Transkript
FORTBILDUNG
Adjuvante Chemotherapie beim nicht kleinzelligen Bronchuskarzinom
Entscheid zur Durchführung unbedingt individuell diskutieren
Insgesamt nimmt das Bronchuskarzinom in der Statistik der krebsbedingten Todesfälle die Spitzenposition ein. Entsprechend können auch kleine Behandlungsfortschritte, welche die Heilungsrate beeinflussen, die Anzahl der krebsbedingten Todesfälle beträchtlich senken. Das Erkennen von Patienten, welche für eine adjuvante Chemotherapie (d.h. nach vollständiger Tumorresektion) zur Verbesserung der Überlebensrate infrage kommen, sowie deren richtige Beratung ist deshalb von entscheidender Bedeutung. In diesem Artikel werden die Entwicklung der adjuvanten Chemotherapie sowie die aktuelle Standardbehandlung beschrieben.
MARTIN FRÜH
tasen bedingt, wobei beim NSCLC die Rezidivrate schon in frühen Stadien besonders hoch ist. Im Falle eines Rückfalls mit Auftreten einer Fernmetastasierung besteht in der Regel kein kurativer Therapieansatz mehr. Dies resultiert in tiefen FünfJahres-Überlebensraten von 60 bis 70 Prozent für Patienten im Stadium I, 40 bis 50 Prozent im Stadium II und 25 bis 30 Prozent im Stadium IIIA (= Patienten mit mediastinalem ipsilateralem Lymphknotenbefall). Diese Beobachtung bildete schon vor Jahrzehnten die Grundlage zur Exploration eines potenziellen Nutzens einer adjuvanten systemischen Therapie. Während beim Dickdarm- und beim Brustkrebs die adjuvante Chemotherapie je nach Tumorstadium seit Längerem etabliert ist, hat sich diese beim NSCLC lange Zeit nicht durchsetzen können. Gründe hierfür waren, dass das NSCLC historisch als «chemotherapieresistent» galt und verschiedene ältere Chemotherapeutika tiefe Ansprechraten zeigten. Dies führte dazu, dass in älteren Studien teilweise sogar negative Effekte einer adjuvanten Chemotherapie (z.B. mit Alkylanzien) auf die Überlebensraten nachgewiesen wurden. Hinzu kommt, dass Lungenkrebspatienten als Folge des meistens vorhandenen Nikotinkonsums oft multiple Komorbiditäten aufweisen, was die Toleranz einer systemischen Therapie beeinträchtigt. Ebenfalls gilt es, zu erwähnen, dass es sich bei dem operativen Eingriff (in der Regel Lobektomie oder sogar Pneumonektomie) im Vergleich zu einer Brust- oder Kolonoperation um eine viel
Am Bronchuskarzinom versterben weltweit über 1 Million Menschen (1). In der Schweiz erkranken pro Jahr zirka 3200 Personen an Lungenkrebs. Insbesondere bei Frauen ist die Inzidenz aufgrund des geänderten Rauchverhaltens in den letzten Jahrzehnten auch in der Schweiz weiter ansteigend (Abbildung). Die Fünf-Jahres-Überlebensrate aller Patienten mit Lungenkrebs beträgt lediglich 15 Prozent. Bei Patienten mit lokalisiertem Stadium (Stadium I = ohne regionalen Lymphknotenbefall und Stadium II = mit regionalem Lymphknotenbefall) sowie einem Teil der Patienten mit Stadium III (mediastinaler Lymphknotenbefall) stellt die Operation die Standardtherapie dar. Leider präsentiert sich jedoch nur ein Drittel der Patienten mit nicht kleinzelligem Bronchuskarzinom (non-small cell lung cancer, NSCLC) in einem operablen Stadium (2, 3). Wie bei anderen Tumorentitäten ist der grösste Teil der Rückfälle durch das Auftreten von Fernmetas-
Merksätze
■ Die Verbesserung der Heilungsrate durch eine adjuvante cisplatinhaltige Chemotherapie bei Patienten mit NSCLC im Stadium II und III ist erwiesen.
■ Möglicherweise profitiert eine Subgruppe von Patienten mit Stadium IB (Tumoren > 4 cm) ebenfalls von einer adjuvanten Chemotherapie.
■ Wichtig ist die sorgfältige Patientenauswahl. Diese sollte in erster Linie den Allgemeinzustand und die Komorbiditäten berücksichtigen.
■ Idealerweise sollten bei jedem Patienten die postoperativen Behandlungsmöglichkeiten im Rahmen eines interdisziplinären Tumorboards besprochen werden.
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kardiovaskulären Ereignissen) in der Chemotherapiegruppe
nach 7,5-jähriger Beobachtungszeit verschwand (8). Dies zeigt
die Notwendigkeit einer langen Beobachtungsphase bei diesen
Studien auf. Eine anschliessende Analyse der fünf grössten
cisplatinbasierten und nach 1995 durchgeführten Studien
(LACE-Analyse) bestätigte den Effekt der Chemotherapie
und zeigte einen mittleren absoluten Überlebensvorteil von
5,4 Prozent nach fünf Jahren bei Patienten mit Stadium II und
III (9). Die Tabelle zeigt einen Überblick über diese Studien.
Wie in der Einleitung erwähnt, stellt die Umsetzung dieser Stu-
dienergebnisse in den klinischen Alltag jedoch durchaus nicht
selten ein Problem dar. Welche Patienten im Alltag für eine ad-
juvante Chemotherapie infrage kommen, ist letztlich ein Ent-
scheid des medizinischen Onkologen im Gespräch mit dem
Abbildung: Lungenkrebsmortalität in der Schweiz 1950—2004
Patienten und dessen Angehörigen. Es ist jedoch auch für den mitbetreuenden Allgemeinpraktiker wichtig zu wissen, welche
zusätzlichen Faktoren für die Entscheidungsfindung bezüglich
belastendere Operation handelt, von welcher sich die einer adjuvanten Chemotherapie eine Rolle spielen. Im Fol-
Patienten unter Umständen nicht rechtzeitig erholen, um genden werden die wichtigsten zu berücksichtigenden Fakto-
anschliessend einer adjuvanten Chemotherapie zugeführt ren kurz erläutert.
werden zu können.
Wichtige Faktoren für die Indikation
Übersicht über Studien
einer adjuvanten Chemotherapie
mit adjuvanter Chemotherapie
Alter: Obwohl das mediane Alter von Patienten mit NSCLC
Der Effekt der adjuvanten Systemtherapie wurde bisher in über beinahe 70 Jahre beträgt – und dieses mit dem Älterwerden
50 randomisierten Studien evaluiert. Eine 1995 publizierte unserer Gesellschaft in Zukunft noch weiter ansteigen wird –,
Metaanalyse (4) zeigte erstmals einen möglichen Vorteil einer waren Patienten dieses Alterssegments in den klinischen Stu-
adjuvanten platinhaltigen Chemotherapie gegenüber einer rei- dien stark untervertreten. So waren beispielsweise in der
nen Beobachtung. Der Überlebensvorteil fiel jedoch statistisch erwähnten LACE-Analyse nur 414 Patienten (10%) älter als
knapp nicht signifikant aus und führte entsprechend nicht zur 70 Jahre und lediglich 61 Patienten (1,3%) älter als 75 Jahre.
Aufnahme der adjuvanten Chemotherapie in den Behand- Während für die über 75-Jährigen aufgrund fehlender Daten
lungsalgorithmus im klinischen Alltag. Ein Hauptproblem war, somit keine eigentliche Behandlungsempfehlung bezüglich
dass die acht randomisierten Studien, welche in diese Meta- adjuvanter Chemotherapie gemacht werden kann, zeigten
analyse einflossen, mit insgesamt lediglich 1400 Patienten zu Subgruppenanalysen von Patienten über 70 Jahre einen ähnli-
klein waren, um einen beispielsweise
beim Brustkrebs nachgewiesenen absoluten Überlebensvorteil von zirka 5 Pro-
Tabelle: Überblick über adjuvante cisplatinbasierte Studien
zent aufzeigen zu können. Es dauerte bis in die Jahre 2003/2004,
Charakteristika
ALPI ANITA BLT IALT JBR.10
bis drei grosse randomisierte Phase-III-
Anzahl Patienten
1209 840 307 1867 482
Studien einen signifikanten und klinisch bedeutsamen Überlebensvorteil zeigten und diese Ergebnisse in der Folge zum
Stadium Performance-Status*
I—IIIA IB—IIIA I—III I—III IB—II kA 0—2 0—2 0—2 0—1
standardmässigen Einsatz einer adju-
Partner von Cisplatin
vanten cisplatinbasierten Chemothe-
+ Vinorelbin
nein ja ja ja ja
rapie führten (5–7). In diesen Studien
+ andere Medikamente
ja nein ja
ja nein
betrug der absolute Überlebensvorteil
durch die adjuvante Chemotherapie zwi-
Überlebensvorteil nach 5 Jahren (%) kein 8,6 kein
4,1
15
schen 4 und 15 Prozent. Anzumerken ist, dass der Überlebensvorteil in zwei dieser Studien auch nach längerer Beobachtungsdauer von über 7,5 Jahren erhalten blieb, während er in einer Studie wegen Überwiegen von nicht durch
* Performance-Status nach WHO oder ECOG
Abkürzungen: ALPI: Adjuvant Lung Project Italy/European Organisation for Research and Treatment of Cancer; ANITA: Adjuvant Navelbine International Trialist Association; BLT: Big Lung Trial; IALT: International Adjuvant Lung Cancer Trial; JBR 10: National Cancer Institute of Canada Clinical Trials Group (NCIC CTG) study JBR.10; kA: Keine Angaben.
Lungenkrebs bedingten Todesfällen (v.a.
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A DJ U VA N T E C H E M OT H E RA P I E B E I M N I C H T K L E I N Z E L L I G E N B R O N C H U S K A RZ I N O M
chen Vorteil der Chemotherapie wie bei den jüngeren Patienten. Interessanterweise fand sich dieser Vorteil, obwohl bei älteren Patienten durchschnittlich weniger Zyklen und geringere Dosierungen verabreicht wurden (10). Es ist jedoch sehr wichtig anzumerken, dass diese älteren Patienten einer stark selektionierten Population (guter Allgemeinzustand, wenige Komorbiditäten) entsprochen haben. Dies impliziert für die Praxis, dass ausgewählte ältere Patienten durchaus für eine adjuvante Chemotherapie infrage kommen können. Allgemeinzustand: Die Mehrheit der Patienten in den klinischen Studien befand sich in einem guten Allgemeinzustand. Im klinischen Alltag jedoch finden sich oft Patienten mit diversen Begleiterkrankungen sowie Komplikationen und mit längeren Erholungsphasen nach dem operativen Eingriff. Die LACE-Analyse zeigte mit zunehmender Reduktion des Allgemeinzustands eine signifikante Abnahme des Überlebensvorteils bei einer Chemotherapie (9). Die Studie vermutete sogar einen möglichen negativen Einfluss der Chemotherapie bei Patienten mit reduziertem Allgemeinzustand. Diese Beobachtung wurde auch in einer Analyse der grössten adjuvanten Chemotherapiestudie nach längerer Beobachtungsperiode von mehr als 8,5 Jahren bestätigt (8). Deshalb sollten in erster Linie Patienten mit gutem Allgemeinzustand für eine adjuvante Chemotherapie in Betracht gezogen werden. Alternative, besser verträgliche Therapien wie beispielsweise eine Vinorelbinmonotherapie werden zurzeit in Studien untersucht. Auswahl der Chemotherapie und Tumorstadium: Carboplatin wird generell besser als Cisplatin toleriert und wäre somit theoretisch bei älteren oder komorbiden Patienten eine geeignetere Therapieoption. Leider liegen uns zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nur positive Studien mit Cisplatin-Kombinationstherapien vor. Der in den positiven Phase-III-Studien am meisten eingesetzte Partner von Cisplatin war Vinorelbin, weshalb diese Kombinationstherapie allgemein als Standard angesehen wird. Somit sollte in der Praxis eine Kombinationstherapie mit Cisplatin/Vinorelbin der Standardtherapie entsprechen. Bei Patienten mit Kontraindikationen für Vinorelbin kann dieses mit einem anderen neueren Medikament ersetzt werden. Ob bei Patienten mit Kontraindikationen gegen Cisplatin mit Carboplatin der gleiche Überlebensvorteil erreicht werden kann, ist nicht geklärt. Bezüglich Stadium zeigt sich in den Studien ein klarer Vorteil bei Patienten im Stadium II und III, während die Behandlungsindikation im Stadium I prinzipiell nicht sicher gegeben ist. Retrospektive Subgruppenanalysen von zwei grossen randomisierten Studien zeigten jedoch einen Überlebensvorteil durch die adjuvante Chemotherapie bei Patienten mit Stadium IB und einer Tumorgrösse von >4 cm, sodass auch mit diesen Patienten eine adjuvante Chemotherapie besprochen werden sollte (11, 12).
Konklusion Zusammengefasst kann mit einer modernen platinhaltigen, adjuvanten Chemotherapie bei Patienten mit NSCLC im Stadium
II bis IIIA ein Überlebensvorteil erreicht werden. Bei der Inter-
pretation der Studienergebnisse und deren Übertragung in
den klinischen Alltag gilt es zu beachten, dass es sich bei den
Studienpatienten um ein selektioniertes jüngeres Patientengut
mit gutem Allgemeinzustand und mit höchstwahrscheinlich
wenigen Komorbiditäten handelte. Der Entscheid der Durch-
führung einer adjuvanten Chemotherapie sollte deshalb unbe-
dingt individuell im Gespräch mit dem medizinischen Onkolo-
gen gefällt werden; und zwar idealerweise nach vorgängiger
Fallbesprechung an einem interdisziplinären Tumorboard. Da
ein Patient während der initialen Krankheitsphase (verschie-
denste Abklärungen, Verarbeitung der Diagnose, längere Hos-
pitalisation, Rehabilitation) oft Meinungen von unterschied-
lichen Ärzten aus verschiedenen Disziplinen erhält, entsteht
nicht selten eine Verunsicherung. Der Hausarzt spielt deswe-
gen in der Beratung und Führung dieser Patienten in Zusam-
menarbeit mit dem medizinischen Onkologen eine wichtige
Rolle.
■
Korrespondenz: Dr. med. Martin Früh
Oberarzt Departement Innere Medizin Fachbereich Onkologie/Hämatologie
Kantonsspital 9007 St. Gallen Tel. 071-494 11 11, Fax 071-494 63 25 E-Mail: martin.frueh@kssg.ch
Interessenkonflikte: keine
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