Transkript
SYMPOSIUM
5. Internationale Tagung für Versicherungsrecht und Versicherungspsychiatrie
Begutachtung und Rehabilitation in der Versicherungspsychiatrie
Psychische Störungen haben nicht nur erheblichen Einfluss auf die individuelle Lebensqualität, sondern verursachen nachweislich auch deutlich zunehmende Kosten, die immer mehr auch kritisch hinterfragt werden. Daraus ergeben sich bezüglich fairen Umgangs mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen Fragen, die nur in enger Zusammenarbeit zwischen spezialisierten Juristen und Medizinern beantwortet werden können. An der 5. Internationalen Tagung für Versicherungsrecht und Versicherungspsychiatrie wurde dieser Austausch zwischen Gutachtern und Rechtsanwendern gefördert.
Was Menschen für Geld (nicht) tun
I st der Mensch ein Homo oeconomicus, der uneingeschränkt rational handelt und maximalen Nutzen will? Oder sind Menschen in ihrem Handeln eher uneigennützig? Diesen und weiteren Fragen ging Prof. Dr. Christian Ruff, Universität Zürich, nach. Ruff stellte Studien aus der Verhaltensökonomie vor, die aufschlussreich sind: G So verringert sich die menschliche Motiva-
tion für moralisches Handeln beispielsweise dann, wenn man dafür bezahlt wird. Ein Beispiel ist die Unterstützung von Freunden, wenn diese umziehen. «Wird diese Hilfe bezahlt», so Ruff, «fühlen sich die Freunde käuflich.» G Wenn bei Rechenaufgaben Geld oder eine Thermoskanne als Gewinn winkt, dann ist die Leistung höher, wenn mit der Thermoskanne bezahlt wird. «Es geht um die Absicht hinter der Zahlung», erklärte Ruff. «Denn wer statt Geld eine Thermoskanne schenkt, hat sich Gedanken über sein Gegenüber gemacht. Das beeinflusst die Entscheidung für diese Thermoskanne positiv.» Insgesamt, so Ruff, dächten und handelten Menschen nur begrenzt rational und seien auch nicht immer in der Lage, rational optimal zu entscheiden. Dieses Verhalten wird durch evolutionär bedingte Motive gesteuert. Die Risikoabschätzung ist beispielsweise in den Basalganglien angelegt und nicht im Neo-Cortex. Risikoabschätzung ist damit ein uralter Teil des Menschen. Ausserdem lösen mögliche Verluste stärkere Emotionen aus als mögliche Gewinne. «Ein Verlust wird vom Menschen somit lieber vermieden, da dieser nicht reparabel ist», so Ruff, «in Urzeiten war dieser Fakt überlebens-
wichtig.» Denn mögliche Gewinne (von Nahrung) sind immer optional und können durch andere Möglichkeiten ersetzt werden, während mögliche Verluste (z.B. eines Körperteils) oft den sicheren Tod bedeuteten. In modernen Zeiten widerspiegeln dies Lotteriespiele in Rahmen von Studien, in denen sicheres Geld durch Risikovermeidung gewahrt wird. Die emotionalen Einflüsse auf unsere Entscheidungen können aber auch hilfreich sein. Das sogenannte Bauchgefühl ist laut Ruff eine wichtige Informationsquelle. Allerdings können Angst und Impulse auch zu unproduktiven oder suboptimalen Entscheidungen führen. «Eine Nacht darüber zu schlafen», ist laut Ruff deshalb ein guter Ratschlag, um Druck von einer Situation zu nehmen. Zudem gibt die Impulskontrolle Stabilität. Studien zeigen, dass Kinder, die sich kontrollieren konnten und beispielsweise eine Süssigkeit nicht sofort gegessen haben, später im Leben erfolgreicher waren. In Bezug auf Strafen zeigt sich, dass insbesondere die Glaubwürdigkeit der Strafe wichtig ist. Diese muss unabhängig vom Status des Betroffenen erfolgen. Ein Beispiel ist die Gefängnisstrafe von Uli Hoeness, die zeigt, dass jeder ins Gefängnis muss, wenn er gegen das Gesetz verstossen hat.
Rente verhindern: Neue präventive Ansätze Krankschreibungen infolge psychischer Erkrankungen haben sich in den letzten Jahrzehnten verdoppelt. Psychische Erkrankungen seien der häufigste Grund für eine Erwerbsminderungsrente und führten trotz grossem persönlichem Leid selten zu einer adäquaten Behandlung,
sagte Prof. Dr. Harald Gündel, Universität Ulm. «Männer sind deshalb benachteiligt, weil sie aufgrund eines Selbststigmas weniger häufig Unterstützung beanspruchen», sagte Gündel. Denn Hilfe anzunehmen, würde dem männlichen Prinzip widersprechen. Eine 2018 im «Lancet» publizierte Studie von Kivimäki zeigt beispielsweise, dass Stress am Arbeitsplatz für Männer mit einer vorbestehenden kardiometabolen Erkrankung (KHK, Diabetes) ein unabhängiger und signifikanter Risikofaktor für Tod ist. Und deshalb, so Gündel weiter, sei es gerade auch für Männer wichtig, ein Gefühl für die eigene Stressbelastung zu entwickeln und dieser rasch entgegenzutreten, wenn sich erste Symptome zeigten. In Betrieben könnte in diesem Sinne ein Psychosocial Safety Climate geschaffen werden, und eine gemeinsam geteilte Wahrnehmung von gesundheitsorientierten Werten, Normen und Regeln könnte dazu führen, dass gute und kooperative Arbeitsbedingungen möglich sind. Eine solch betriebliche Stressprävention ist beispielsweise das Projekt MAN-GO, an dem Gündel beteiligt war. Im Rahmen des dreijährigen interdisziplinären Forschungsvorhabens wurde produktionsnahen Führungskräften der MAN Nutzfahrzeuge AG die Teilnahme an einem Stressbewältigungstraining am Arbeitsplatz angeboten. Begleitend fand ein jährlicher «Gesundheitscheck» mit Befundrückmeldung und Lebensstilberatung statt. In den Trainings wurde vor allem an der Verbesserung individueller Stressbewältigungsfähigkeiten und der Förderung sozialer Ressourcen gearbeitet. Neben einer Analyse der Stressursachen wurde dabei besonders auf eine verbesserte Wahrnehmung körperlicher Anspannung, den Abbau unrealistischer Kontrollansprüche, Konfliktbewältigung und einen bewussteren Umgang mit negativen Gefühlen Wert gelegt. Das Projekt stiess sowohl bei den Teilnehmern als auch im Management auf sehr positive Resonanz. Auch die Langzeitdaten überzeugen. MAN-GO wirke auch heute noch, hielt Gündel fest. Die Teilnehmer erlebten im Anschluss weniger häufig Gratifikationskrisen als die Vergleichsgruppe, und sie litten auch weniger häufig unter depressiver Stimmung. Aufgrund dieser Erfahrung, so Gündel, sei es heute das Ziel, ein niederschwelliges Angebot zur frühzeitigen Erkennung und Behandlung
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psychischer Beschwerden zur Verfügung zu stellen. Die Universitätsklinik Ulm bietet ein solches Setting neuerdings in Betrieben an. Bezahlt werden zwischen 2 und 12 Sitzungen. Daten zeigen, dass die Arbeitsunfähigkeitstage (AUF) nach einer solchen Intervention signifikant zurückgehen (p = 0,055). «Das Angebot kostet, aber mit weniger AUF ist das schnell wieder eingespielt», so Gündel. Ein weiteres Projekt ist SEEGEN (Seelische Gesundheit am Arbeitsplatz Krankenhaus). In der Zeit von 2017 bis 2021 sollen in diesem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützten Projekt Führungskräfte im Krankenhaus für das betriebliche Gesundheitsmanagement sensibilisiert werden.
Validierungsverfahren in der Psychiatrie Prof. Harald Dressing, Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim, ging auf die Möglichkeiten und Grenzen aktueller Validierungsverfahren in der Psychiatrie ein. So dürfen Gutachter die Authentizität von Beschwerdenschilderungen nicht stillschweigend voraussetzen, sondern müssen die Validität der geltend gemachten Beschwerden sorgfältig prüfen. Diese Selbstverständlichkeit, so Dressing, habe für Gutachter allerdings schon immer gegolten. Denn Gutachter seien neutral, so Dressing, und diese Neutralität erlangten sie durch die Reflektion ihrer Rolle. «Sie sind weder Interessenvertreter des Probanden noch des Auftraggebers, wobei der Begriff Patient zu vermeiden ist», hielt Dressing weiter fest. Dressing gab ferner Hinweise, wie in der Praxis mit spezifischen Situationen umgegangen werden kann. Liegen beispielsweise handschriftliche Aufzeichnun-
gen über die Exploration vor, sind diese in der Akte aufzubewahren. Bei ausländischen Probanden und dadurch entstehenden sprachlichen Verständigungsproblemen rät Dressing, im Zweifel immer professionelle Dolmetscher hinzuzuziehen, weil sonst das Gutachten nicht verwertbar sei. Der Dolmetscher müsse zudem darauf achten, dass er wörtlich übersetze. «Der Dolmetscher soll vermeiden, eine defizitär erlebte Antwort des Probanden zu korrigieren», sagte Dressing. Denn diese wörtliche Übersetzung kann dazu dienen, formale Denkstörungen zu erfassen. Werden dem Probanden Fragen gestellt, sollen diese so einfach wie möglich formuliert sein. Die Anwesenheit einer weiteren Person hält Dressing für kontraproduktiv, da diese den Aufbau einer Beziehung zerstören kann. Da es diesbezüglich aber keine eindeutige Rechtslage gibt, empfiehlt er den Einbezug eines Kollegen – falls notwendig. Beim psychopathologischen Befund hielt Dressing fest, dass Validität und Reliabilität der psychopathologischen Untersuchung nicht zu unterschätzen seien. Im Gegensatz zur Aggravation und Simulation seien Verdeutlichungstendenzen mehr oder wenige bewusste Versuche, den Gutachter von den geklagten Symptomen zu überzeugen. Dieses Phänomen sei aber häufig. Dressing rät dazu, verschiedene Zugangswege zu kombinieren, um beispielsweise Simulationen und so weiter erkennen zu können. Hilfreich sind diesbezüglich die SlickKriterien. Mit diesen liegen neuropsychologische Leitlinien vor, die eine Konsistenzprüfung bezüglich der Vereinbarkeit der Beschwerden mit dem Krankheitsbild, der Alltagsfunktionalität und der Lebenssituation der untersuchten Person ermöglichen.
Abschliessend hielt Dressing fest, dass es eine objektive Beurteilung im Sinne eines maschinellen Prozesses nicht geben werde. Dies gilt aber nicht nur für psychiatrische Gutachten, sondern auch für alle anderen medizinischen Disziplinen. Wesentliche Basis ist und bleibt der psychopathologische Befund, bei dem es sich um ein reproduzierbares Ergebnis handelt, sofern die professionellen Standards beachtet werden.
Begutachtung
und Wiedereingliederung
Prof. Michael Liebrenz und Dr. Roman Schleifer,
Universität Bern, zeigten in ihrem Workshop an-
schaulich, dass Prognosen (in der Psychiatrie)
mit Vorsicht zu geniessen sind. Denn obwohl
sich Entscheidungen auf Prognosen stützen,
weisen diese Grenzen der Determiniertheit auf.
Wenn ein HIV-Test beispielsweise eine Spezifität
von 99,9 Prozent hat, liegt das Risiko, sich zu in-
fizieren, nicht bei null. Vielmehr würde ein Ri-
siko von 50 Prozent bedeuten, dass 1 Test auf
1000 falschpositiv ausfällt. Wie wiederum soll
dann eine erhebliche Verbesserung einer
psychiatrischen Erkrankung prognostiziert wer-
den? Liebrenz und Schleifer haben mit REAcT
ein Tool entwickelt, mit dem sich das Risiko für
Einschränkungen der beruflichen Aktivität und
Teilhabe erfassen lässt. REAcT soll helfen, wei-
tere Interventionsschritte in Bezug auf die be-
rufliche Wiedereingliederung zu planen. Die
Version enthält 35 Items (Themen). Das Instru-
ment steht Anwendern unter www.react-
online.ch kostenlos zur Verfügung. Es erleich-
tert die Plausibilität und die Nachvollziehbar-
keit für Anwender.
G
Annegret Czernotta
Quelle: 5. Internationale Tagung für Versicherungsrecht und Versicherungspsychiatrie, 18.1.2019, Universitätsspital Basel.
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