Transkript
FORTBILDUNG
Behandlung von Suchtpatienten mittels Motivational Interviewing
Motivational Interviewing ist mittlerweile integraler Bestandteil vieler Beratungs- und Therapieformen. Zentral sind nicht nur die verschiedenen Techniken und Methoden, sondern insbesondere die zugrunde liegende humanistische Grundhaltung, welche diesen Therapiestil prägt. Im folgenden Artikel soll das Verfahren näher vorgestellt und beschrieben werden. Für welche Patienten eignet sich beispielsweise diese Therapie, und weshalb lohnt es sich, Motivational Interviewing zu lernen?
Otto Schmid Stephanie Fehr
von Otto Schmid und Stephanie Fehr
Einleitung
D ie Therapieabbruchraten bei abhängigen Menschen sind sowohl in stationären als auch ambulanten Behandlungen hoch (1, 2). Sie betreffen laut Studien mehr als die Hälfte der Patienten. Eine Behandlung kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, den Patienten über einen Mindestzeitraum in der Therapie zu halten (3, 4). Mit Mindestzeitraum ist gemeint, dass bis dann die Therapie erfolgreich beendet ist oder zumindest die wichtigsten Therapieziele erreicht sind. Bei einer Entzugsbehandlung kann das 10 Tage bedeuten, in einer Langzeitbehandlung wie der Substitutionstherapie, sprechen wir von mehreren Jahren, bis eine Stabilität eingetreten ist. Studien zum Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg zeigen denn auch übereinstimmend, dass die Länge der Zeit in Therapie positiv mit dem Therapieerfolg korreliert. Motivationsprüfungen, beispielsweise in Form von mehrmaligen Vorgesprächen, haben sich teilweise als kontraproduktiv erwiesen (5, 6). Motivationsfördernde Interventionen hingegen haben die Problemeinsicht und Bereitschaft einer Verhaltensänderung und damit die Akzeptanz gegenüber einer Behandlung verstärkt. Motivational Interviewing (MI) ist das wohl effektivste und wirkungsvollste Verfahren zur Förderung der Veränderungsmotivation. Der wegweisende Fortschritt liegt darin, dass Menschen erreicht werden können, die keine oder nur wenig Bereitschaft zeigen, ihr Verhalten ändern zu wollen.
Was ist Motivational Interviewing? Die motivierende Gesprächsführung von William R. Miller und Stephen Rollnick (7) wurde als Konzept zur Beratung von Menschen mit Substanzstörungen ent-
wickelt und wird mittlerweile in unterschiedlichen Fachbereichen erfolgreich angewandt. MI ist ein sowohl personenzentrierter als auch direktiver und kooperativer, aber nicht konfrontativer Behandlungsstil, der die Ambivalenz zwischen Vorsatz beziehungsweise der Absicht und dem Wunsch nach Veränderung berücksichtigt. Es ist ein möglicher Ansatz, um die Problemerkennung und die Compliance zu verbessern und die Wahrscheinlichkeit, eine Beratung aufzunehmen, zu erhöhen. Zudem erweist es sich bei Patienten als nützlich, die bezüglich einer Verhaltensänderung ambivalent sind, und ist primär darauf ausgerichtet, die Motivation zur Veränderung des Substanzkonsums zu verstärken. Geprägt ist MI von den klientenzentrierten Ansätzen Carl Rogers’ (8). Jedoch entspricht MI auch den Annahmen der sozialen Lerntheorie nach Bandura (9) und der kognitiv-behavioralen Rückfallmodelle nach Marlatt und Gordon (10). MI ist Beratung und Therapie auf Augenhöhe. Die Vereinbarung der Behandlungsziele in gegenseitigem Einvernehmen sowie die Transparenz sollen den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung erleichtern. Die wegweisende Änderung erreichte MI, weil es Menschen nicht «hart» konfrontiert und sie mit Macht auf ihr Problem stossen lässt, sondern eine respektvolle und offene Grundhaltung voraussetzt. Aus dieser Grundhaltung von Partnerschaftlichkeit, Akzeptanz, Mitgefühl und Evokation, die Miller und Rollnick «Spirit» nennen, resultieren die vier Basisprozesse, auf denen die praktische Anwendung aufbaut.
Die Basisprozesse der motivierenden Gesprächsführung Beziehungsaufbau: Der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung ist die Voraussetzung für alles Folgende. Damit ist der Prozess gemeint, der zur Herstellung einer von gegenseitigem Vertrauen und Re-
&4 3/2016
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
spekt bestimmten unterstützenden Beziehung führt. Empathie ausdrücken: Der empathische Therapiestil und die empathische Gesprächsführung werden von Anfang an und während des ganzen Prozesses angewendet. Der Therapeut versucht, die Gefühle und Vorstellungen zu verstehen, ohne sie zu werten. Diskrepanz entwickeln: In diesem Punkt unterscheidet sich MI von der klassischen klientenzentrierten Psychotherapie wesentlich. MI ist direktiv und versucht, die Ambivalenz abzubauen, indem Widersprüche aufge-
Dabei ist es wichtig, eine Atmosphäre der Akzeptanz und des Vertrauens zu schaffen, damit die Patienten Zeit haben, zu sprechen, und der Therapeut vor allem aufmerksam zuhört und durch möglichst frühes Fragenstellen zum Sprechen animiert. Analysen von erfahrenen MI-Therapeuten zeigen, dass die Patienten während mehr als der Hälfte der Sitzungen sprechen. Therapeut: «Erzählen Sie mir etwas mehr von Ihrem Kokainkonsum. Was denken Sie darüber? Was gefällt Ihnen daran? Was bereitet Ihnen daran Sorgen?»
Abbildung 1: Kosten-Nutzen-Waage (Miller & Rollnick, 1999)
Reflektierendes Zuhören: Eine der wichtigsten, aber auch schwierigsten Methoden ist das aktive oder reflektierende Zuhören. Dies bedeutet, dem Patienten das Gehörte in einer anderen, vertiefteren Form rückzumelden. Reflektierendes Zuhören umfasst, den gesamten Prozess bewusster zu machen, indem das Gesagte in Form einer Aussage und nicht einer Frage reflektiert wird, was sehr viel Übung voraussetzt. Gelingt es dem Therapeuten, durch sein Ohr für Zwischentöne und emotionale Hintergründe bis anhin noch nicht Ausgesprochenes hervorzulocken, verhilft dies dem Patienten zu mehr Klarheit über sich selbst und zu Einsicht in die Beweggründe seines Verhaltens. Der Patient fühlt sich auf diese Weise nicht nur gehört, sondern wirklich verstanden. Patient: «Meine Frau nörgelt dauernd wegen des Trinkens an mir rum.» Therapeut: «Das ärgert Sie. Und gleichzeitig klingt es so, als würde sie sich auch Sorgen um Sie machen. Es scheint ihr nicht gleichgültig zu sein, wie es Ihnen geht.»
Abbildung 2: Zuversicht-Skala (Miller & Rollnick, 2005)
zeigt werden. Es gilt hier also, den Patienten dabei zu unterstützen, die Diskrepanz zwischen dem gegenwärtigen Verhalten und den grundsätzlichen, persönlichen Zielen und Werten, die ihm wichtig sind, wahrzunehmen. Wobei das gegenwärtige Konsumverhalten und die mit einer Veränderung verbundenen Kosten thematisiert und ernst genommen werden müssen. Selbstwirksamkeit fördern: Die Selbstwirksamkeit wird gestärkt, indem der Patient in der Zuversicht bestärkt wird, Veränderungen erreichen zu können. Hierbei handelt es sich um einen zentralen Aspekt der Motivation, der sich als wichtig für den Behandlungserfolg erwiesen hat.
Spezifische Kernkompetenzen Hilfreiche Interventions- und Gesprächstechniken, die sich wie ein roter Faden durch den Therapieprozess ziehen sollten, bilden das Gerüst motivierender Gesprächsführung. Alle Kernkompetenzen stehen in enger Beziehung zu den vorgängig vorgestellten Basisprozessen. Offene Fragen stellen: Diese sollen den Patienten ermutigen, ausführlich über seine Sichtweise zu sprechen.
Bestätigen und würdigen: Motivation lässt sich massgeblich fördern, wenn erwünschte Verhaltensweisen positiv verstärkt, in angemessener Weise gewürdigt und wertgeschätzt werden. Therapeut: «Es muss für Sie schwer sein, täglich ein Leben voller Stress zu bewältigen. Ich muss sagen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich das auch ganz schön schwierig finden. Ich glaube, das ist auch ein Grund, weswegen Sie hier sind. Sie wollen diese Form von Stress nicht länger ertragen.»
Zusammenfassen: Regelmässige Zusammenfassungen sind hilfreich, um Ambivalenz deutlich zu machen. Sie verstärken, was gesagt wurde, sie zeigen, dass aufmerksam zugehört wurde, und ermutigen die Patienten, mit dem Gespräch fortzufahren. Zudem geben Zusammenfassungen dem Patienten die Möglichkeit, etwas zu ergänzen oder zu korrigieren. Therapeut: «Wir sind nun fast am Ende dieser Sitzung und ich möchte kurz noch einmal überprüfen, ob ich die Situation richtig verstanden habe ...»
Change-Talk hervorrufen: Dies ist eine sehr direktive Technik, in der es darum geht, selbstmotivierende Aussagen hervorzurufen und Argumente für eine Veränderung zu äussern. Sie erlaubt dem Patienten, die Nachteile des Status quo und die Vorteile einer Veränderung zu erkennen. Sie unterstützt den Patienten darin, eine Veränderungsabsicht und Zuversicht bezüglich einer Veränderung zu entwickeln. Patient: «Ich denke, das Problem ist grösser, als ich dachte. Ich bin deswegen wirklich in Sorge.»
&6 3/2016
PSYCHIATRIE NEUROLOGIE
FORTBILDUNG
Sustain-Talk: Menschen mit Substanzstörungen benötigen unterschiedliche Behandlungsansätze, wobei sich konfrontative Methoden in der Gesamtbetrachtung als ineffektiv erwiesen haben (11). Konfrontative Therapien haben sogar oft zu unerwünschten oder gar kontraproduktiven Ergebnissen geführt (12). Im neuen Konzept (2013) wird nicht mehr von Widerstand, sondern von Sustain-Talk gesprochen, da Widerstand das Problem nur im Patienten sieht und ihm die Verantwortung zuweist. Sustain-Talk jedoch ist weder pathologisch noch widerständig, er zeigt lediglich eine Seite der Ambivalenz. Dennoch ist es wesentlich, konstruktiv und mit Offenheit auf diese Ambivalenz zu reagieren. So argumentieren wir nicht nur für eine Veränderung, vielmehr geht es darum, neue Perspektiven vorzustellen, nicht vorzuschreiben und neue Informationen zu überdenken – für den Patienten ist es sehr schwierig, auf diese Haltung destruktiv zu reagieren.
Prozessphasen motivierender Gesprächsführung MI durchläuft zwei Phasen. Während der ersten Phase wird die intrinsische Motivation für eine Veränderung aufgebaut und versucht, die Ambivalenz zu überwinden. Die zweite Phase umfasst die Verstärkung der Selbstverpflichtung zur Veränderung und die Entwicklung eines konkreten Plans, um diese umzusetzen. Damit man die Ambivalenz des Patienten verstehen kann, ist es notwendig, seine Wahrnehmung bezüglich der Dringlichkeit und der Zuversicht zu explorieren. Dies lässt sich mithilfe von zwei visuellen Skalen von 0 bis 10 erfassen.
Motivational Interviewing – für wen? MI wurde insbesondere in Abgrenzung zu herkömmlichen, meist konfrontativen Beratungsmethoden entwickelt (13), wobei MI weitgehend auf konfrontatives Vorgehen verzichtet. Besonders geeignet ist diese Therapiemethode für abhängige Patienten, deren Veränderungsbereitschaft in Bezug auf den Substanzkonsum sehr gering ist. Das Verfahren ist zudem sehr wirksam, wenn nur wenig Zeit zur Verfügung steht (7). Dies könnte eine Chance für niedergelassene Ärzte sein. Ein überwiegender Teil abhängiger Patienten wird in Hausarztpraxen behandelt, oder eine Abhängigkeit wird dort erstmals diagnostiziert. Erfahrungen zeigen, dass in der Behandlung von Menschen mit Substanzstörungen viele kurze Denkanstösse zu unterschiedlichen Zeitpunkten häufig mehr bewirken können als intensive und lange Therapieeinheiten. Motivationale Kurzinterventionen bei Hausärzten stellen somit eine wichtige Behandlungsform dar, um eine Verhaltensänderung einzuleiten und die Bereitschaft zu erhöhen, weiterführende Hilfen bei Spezialisten in Anspruch zu nehmen.
Motivierende Gesprächsführung lernen MI verlangt komplexe klinische Fertigkeiten und setzt langjährige Therapiepraxis voraus. Sie stellt eine besondere Herausforderung für Trainer und Supervisoren dar und kann nicht durch das Nachlesen von Konzepten oder Anhören von Vorträgen erlernt werden. Erfahrungsgemäss sind Schulungen und Fortbildungen in Gruppengrössen von 15 bis 20 Personen von mindestens drei Tagen notwendig, um die Grundkenntnisse
der Basisprozesse und der Kernkompetenzen zu vermit-
teln. Oftmals ist es sinnvoll, nach der Grundausbildung
nach wenigen Wochen einen Refresher-Tag anzubieten,
um den Teilnehmenden in dieser Zeit die Möglichkeit
zu geben, Erfahrungen zu sammeln und diese dann su-
pervisorisch zu reflektieren.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Otto Schmid
Trainer für Motivational Interviewing und Mitglied der
internationalen Gesellschaft «Motivational Interviewing
Network of Trainers» (MINT)
Geschäftsleiter Suchtcoach Institut
Bellinzonastrasse 8
4059 Basel
E-Mail: otto.schmid@suchtcoach.ch
www.suchtcoach.ch
Stephanie Fehr, M. Sc., Klinische Psychologin, Suchttherapeutin und Trainerin für Motivational Interviewing an der
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich
Literatur:
1. Coviello DM, Alterman AI, Rutherford MJ, Cacciola JS, McKay JR, & Zanis DA: The effectiveness of two intensities of psychosocial treatment for cocaine dependence. Drug Alcohol Depend 2001, 61(2), 145–154.
2. Paraherakis A, Charney D A, Palacios-Boix J, Gill K: An abstinence-oriented program for substance use disorders: poorer outcome associated with opiate dependence. Can J Psychiatry 2000, 45(10), 927–931.
3. Joe GW, Simpson DD, Broome KM: Retention and patient engagement models for different treatment modalities in DATOS. Drug Alcohol Depend 1999, 57(2), 113–125.
4. Simpson DD, Joe GW, Fletcher BW, Hubbard RL, Anglin MD: A national evaluation of treatment outcomes for cocaine dependence. Arch Gen Psychiatry 1999, 56(6), 507–514.
5. Bell J, Chan J, Kuk A: Investigating the influence of treatment philosophy on outcome of methadone maintenance. Addiction 1995, 90(6), 823–830.
6. Maddux JF, Desmond DP, & Esquivel M: Rapid admission and retention on methadone. Am J Drug Alcohol Abuse 1995, 21(4), 533–547.
7. Miller WR, Rollnick S: Motivational Interviewing: Preparing People to Change Addictive Behavior 1991. New York: Guilford.
8. Rogers CR: Significant aspects of client-centered therapy. Am Psychologist 1946, 1, 415–422.
9. Bandura A: Lernen am Modell. Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie 1976. Klett, Stuttgart.
10. Marlatt GA, Gordon JR: Relapse Prevention: Maintenance Strategies in the Treatment of Addictive Behaviors 1985. New York: Guilford.
11. Thomasius R, Küstner UJ: Familie und Sucht. Grundlagen – Therapiepraxis – Prävention 2005. Stuttgart: Schattauer
12. Lieberman MA, Yalom ID, Miles MB: Encounter groups: First facts 1973. New York: Basic Books.
13. Hettema J, Steel J, Miller WR: Motivational Interviewing 2005. Annu Rev Clin Psychol. 1: 91–111.
Merkpunkte:
G Motivational Interviewing (MI) ist das wohl effektivste Verfahren zur Förderung der Veränderungsmotivation.
G Der wegweisende Fortschritt liegt darin, dass Menschen erreicht werden können, die keine oder nur wenig Bereitschaft zeigen, ihr Verhalten ändern zu wollen.
G MI ist ein direktiver und kooperativer, aber nicht konfrontativer Therapiestil, der die Ambivalenz zwischen der Absicht und dem Wunsch, sich zu verändern, berücksichtigt.
G MI ist sehr wirksam, wenn nur wenig Zeit zur Verfügung steht, wie zum Beispiel in Hausarztpraxen.
G MI verlangt komplexe klinische Fertigkeiten und setzt langjährige Therapiepraxis voraus. Für einen Therapieerfolg lohnt es sich jedoch, diese Therapieform zu erlernen.
3/2016
PSYCHIATRIE & NEUROLOGIE
7