Transkript
«Eine Investition in die Lebensqualität»
Kieferorthopädische Behandlung im Kindesalter
Schwerpunkt
Heutzutage tragen viele Kinder und Jugendliche in der Schweiz eine Zahnspange. Wir sprachen mit Prof. Dr. Dr. Marc Schätzle, Luzern, über die Notwendigkeit kieferorthopädischer Eingriffe im Kindes- und Jugendalter sowie über die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Zahnspangen.
W ie hoch ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz, die kieferorthopädisch behandelt werden? Prof. Dr. Dr. Marc Schätzle: Ich denke, das ist sicher die Hälfte der Kinder, wahrscheinlich mehr. Durch die gute finanzielle Abdeckung der Zusatzversicherungen können es sich heutzutage auch viel mehr Eltern leisten, ihre Kinder kieferorthopädisch behandeln zu lassen. Früher, als ich noch ein Kind war, hatten vielleicht zwei Schüler in einer Klasse eine Spange, heutzutage sind es zwei pro Klasse, die keine Zahnspange haben.
In welchem Alter beginnt die Behandlung? Schätzle: Sie beginnt je nach Kieferfehlstellung zwischen 9 und 10 Jahren und dauert bis zu einem Alter von etwa 12 bis 14 Jahren, das heisst aber nicht zwingend, dass während der gesamten Zeit etwas gemacht werden muss. Wenn zum Beispiel ein Mädchen mit 9½ Jahren in die Pubertät kommt, kann ich dann mit wachstumsfördernden Massnahmen beginnen, um die Unterkieferfehlstellung zu korrigieren. Nach Ausgleich der skeletalen Stufe gibt es unter Umständen eine Pause, bis alle bleibenden Zähne vorhanden sind, um dann mit festsitzenden Apparaturen, sogenannten Brackets, die Zahnstellung zu behandeln. Der Zeitpunkt dieser Behandlung ist abhängig vom Durchbruchstadium der Zähne. Die Behandlung mit den Brackets erfolgt meist zwischen 11 und 12 Jahren und dauert etwa zwei Jahre. Anschliessend wird das Behandlungsresultat mit sogenannten Draht-Retainern stabilisiert.
Was würde passieren, wenn man nichts täte? Schätzle: Ganz streng genommen, nicht viel.
Warum macht man es dann? Schätzle: Es stimmt, wegen ein paar schiefer Zähne ist bis heute keiner verhungert. Und bis heute haben wir keine wirkliche Evidenz, dass Kiefergelenksprobleme und Zahnfehlstellungen miteinander korrelieren. Lediglich beim Schlucken haben die Zähne von Ober- und Unterkiefer direkten Kontakt. Beim Kauen zerquetschen und zermahlen wir unsere Nahrung, ohne aber wirklich Zahnkontakt zu haben. Der tägliche Zahnkontakt beläuft sich auf lediglich 15 Minuten. Das ist vermutlich zu kurz, um einen Einfluss auf das Kiefergelenk zu haben. Trotzdem sprechen aus meiner Sicht mehrere Punkte dafür, diesen Eingriff im Kindesalter durchzuführen. Ich empfehle den Eltern immer, zumindest das zu korrigieren, was bei einem Heranwachsenden mit einfachen Mitteln zu korrigieren ist, sprich: abgesehen von Durchbruchstörungen den Oberkiefer breiter zu machen und eine Unterkieferrücklage zu korrigieren. Das ist finanziell tragbar. Ein weiterer Punkt ist: Wenn man es später, im
Prof. Dr. Dr. Marc Schätzle ist Facharzt für Kieferorthopädie in Luzern und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin, Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität Zürich.
«Wegen ein paar schiefer Zähne ist bis heute keiner verhungert, aber es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Jugendliche mit massiven Kiefer- und Zahnfehlstellungen als dümmer eingestuft werden, eine weniger gut bezahlte Arbeitsstelle bekommen und gesellschaftlich schlechter integriert sind.»
Wie muss man sich die von Ihnen erwähnten wachstumsfördernden Massnahmen vorstellen? Schätzle: Der Ober- und der Unterkiefer verhalten sich analog wie der Fuss zum Schuh, wobei der Oberkiefer sozusagen der Fuss und der Unterkiefer der Schuh ist. Bei zu schmalem Oberkiefer muss dieser unter Umständen vor Förderung des Unterkieferwachstums vorgängig gedehnt werden, um später auf den Unterkiefer zu passen; eine spontane Korrektur ist nicht zu erwarten. Um das Wachstum des Unterkiefers zu stimulieren, wird dieser mit einer Nachtspange etwas nach vorn gezogen.
ausgewachsenen Zustand, korrigieren möchte, kann die Fehlstellung nur durch Extraktion von bleibenden Zähnen oder mittels eines chirurgischen Eingriffs korrigiert werden. Natürlich sieht die Zahnmedizin ausserhalb der westlichen Welt anders aus, und die Bevölkerung hat dort andere Ansprüche. Das gilt aber auch für die allgemeinmedizinische Versorgung. Nur wenige Menschen haben Zugang zu konservierender und restaurativer Zahnmedizin und Kieferorthopädie.
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Kommen wir zu den Zahnspangen: Welche Möglichkeiten gibt es, und mit welchen Vor- und Nachteilen müssen Patienten rechnen? Schätzle: Es gibt zwei Prinzipien. Einmal sind es Apparaturen, die der Patient selbst herausnehmen und einsetzen kann. Diese sind von der Hygiene und der Handhabung her einfach. Die Problematik ist aber, dass jegliche Apparatur zu Beginn unangenehm und gewöhnungsbedürftig ist. Ob sie tatsächlich getragen wird, ist patientenabhängig und kann schlecht von uns kontrolliert werden. Das ist das eine. Das andere ist, dass man damit nicht die gleichen Zahnbewegungen bewerkstelligen kann wie mit festsitzenden Apparaturen. Dies kann ich effizienter und genauer mit festsitzenden Apparaturen, die auf den Zahn geklebt werden, erreichen. Bei diesen ist der Vorteil, dass sie der Patient nicht herausnehmen kann und gezielte Bewegungen möglich sind. Der Nachteil ist sicherlich die erschwerte Mundhygiene, verbunden mit einem höheren Kariesrisiko. Bei erhöhtem Zuckerkonsum können daher schnell unschöne weisse Kreideflecken entstehen, die nicht mehr verschwinden. Neuerdings sind durchsichtige Zahnschienen en vogue, vor allem bei Erwachsenen. Hier versucht man, den Zahn mit diesen Schienen anstelle der störenden Brackets in eine endgültige Position zu drücken. Dabei werden alle ein bis zwei Wochen die Schienen gewechselt.
«Bis heute haben wir keine wirkliche Evidenz, dass Kiefergelenksprobleme und Zahnfehlstellungen miteinander korrelieren.»
Abgesehen von den weissen Flecken, welche Risiken und Nebenwirkungen haben Zahnspangen sonst noch? Schätzle: Bei schlechter Mundhygiene durch den Patienten kann Karies entstehen. Starke Zahnfleischentzündung kann im Extremfall zu parodontalen Destruktionen führen. In seltenen Fällen kann sich die Zahnwurzel verkürzen. Des Weiteren können bei unsachgemässer ärztlicher Behandlung Kiefer entstehen, die nicht mehr aufeinander passen, was aber eher ein Behandlungsfehler als eine potenzielle Nebenwirkung ist. Ebenfalls ein Behandlungsfehler ist es, wenn der behandelnde Kieferorthopäde den zur Verfügung stehenden biologischen Spielraum überschreitet. Das kann zu Zahnfleischproblemen führen, das heisst, dass Zahnfleisch und Alveolarknochen sich zurückziehen können und die Zahnwurzeln freigelegt werden. Es entsteht eine Rezession.
Wie häufig sind solche Nebenwirkungen? Schätzle: Die bereits genannten weissen Flecken treten, je nach Literaturquelle, bei 50 bis 90 Prozent der Patienten auf. Die Frage ist aber, ob sie tatsächlich klinisch stören oder nicht. Manche sieht man nur, wenn man den Zahn mit Luft stark trocknet. Wirklich gravierende Nebenwirkungen gibt es eigentlich nicht, aber natürlich besteht, wie bei jeder Behandlung, ein generelles Risiko für Planungsfehler des behandelnden Zahnarztes. So kann es vorkommen, dass der Unterkiefer zu wenig Platz bietet und man Zähne ziehen
müsste. Das erschwert die Behandlung, und das wollen viele Eltern nicht. Wenn sich nun ein Kieferorthopäde dazu drängen lässt, auf das Ziehen der Zähne zu verzichten, strapaziert er das gesamte biologische System. Die Konsequenz ist – die Unterkieferschneidezähne sind das schwächste Glied –, dass sich wie erwähnt der Knochen und das Zahnfleisch zurückziehen. Und das führt am Ende zum Parodontologen, der dann mühsam versucht, das Zahnfleisch wieder zu modellieren.
Wünschen eher die Eltern die Spange oder eher die Kinder und Jugendlichen? Schätzle: Beide wünschen das. Die Eltern kommen auf Empfehlung der zuweisenden Zahnärzte oder weil sie selbst eine Spange getragen haben. Die Kinder freuen sich oft, eine Spange zu tragen. Kaum kommen sie in die Pubertät, nimmt die Begeisterung aber schon ein bisschen ab.
Gibt es handfeste medizinische Indikationen für Kieferorthopädie und eine Spange im Kindes- und Jugendalter? Schätzle: In allen strukturschädigenden Situationen würde ich es sehr empfehlen. Aber natürlich geht es auch ohne. Die Kieferorthopädie ist etwas mehr als einhundert Jahre alt, und wir Menschen leben seit Jahrtausenden. Ansonsten gibt es keine klaren Kriterien. Unsere Gesellschaft konzentriert sich immer mehr auf das Ästhetische. Die Werbung bringt uns tagtäglich mit dem idealen Lächeln in Kontakt. Man weiss aus wissenschaftlichen Studien, dass Kinder mit einem zurückliegenden Unterkiefer eher als dümmlich eingeschätzt werden, und mit einem starken Unterkiefer wird man eher als aggressiv betrachtet. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Jugendliche mit massiven Kiefer- und Zahnfehlstellungen als dümmer eingestuft werden, eine weniger gut bezahlte Arbeitsstelle bekommen und gesellschaftlich schlechter integriert sind.
Was ist beim Thema Kieferorthopädie im Kindesund Jugendalter noch zu beachten? Schätzle: Die Eltern sollten ihr Kind von einem Fachzahnarzt für Kieferorthopädie untersuchen und behandeln lassen. Und sie sollten frühzeitig eine Zusatzversicherung abschliessen, falls sie so etwas für ihr Kind planen. Bis zu einem Alter von zwei Jahren geht das ohne zahnärztliches Attest und, je nach Versicherung, bis zum Alter von sechs Jahren mit zahnärztlichem Attest. Das müssen die Eltern frühzeitig in die Wege leiten. Wenn man frühzeitig eine Zusatzversicherung abschliesst, kann man sich je nach Versicherung bis zu 80 Prozent der Kosten erstatten lassen. Das ist mit ein zentraler Punkt, warum sich heute viele Familien überhaupt eine kieferorthopädische Behandlung leisten können.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
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