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Titel
Es geht um Handlungskompetenz: Ergotherapie bei ADHS
Untertitel
Interview mit Cornelia Eggenberger und Katrin Abplanalp
Lead
Die Ergotherapie ist generell für Kinder geeignet, die Schwierigkeiten bei der Bewegung und der Körperwahrnehmung haben. Warum sie auch für Kinder mit ADHS nützlich sein kann, erläutern die Ergotherapeutinnen Cornelia ­Eggenberger und Katrin Abplanalp von der Stiftung Arkadis in Olten.
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-
Rubrik
Schwerpunkt: ADHS
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63401
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Schwerpunkt
Es geht um Handlungskompetenz
Welche Ziele hat die Ergotherapie bei ADHS?
Die Ergotherapie ist generell für Kinder geeignet, die Schwierigkeiten bei der Bewegung und der Körperwahrnehmung haben. Warum sie auch für Kinder mit ADHS nützlich sein kann, erläutern die Ergotherapeutinnen Cornelia ­Eggenberger und Katrin Abplanalp von der Stiftung Arkadis in Olten.

P ÄDIATRIE: Frau Eggenberger, Frau Abplanalp, um welche Ziele geht es in der Ergotherapie bei Kindern mit ADHS? Cornelia Eggenberger: Beim Thema ADHS geht es im Grossen und Ganzen um Konzentrationsförderung und in diesem Zusammenhang auch darum, die Ausdauer zu verstärken und die Merkfähigkeit zu verbessern. Die Konzentrationsförderung ist also immer ein Ziel, ausserdem das Erarbeiten von Strategien, wie das Kind mit seiner Hyperaktivität und motorischen Unruhe umgehen kann. Ebenso wichtig ist die Frage, ob das Kind von seiner Emotionalität her Unterstützung benötigt. Wie kann es mit seiner Impulsivität oder teilweise auch tiefen Frustrationstoleranz umgehen? Letztlich mündet alles in das Ziel, das Kind in Bezug auf seine Handlungskompetenzen zu unterstützen, damit es an Selbstständigkeit gewinnt.
Wie versuchen Sie, diese Ziele zu erreichen? Katrin Abplanalp: Wir wählen gezielt Tätigkeiten aus, um die Konzentrationsfähigkeit zu trainieren, und wir erarbeiten mit den Kindern Strategien, die ihnen dabei helfen. Es geht zum Beispiel darum, sich nicht ablenken zu lassen. Es kann auch sein, dass ein Kind von seinen eigenen Ideen oder von sich selbst so abgelenkt ist, dass es trainieren muss, in einem Handlungsablauf bis zum Ende zu kommen. Dafür ist zum Beispiel eine bebilderte Handlungsanleitung für eine Falt- oder Bastelarbeit nützlich oder ein Rezept, wenn wir in der Küche arbeiten. Solche Aktivitäten sind gute Übungsmöglichkeiten für das Verfolgen eines Handlungsablaufs. Planen und Konstruieren sind typische Massnahmen in der Ergotherapie bei Kindern mit ADHS. Wir nutzen häufig handwerkliche Aktivitäten. Es gibt auch spezielle Trainingsprogramme bei ADHS und praktische Hilfen wie Ablauf- und Belohnungspläne. Wenn man etwas geschafft hat, bekommt man einen Punkt oder eine Belohnung, sodass sich das Kind selbst überprüfen kann. Häufig nutzen wir den sogenannten Time-Timer, bei dem man sieht, wie die Zeit abläuft. Das hilft vielen Kindern, bei der Sache zu bleiben, fokussiert zu bleiben und die Zeit besser einzuschätzen. Eggenberger: Bei den Massnahmen geht es um Unterstützung für das erfolgreiche Handeln. Die Tätigkeit wählen wir je nach Unterstützungsbedarf und Interessen des Kindes sehr individuell aus. Geht es lieber zum handwerklichen Arbeiten in die Werkstatt oder in die Küche? Oder sind eher das Planen und das Durchführen einer feinmotorischen Arbeit dazu geeignet, erfolgreiches Handeln zu

erfahren? Oft setzen wir Gesellschafts- und Strategiespiele ein, um das Erlernen und Einhalten von Regeln zu üben. Abplanalp: Es ist wichtig, dem Kind zu sagen, was es gut kann, und so das Selbstvertrauen zu stärken. Das kann man im Grunde als Rückblick bei jeder abgeschlossenen Handlung tun: Was ist dir gut gelungen? Was hast du jetzt besser gemacht als beim letzten Mal?
Das hört sich nach Massnahmen an, die man auch zu Hause durchführen könnte … Abplanalp: Das ist genau der Punkt beim Alltagstransfer. Die Eltern sehen, was wir in der Ergotherapie machen. Das könnten sie theoretisch auch zu Hause tun, und manchmal klappt das auch. Es kann aber sein, das vielleicht genau diese Aktivitäten und Handlungen eben zu Hause nicht gelingen. Wir üben hier mit den Kindern, damit sie handlungsfähig werden und Kompetenzen erlernen, die sie zu Hause, in der Schule oder in einem anderen Kontext nutzen können.
Schulen Sie auch die Eltern? Eggenberger: Wir pflegen einen steten Austausch mit den Eltern, erzählen von den Inhalten der Behandlungen und hören genau hin, wenn aktuelle Situationen beschrieben werden. An Elterngesprächen, die wir mindestens einmal pro Halbjahr durchführen, werden dann neue Zielvereinbarungen getroffen. Abplanalp: Manchmal nehmen wir die Eltern mit zur Therapie, gerade wenn es um den Transfer geht, bestimmte Massnahmen auch zu Hause anzuwenden.
Wie kann man sich die Ergotherapie bei Kindern mit ADHS konkret vorstellen? Eggenberger: Wenn ein Kind mit ADHS zu mir in die Ergotherapie kommt, muss es erst einmal ankommen, denn Wechsel sind oft schwierig. Ich setze dabei gern auf die Körperwahrnehmung und beginne mit einer Bewegungsübung. Auf einem Parcours lernt das Kind, wie es seinen Körper anpassen muss, um sich wirklich gut zu spüren. Es bekommt dafür klare, propriozeptive Reize. Es hüpft zum Beispiel auf einem Trampolin, kann schwere Gegenstände ziehen oder stossen, beim Klettern auf Leiter, Sprossen- oder Kletterwand den koordinativen Einsatz von Armen und Beinen trainieren oder beim Balancieren das Gleichgewicht üben – alles Impulse, welche die Körperwahrnehmung verstärken. Aber es geht auch darum, zur Ruhe zu kommen. Wir machen mit dem Kind Zentrierübungen, zum Beispiel auf

Cornelia Eggenberger Katrin Abplanalp

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Schwerpunkt

Planen und Konstruieren sind typische Massnahmen in der Ergotherapie bei Kindern mit ADHS.
Es ist wichtig, dem Kind zu sagen, was es gut kann.
Literaturhinweis: Winter B, Arasin B (Hrsg.): Ergotherapie bei Kindern mit ADHS. 3. Auflage 2013, E-Book, ISBN 9783131508638, Thieme-Verlag, 2013.

einem Bein zu stehen und bewusst zu atmen oder beim Musikhören in einer Position oder fliessenden Bewegung zu bleiben, bis die Musik fertig ist. Für die Körperwahrnehmung ist eine angepasste Sitzhaltung wichtig. Vielen Kindern mit ADHS fällt es schwer, stillzusitzen. Das Kind soll Bodenkontakt haben, und der Tisch ist von der Höhe her so eingestellt, dass man sich mit den Unterarmen abstützen kann. Das Kind spürt sich besser und kann mehr von seinen Fähigkeiten zeigen. Vielen Kindern mit ADHS fehlt es an Inhibition und Impulskontrolle. Das kommt ihnen dann beim Handeln immer dazwischen, zum Beispiel mit immer neuen Ideen, die vom aktuellen Handlungsablauf ablenken. Strukturierungshilfen werden eingesetzt, damit das Kind sein eigenes Tempo einschätzen kann, beispielsweise mit dem Erfahren der «richtigen Drehzahl» und dem Vergleich mit einem Traktor, einem PKW und einem Rennauto, so wie das von Britta Winter und Bettina Arasin in ihrem Buch «Ergotherapie bei Kindern mit ADHS» beschrieben wird. Ein Punkt ist mir übrigens bei Kindern mit ADHS generell wichtig: Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass diese Kinder durch ihr auffälliges Verhalten stigmatisiert sind und genug haben vom Therapeutischen oder vom Angeleitet-Werden und von der Erfahrung, nicht zu genügen. Das ist wirklich schwierig für die Kinder, und ich finde es deshalb ganz wichtig, die grossen, speziellen Ressourcen zu betonen, die sie haben. Ich erlebe diese Kinder als sehr ideenreich, sehr offen und sehr kreativ. Wir als Therapeuten müssen diese Stärken sehen und das Kind in seiner Persönlichkeit bestätigen.
Was dürfen sich die Eltern von der Ergotherapie für ihre Kinder mit ADHS erhoffen? Abplanalp: Oft verbessern sich die Körpereigenwahrnehmung, die Handlungsplanung, die Ausdauer und die Konzentration beziehungsweise der Umgang mit ablenkenden Faktoren. Die Erfolge sind natürlich immer abhängig vom Kind und von seiner Motivation sowie vom Umfeld und vom Zeitpunkt, zu dem die Therapie in der Entwicklung stattfindet. Aber durch gezielte Förderung, wertschätzende Begleitung und hilfreiche Struktur erfährt sich das Kind mit ADHS selbstwirksamer. Es macht positive Erfahrungen bei Handlungen, gewinnt dadurch Sicherheit, erzielt Erfolge, kennt Strategien, hat ein positives Selbstwertgefühl und kann das alles im Handlungskontext von sich erfahren. Das darf man sich erhoffen.
Wie erfolgreich ist die Therapie? Eggenberger: Für die Einschätzung «Ziel erreicht» braucht es immer eine Absprache mit dem Kind und mit dem Umfeld. Abplanalp: Es geht um Erfolg in dem Sinn, ob die Eltern, das Kind und wir beobachten, dass sich etwas verbessert hat. Wir arbeiten mit SMART-Zielen*, die wir regelmässig mit den Eltern besprechen, überprüfen und auswerten. Eggenberger: Der wichtige Punkt ist, dass man die Ziele mit dem Kind anschaut. Wir haben hier oft Kinder zwischen 10 und 15 Jahren. Mit ihnen kann man individuell erarbeiten, was sie gut können oder wo ihnen noch etwas fehlt.

In welchem Alter ist eine Ergotherapie bei Kindern mit ADHS sinnvoll? Abplanalp: Am häufigsten wird Ergotherapie wegen ADHS im Kindergarten- und im Primarschulalter verordnet, also ab 5 bis 6 Jahren, weil die Kinder in der Schule auffallen. Manchmal kommen auch jüngere Kinder ab 3 oder 4 Jahren zu uns, aber das sind eher weniger. Und wir haben hier bei uns, wie bereits erwähnt, einige Kinder im Alter von 10 bis 15 Jahren zur Ergotherapie wegen ADHS.
Gibt es eine obere Altersgrenze? Eggenberger: Bei uns ist die Grenze der Schulaustritt. Mit IV-Verfügung wäre die Therapie bis zum Alter von 20 Jahren möglich. Solche Klienten haben wir zurzeit nicht.
Wie lang dauert eine Ergotherapie bei ADHS? Eggenberger: Ein Kind mit ADHS ist bei uns zirka ein bis drei Jahre in Behandlung, und zwar jede Woche. Die Kontinuität und die regelmässige Frequenz der Behandlung sind uns wichtig, weil es darum geht, etwas einzuüben und zu wiederholen. Abplanalp: Es sind zwischen 39 und 120 Sitzungen. Gegen Ende der Behandlung können die Termine auch nur alle zwei Wochen stattfinden, wenn wir sozusagen nur noch begleitend tätig sind oder es nur noch um den Transfer der neu erlernten Strategien in den Alltag geht.
Wer verordnet eine Ergotherapie bei ADHS im Kindesalter? Abplanalp: Das ist der Haus- oder Kinderarzt. Es kann auch ein Psychiater sein oder ein Neuropädiater. Dann zahlt entweder die Krankenkasse oder die IV, wenn das Kind bei der IV angemeldet ist. Zuvor muss eine Kostengutsprache eingeholt werden.
Nun noch eine Frage zu einer ähnlichen Therapieform: Was ist der Unterschied zwischen Ergotherapie und Psychomotorik, und wo ist ein Kind mit ADHS besser aufgehoben? Eggenberger: In der Psychomotorik liegt der Schwerpunkt auf dem Umgang mit Gefühlen, und man sagt, dass die Psychomotorik in diesem Bereich die Königsdisziplin sei. Falls ein Kind beim Umgang mit Gefühlen seinen grössten Förderbedarf hat, ist es aus meiner Sicht wichtig, dass es in der Psychomotorik die Möglichkeit bekommt, den Umgang mit Gefühlen zu üben. In der Psychomotorik arbeitet man überdies mehr in Gruppen. Diese Gruppen kann man entsprechend zusammenstellen, wenn das soziale Handeln und die Emotionalität im Zentrum stehen. In der Ergotherapie hingegen liegt der Schwerpunkt auf den Handlungskompetenzen, das ist unsere Königsdisziplin. Bei einem Kind, das zwar Schwierigkeiten in der Emotionalität haben kann, aber vor allem Probleme beim erfolgreichen Handeln bewältigen muss, ist die Ergotherapie sinnvoller.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.

*SMART-Ziele sind spezifisch, messbar, attraktiv (motivierend), realistisch und terminierbar.

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