinblick auf ihre Leistungen als unfallbedingt anerkannt hat. Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, trägt der Verunfallte für die weitere natürliche Kausalität oder die Unfallversicherung für den Wegfall der natürlichen Kausalität die Beweislast.
Fall ff: Die Unfallversicherung hat nach dem Unfall ihre Leistungspflicht für den Knieschaden anerkannt und die Operationskosten bezahlt. Sie trägt deshalb die Beweislast für den vollständigen Wegfall der natürlichen Kausalität (Erreichen des status quo ante oder des status quo sine). Dieser Beweis gelingt ihr nicht, weil die Operation zu einer richtungsgebenden Veränderung des Gesundheitszustands geführt hat.
MERKPUNKTE
• Die medizinisch-naturwissenschaftliche Kausalitätsbeurteilung stimmt für die Unfallversicherung nicht immer mit der juristischen Beurteilung überein.
• Bei der Beurteilung der natürlichen Kausalität ist deren Definition durch das Bundesgericht für die Versicherungsmedizin massgebend.
• Medizinische Evidenz ist auch bei der Beurteilung der natürlichen Kausalität zu berücksichtigen. Entscheidend ist jedoch immer der konkrete Einzelfall.
• Bei einem Vorzustand ist medizinisch zu klären, ob dieser durch das Unfallereignis vorübergehend oder richtungsgebend verändert wurde.
• Teilkausalität genügt für die Leistungspflicht der Unfallversicherung. Medizinische Evidenz bezogen auf eine gesunde Population ist deshalb kaum direkt anwendbar.
• Medizinische oder juristische Vereinfachungen würden die Arbeit der Versicherungsmedizin erleichtern, sind aber mit einer Einzelfallgerechtigkeit nicht vereinbar.
Erich Züblin, MLaw, Rechtsanwalt indemnis Spalenberg 20 4052 Basel E-Mail: zueblin@indemnis.ch
Referenzen in der Online-Version des Beitrags unter www.arsmedici.ch
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Zur Person
Erich Züblin MLaw, Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Haftpflicht- und Versicherungsrecht, MAS Versicherungsmedizin. Er ist Mitglied der Studiengangskommission MAS Versicherungsmedizin der Universität Basel, Vorstandsmitglied der Swiss Insurance Medicine (SIM) und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der FMH-Gutachterstelle. Er arbeitet als Partner der Advokatur indemnis in Basel und Aarau ausschliesslich als Rechtsanwalt für Unfallopfer und Versicherte.