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Titel
«Extremsituationen werden individuell sehr unterschiedlich verarbeitet»
Untertitel
Interview mit Rosanna Abbruzzese
Lead
Zu erfahren, dass ein Kind eine lebensbedrohliche Krankheit hat oder das Versterben eines Kindes sind Extremsituationen für die betroffenen Familien. Die Psychotherapeutin Rosanna Abbruzzese arbeitet seit Langem im Team der pädiatrischen Palliative Care am Kinderspital Zürich. Wir sprachen mit ihr über die psychologische Begleitung solcher Familien: Was steht dabei im Mittelpunkt, und welchen Nutzen können die Familien daraus ziehen?
Datum
Autoren
-
Rubrik
Schwerpunkt: Pädiatrische Palliativmedizin
Artikel-ID
44602
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Schwerpunkt
«Extremsituationen werden individuell sehr unterschiedlich verarbeitet»

Zu erfahren, dass ein Kind eine lebensbedrohliche Krankheit hat oder das Versterben eines Kindes sind Extremsituationen für die betroffenen Familien. Die Psychotherapeutin Rosanna Abbruzzese arbeitet seit Langem im Team der pädiatrischen Palliative Care am Kinderspital Zürich. Wir sprachen mit ihr über die psychologische Begleitung solcher Familien: Was steht dabei im Mittelpunkt, und welchen Nutzen können die Familien daraus ziehen?

Frau Abbruzzese, wie können Sie Familien helfen, wenn bei einem Kind eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert wird oder ein Kind daran verstorben ist?

Rosanna Abbruzzese: Es ist hilfreich zu wissen, wie

Menschen in Extremsituationen funktionieren, das heisst,

im Gespräch herauszufinden, welche Ressourcen und

kraftspendenden Aspekte es in ihrem Leben gibt. Das

kann die Familie sein, das können Freunde sein, die den

Betroffenen durch die schwere Zeit helfen. Häufig sind

konkrete Handlungen hilfreicher als Gespräche. Wenn

zum Beispiel ein Nachbar etwas kocht und das Essen ein-

fach vor die Tür stellt, wird das oft als grosse Hilfe und

Entlastung geschätzt. Oft gehen wir davon aus, man

müsse mit den Betroffenen über die belastende Situation

reden, aber das kostet sehr viel Kraft neben all dem, was

man leisten muss.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Extremsituationen

individuell unterschiedlich verarbeitet werden, auch in-

nerhalb einer Familie. Das Wissen darüber kann vielen

Missverständnissen vorbeugen. Das erkläre ich allen Fa-

milien gleich zu Beginn. Wir schauen dann gemeinsam,

welche Verarbei-

Häufig sind konkrete Handlungen hilfreicher als Gespräche.

tungsstrategie für jedes einzelne Familienmitglied

gut ist. Dazu ge-

hört auch, benennen zu können, was für sie besonders

belastend ist und wie man das seinem Umfeld kommuni-

zieren kann.

Was wäre das zum Beispiel? Abbruzzese: Ein Beispiel ist das Gespräch über die Situation. Auf der einen Seite gibt es Menschen, bei denen das Reden hilft, auf der anderen Seite gibt es Menschen, die das Reden über Belastendes als zusätzliche Belastung empfinden. Gerade für Letztere ist es hilfreich, ihrem Um-

feld klar zu kommunizieren, was gut für sie ist, beispielsweise: «Sprecht mich bitte nicht aktiv darauf an, aber wenn ich euch darauf anspreche, dann möchte ich darüber reden.»
Was ist bei der Unterstützung in diesen Extremsituationen noch hilfreich? Abbruzzese: Es geht allgemein darum, dass man eine Balance findet. Was hilft den Betroffenen, die belastende Situation zu ertragen und doch immer wieder zu Kräften zu kommen? Sie sollten Dinge tun, die ihnen Freude machen, um Kraft zu schöpfen für das Ertragen der Belastung. Das erscheint vielen Betroffenen zunächst paradox: Wie können sie etwas tun, was ihnen Freude macht, während ihr Kind in Lebensgefahr ist? Wenn man aber nicht gut genug auf sich selbst achtet, riskiert man, dass man irgendwann die Belastung nicht mehr aushalten kann. Das versucht man zu verhindern, denn die Eltern sind die wichtigsten Bezugspersonen für ihre Kinder. Es ist sinnvoll, dass Eltern gut auf sich selbst achten, um bestmöglich für ihr Kind da sein zu können. Sich helfen zu lassen, ist allerdings nicht für alle Menschen gleich einfach.
Sie erwähnten die verschiedenen Arten der Bewältigung. Gibt es dabei typische Verhaltensweisen? Abbruzzese: Vereinfacht ausgedrückt, besteht eine grosse Tendenz, dass Frauen eher verbal verarbeiten, also über das Reden, und Männer eher über das Handeln, also nonverbal. Bei der nonverbalen Verarbeitung ist auch Bewegung und Sport sehr wichtig. So ist heute allgemein bekannt, dass Bewegung beispielsweise bei Depressionen sehr hilfreich sein kann. Auch Kinder verarbeiten tendenziell eher über Bewegung und Ablenkung. Was bei Kindern hinzukommt, ist die Verarbeitung im Spiel. Für Kinder ist das Spiel der Königsweg, um Dinge verarbeiten zu können. Beispielsweise

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kann ein Kind, das einen Unfall erlebt hat, diesen immer wieder mit Puppen nachspielen. Man bezeichnet das auch als kathartisches Spiel, in dem Belastungen mit der Zeit verarbeitet werden – so wie wir Erwachsene das im Gespräch oder über das Handeln tun.

Wer entscheidet, welcher Familie eine psychologische Begleitung angeboten wird? Abbruzzese: Das Angebot für die psychologische Begleitung steht am Zentrum für Palliative Care am Kinderspital Zürich jeder Familie offen, deren Kind hier betreut wird. Ob die Familie das Angebot annimmt, ist ihr überlassen, die Teilnahme ist freiwillig. Die Kosten werden von den Krankenkassen übernommen.

Was sind nach Ihrer Erfahrung besonders wichtige

Punkte bei der psychologischen Begleitung von Ge-

schwistern, deren Bruder oder Schwester palliativer

Betreuung bedarf oder verstorben ist?

Abbruzzese: Sowohl bei der palliativen als auch bei der

Trauerbegleitung ist die altersadäquate Information der

Geschwister wichtig. Welche Schlussfolgerungen zieht

das Kind aus dem Geschehen? Fühlt es sich in irgendeiner

Weise schuldig? Es ist zum Beispiel bei einer onkologi-

schen Erkrankung

Manchmal sprechen betroffene Kinder über ihre Sorgen und Ängste eher mit weniger nahestehenden Personen.

wichtig, zu erklären, dass niemand etwas falsch gemacht hat. Über die altersadäquate Information

sprechen wir natürlich

auch mit den Eltern, sodass sie wissen, worüber man mit

einem Kind ab welchem Alter sprechen kann und sollte.

Bei kleinen Kindern spricht man besser nicht zu frühzeitig

über belastende Themen, sondern man informiert sie

eher kurzfristig. Wenn sich ein Kind beispielsweise einer

Operation unterziehen muss, sagt man das einem Vor-

schulkind nicht schon einen Monat vorher. Anders bei

Jugendlichen: Ihnen sagt man es länger im Voraus, damit

sie sich darauf vorbereiten und dem Arzt Fragen stellen

können.

Der zweite wichtige Punkt ist das Wissen um die unter-

schiedlichen Bewältigungsstrategien der einzelnen Fami-

lienmitglieder, über die wir bereits zu Beginn gesprochen

haben. Dieses Wissen ist wichtig, damit keine Missver-

ständnisse innerhalb der Familie entstehen. Es kann für

die Familienmitglieder

sehr entlastend sein,

Mit Vorschulkindern kann man relativ angstfrei über den Tod sprechen, bei Schulkindern und Jugendlichen ist die Angst

sich darüber klar zu werden, dass es hier kein Richtig oder Falsch gibt. Schon ein

vor dem Sterben hingegen sehr

5- bis 6-jähriges Kind

ausgeprägt.

kann sagen oder zei-

gen, was ihm bei der

Bewältigung der Situation hilft. Beispielsweise kann es

hilfreich sein, dass ein Geschwisterkind eher daheim-

bleibt, weil der Spitalbesuch bei dem kranken Bruder

oder der kranken Schwester einfach zu überwältigend

wäre. Es ist dann eben kein «unempathisches» Geschwis-

terkind, sondern es ist einfach sensibler und hält die Si-

tuation nicht so gut aus. Das Kind kann dann für den

Besuch Zeichnungen mitgeben oder man ermöglicht ein-

mal eine Begegnung via Skype, um trotzdem die Verbindung zwischen den Geschwistern aufrechtzuerhalten.
Was sind für die Eltern besonders wichtige Themen? Abbruzzese: Häufig fragen die Eltern, wie sie mit ihrem kranken Kind über belastende Dinge sprechen können. Wie kann man eine Diagnose erklären, ohne dass das Kind Angst bekommt oder in Panik gerät? Wie kann ich schlechte Nachrichten weitergeben? Wann sage ich was? Die Antworten auf diese Fragen hängen davon ab, wie das Kind kommuniziert. Manche Kinder sind damit überfordert, wenn Dinge direkt angesprochen werden. Andere sind ihren Eltern voraus, weil sie bereits spüren, was Sache ist, wollen ihre Eltern aber vor Sorgen und Trauer schützen. Manchmal sprechen betroffene Kinder über ihre Sorgen und Ängste eher mit weniger nahestehenden Personen, weil sie merken, dass es für die Eltern zu schmerzvoll ist. Einen wichtigen Stellenwert nimmt auch die nonverbale Kommunikation in der Begleitung ein: das Kind besuchen, etwas Feines zu essen mitbringen, einfach da sein und das Kind nicht allein lassen – all das ist auch eine Form der Begleitung.
Was tun Sie, wenn Eltern oder Familien die psychologische Begleitung ablehnen, obwohl sie sehr davon profitieren würden? Abbruzzese: Diese Situation ist gar nicht so selten, weil sich viele Leute darunter eine klassische Psychotherapie vorstellen. Jedoch handelt es sich bei der Begleitung in Palliativsituationen vor allem darum, Ressourcen in einer aussergewöhnlich belastenden Lebenssituation zu erhalten. Eltern, die ein krankes Kind haben, sind natürlich a priori nicht psychisch auffällig, sondern sie haben ein krankes Kind und sind somit grossen Belastungen ausgesetzt. Wenn die Familie unsere Hilfe ablehnt, obwohl eine psychologische Begleitung gut für sie wäre, versuchen wir, die Schwelle ganz niedrig zu halten. Wir bieten ein Gespräch zum Kennenlernen an, respektieren aber, wenn sie eine Begleitung ablehnen. Wir beschränken uns darauf, Informationen zu geben, welche hilfreich für die Familie sein können. Was hilfreich ist, haben wir nicht zuletzt von anderen Familien und Kindern gelernt. Wir geben dieses Wissen möglichst niederschwellig weiter.
Wie spreche ich mit einem Kind über den Tod? Abbruzzese: Mit Vorschulkindern ist das relativ unbelastet und angstfrei möglich, weil sich Kinder in diesem Alter vorstellen, dass man sterben und dann wieder zurückkommen kann. Das ist auch der Grund, weshalb Trauerreaktionen bei kleinen Kindern oft erst um einige Monate verzögert auftreten, weil sie dann die Erfahrung machen, dass die verstorbene Person tatsächlich nicht mehr zurückkommt. Es treten zwar immer wieder auch bei Vorschulkindern Ängste auf, diese hängen aber häufig mit Gefühlsübertragungen zusammen. Sie spüren es, wenn die Eltern belastet sind, und widerspiegeln diese Gefühle. Bei Schulkindern und Jugendlichen ist die Angst vor dem Sterben sehr ausgeprägt. Hilfreich sind für Kinder Bilder, welche eine angstfreie Vorstellung über eine mögliche Weiterexistenz nach dem Tod vermitteln, wie das inzwi-

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schen in zahlreichen Kinderbüchern zu diesem Thema dargestellt wird. Die Kinder haben oft schon selbst ein Bild vom Tod und was danach kommen könnte. Wenn eine vertraute Person angstfrei über den Tod zu sprechen imstande ist, ist das oft auch für die Kinder weniger bedrohlich und kann trostreich wirken. Mit Jugendlichen ist es möglich, auch über abstrakte Themen wie die Seele oder über energetische Phänomene zu sprechen, das eröffnet andere Möglichkeiten, sich über das Thema Tod zu unterhalten. Mit Jugendlichen spreche ich auch oft über ihre Träume und Albträume. Letztlich ist immer das Ziel, Ängste möglichst abzubauen.
Was sind die grössten Probleme bei der psychologischen Begleitung von Familien, deren Kinder palliativer Betreuung bedürfen oder verstorben sind? Abbruzzese: Schwierig sind Begleitungen, wenn die Eltern schon viel schicksalhaft Schwieriges erlebt haben, zum Beispiel den Verlust eines Kindes in der Vorgeschichte. Das sind mehrfach belastete Familien. In diesen Fällen sind traumatherapeutische Ansätze in der Begleitung hilfreich. Eine Herausforderung ist die Begleitung auch, wenn Eltern uns zum Beispiel den Zugang zu dem kranken Kind verweigern. Das kommt immer wieder einmal vor. Man muss das respektieren und versucht dann auf andere Art, die Familie zu begleiten, zum Beispiel indem man das

Team coacht, das medizinisch und pflegerisch für die Familie verantwortlich ist. Ärzte und Pfleger haben bei solchen Familien oft besonders schwierige Situationen zu bewältigen.
Haben Sie einen Rat für die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen in der Praxis, wenn sie es mit Familien in palliativen Extremsituationen zu tun haben? Abbruzzese: In Palliativsituationen können wir aus unserem interdisziplinären PPC-Team ärztliche, pflegerische, sozialberaterische sowie psychologische Unterstützung anbieten. Je frühzeitiger das organisiert wird, desto effektiver kann betroffenen Familien geholfen und auf die jeweils spezifischen Bedürfnisse eingegangen werden. Ein weiteres Angebot sind Hausbesuche bei den betroffenen Familien. Vor allem wenn ein erkranktes Kind nicht mehr mobil ist, kann das für die Familien eine willkommene Unterstützung sein. Ist ein Kind verstorben, besteht das Angebot der Trauerbegleitung für Familien am Kinderspital Zürich. Wir bieten auch geleitete Selbsthilfegruppen für Väter, Mütter und Geschwister an sowie einen Familientag, den wir gemeinsam im Freien verbringen. Auf der Website des Kinderspitals sind die jeweils aktuellen Daten ersichtlich.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.

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