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Ernährung in den ersten 1000 Lebenstagen
Untertitel
Zusammenfassungen der Vorträge vom 3. KIG-Symposium in St. Gallen
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Wir wissen heute um die Bedeutung der frühen Ernährung im Leben des Kindes, durch die bereits pränatal Weichen für die Zukunft von Stoffwechselprozessen gestellt werden. Die pränatale «metabolische Programmierung» hat wesentlichen Einfluss auf mögliche Erkrankungen im späteren Leben, wie Diabetes, Fettstoffwechselstörung, Bluthochdruck oder Adipositas.
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KONGRESSBERICHT
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KONGRESSBERICHT
Ernährung in den ersten 1000 Lebenstagen
Zusammenfassungen der Vorträge vom 3. KIG-Symposium in St. Gallen

Wir wissen heute um die Bedeutung der frühen Ernährung im Leben des Kindes, durch die bereits pränatal Weichen für die Zukunft von Stoffwechselprozessen gestellt werden. Die pränatale «metabolische Programmierung» hat wesentlichen Einfluss auf mögliche Erkrankungen im späteren Leben, wie Diabetes, Fettstoffwechselstörung, Bluthochdruck oder Adipositas. Dabei spielt das Ernährungs- und Bewegungsverhalten der schwangeren Mutter eine zentrale Rolle. Entscheidend sind nach Geburt die ersten Lebensmonate, für welche das Stillen den Goldstandard in der Säuglingsernährung darstellt. Wesentlich sind aber auch die Einführung der Beikost und der Übergang zur Familienkost. Wichtige medizinische Probleme in diesem Alter sind unter anderem die Allergieprävention, die Vitamin-D-Substitution oder potenziell gefährliche Ernährungsweisen in Schwangerschaft und Stillzeit. Unter dem Aspekt einer ausgeglichenen Energiebilanz ist auch das Thema «Bewegung» sehr wichtig. Diese Tagung sollte einen umfassenden Überblick vermitteln und alle Fachdisziplinen von der Schwangerschaft, Geburt bis zum Säuglingsund Kleinkindesalter miteinbeziehen. Im Folgenden finden Sie die Zusammenfassungen aller Referate.
Dr. med. Josef Laimbacher im Namen der Organisatoren
des KIG-Symposiums
Metabolic Programming: ein Blick auf das Neugeborene (und darüber hinaus)
Auch im Kindesalter hat sich die Zunahme von Übergewicht und Adipositas in den letzten Jahrzehnten nahezu verdreifacht. Das durchschnittliche Geburtsgewicht hat in den letzten Jahrzehnten ebenfalls deutlich zugenommen, genetische Veränderungen kommen nicht so schnell generationsübergreifend zum Tragen, hier spielen Umweltfaktoren eine entscheidende Rolle. Die wichtigste Ursache liegt offenbar in der Ernährung der Mütter. Viele junge Frauen sind bereits übergewichtig, wenn sie schwanger werden, und viele von ihnen nehmen auch während der Schwangerschaft übermässig zu. Zahlreiche epidemiologische, aber auch klinische und experimentelle Studien haben in den letzten Jahren vermehrt Hinweise geliefert, dass insbesondere die Ernährung während der pränatalen und frühkindlichen Entwicklung einen entscheidenden, dauerhaften und damit prägenden Einfluss

auf die spätere Entstehung von Übergewicht, Diabetes mellitus und damit assoziierten kardiovaskulären Folgeerkankungen haben kann. Fetale Programmierung bedeutet, dass nicht nur der individuelle genetische Hintergrund und äussere Einflüsse in der Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter das Auftreten von Erkrankungen bestimmen, sondern auch bereits Ereignisse während der Fetalzeit und um die Zeit der Geburt. Das heisst die Gen-Umwelt-Interaktion steht zunehmend im Mittelpunkt und ist entscheidend für Gesundheit oder Erkrankung. Sie hat während kritischer Entwicklungsphasen nachhaltige, dauerhafte Konsequenzen für das individuelle Erkrankungsrisiko. Die genetische Information, das Genom, haben wir von unseren Eltern geerbt, wie und wo aber Gene abgelesen oder gar modifiziert werden, wird durch epigenetische Veränderungen erklärbar. Epigenetik bedeutet alle vererbbaren chemischen Veränderungen des Genoms, die durch Umwelteinflüsse ohne Veränderungen der DNA-Sequenz ausgelöst werden. Mit epigenetischen Veränderungen können daher generationsübergreifende Einflüsse erklärt werden. Zusammenfassend ist das Leben ein permanenter, umweltabhängiger Entwicklungsprozess, bei dem die Genaktivität durch Umweltfaktoren, vor allem durch die Ernährung und Hormone, dauerhaft modifiziert werden kann. Damit bieten die ersten 1000 Tage des menschlichen Lebens, von der Konzeption bis zum Alter von etwa 2 Jahren besondere Chancen und Herausforderungen für die Prävention der sogenannten Wohlstandserkrankungen. Aus der Sicht des Neonatologen ist ein mütterliches Normalgewicht vor und in der Schwangerschaft anzustreben, ein generelles Screening für einen Schwangerschaftsdiabetes, wie in der Schweiz etabliert, ist für alle Industrieländer zu fordern. Eine aktive Stillförderung ist eminent wichtig, da in zahlreichen Studien gezeigt werden konnte, dass das Risiko für ein späteres Übergewicht und Adipositas durch Stillen im Säuglingsalter um zirka 20 Prozent reduziert werden kann. Ausserdem gilt es in puncto Säuglingsernährung eine rasche Gewichtszunahme in den ersten beiden Lebensjahren zu vermeiden. Daher ist neben einer Stillförderung in den Geburtskliniken eine Vernetzung aller Berufsgruppen, die sich postnatal um Mutter und Kind kümmern, ungemein wichtig.
Dr. med. Andreas Malzacher, Leitender Arzt Neonatologie, Kantonsspital St. Gallen

Von Anfang an – richtige Ernährung in der Schwangerschaft
Das Ausgangsgewicht der Schwangeren und die Gewichtszunahme spielen für den Schwangerschaftsverlauf und die kindliche Entwicklung eine wichtige Rolle. Abhängig vom Ausmass des Übergewichts, aber auch des Untergewichts der Schwangeren ist die Rate maternaler und kindlicher Komplikationen erhöht. Durch eine adäquate beziehungsweise inadäquate Gewichtszunahme wird der Schwangerschaftsverlauf zusätzlich beeinflusst. Eine adäquate Gewichtszunahme setzt eine gute Beratung voraus, die leider bei beschwerdefreien Schwangeren meist nur unzureichend durchgeführt wird. So ist zum Beispiel der Energiebedarf erst ab der 12. Schwangerschaftswoche um zirka 200 bis 300 kcal erhöht. Anders verhält es sich mit den Mikronährstoffen, für die teilweise ein Mehrbedarf um bis zu 100 Prozent besteht. Daher sollten alle Schwangeren auch bei richtiger Ernährung bereits präkonzeptionell eine Folsäureprophylaxe erhalten. Weitere wichtige Vitamine und Spurenelemente wie Vitamin D, Vitamin B12, Eisen, Jod, Kalzium, Zink und Omega-3-Fett säuren sollten individuell supplementiert werden. Da die Ernährung direkte Auswirkungen auf den Schwangerschaftsverlauf und die Entwicklung des Kindes hat, sollte sie von Beginn der Schwangerschaft an ausgewogen und gesund sein.
Dr. med. Tina Fischer Frauenklinik Kantonsspital St. Gallen
Ernährungsberatung in der Hebammensprechstunde
Um den häufigsten Schwangerschaftsbeschwerden wie Obstipation und Hämorrhoiden, Sodbrennen, Ödemen, Übelkeit, Gelüsten, Müdigkeit durch Anämie sowie Krämpfen vorzubeugen, empfehlen wir den Frauen folgende Ernährungsregeln: frisch zubereitete und leicht verdauliche Kost; fünf Portionen Gemüse und Obst pro Tag, bunt und abwechslungsreich; magnesiumhaltige Speisen wie Haferflocken, Nüsse, Joghurt, Bananen und gedörrte Aprikosen; einmal pro Woche Fleisch, einmal pro Woche Fisch; Stuhlgangregulierung durch Feigen oder Flohsamen; 2 bis 2,5 Liter ungesüsste Flüssigkeit pro Tag sowie das Meiden von Fertigprodukten und raffiniertem Zucker. Bei anamnestisch bekannten Krankheiten wie Gestationsdiabetes, hypertonen Schwangerschaftserkrankungen oder Makrosomie der vorherigen Geburt werden spezifischere Massnahmen getroffen.

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KONGRESSBERICHT

Bei Geburtsbeginn ist es sinnvoll, leichte, gekochte Speisen zu essen, um für die Geburt gerüstet zu sein. Unter der Geburt sind es dann meistens Kohlenhydrate in flüssiger Form, wie gezuckerter Tee, Bouillon oder isotonische Getränke. Nach der Geburt darf es etwas Nährenderes sein, wie Suppe, Kohlenhydrate, Bananen oder Ähnliches. Während der ersten zehn Tage im Wochenbett gilt es primär, eine bedarfsorientierte Kost zu servieren. Hat die Wöchnerin noch gar keinen Hunger, empfehlen sich kleine Portionen und eher einfache Speisen, zum Beispiel Suppe, Reis, Kartoffeln oder Gemüse ohne viel Sauce oder Fleisch. Im Spätwochenbett ab dem 11. Tag bis 6 Wochen nach der Geburt braucht es wieder eine Anpassung der Ernährung an die körperlich individuellen Anforderungen. Auch die Bewegung gehört zu einer gesunden Schwangerschaft. Sportarten, die bis zur Geburt durchgeführt werden können, sind Haltungsaufbau, Kräftigung der Beckenboden-, Rückenund unteren Bauchmuskulatur, Schwimmen, Velofahren, Spazieren, Wandern oder Walking. Die Aktivität der Mutter wirkt sich positiv auf die Aktivität des Babys aus, denn Babys brauchen zu Beginn Unterstützung, um sich frei bewegen zu können. Als dritter Pfeiler gilt die Ruhe und Entspannung, während der Schwangerschaft sowie unter der Geburt und, ganz wichtig, auch im Wochenbett! Um die Veränderungen im Körper geschehen zu lassen und die Hormone zum richtigen Zeitpunkt in Fahrt zu bekommen, braucht das limbische System ausgiebige Ruhezeiten.
Ursina Arnold, Hebamme und Bewegungstrainerin,
St. Gallen
Einfach Stillen – Stillen ganz einfach?
Studien zeigen eindeutig, dass frühzeitiges Abstillen oder Nichtstillen wesentliche negative gesundheitliche und soziale Folgen für Mutter und Kind hat – nicht nur während der Stillzeit, sondern weit darüber hinaus. Die Bedeutsamkeit ist Fachpersonen und meist auch den Müttern klar, die Empfehlungen zur Stilldauer sind es ebenfalls. Trotzdem werden nur wenige Kinder so lange gestillt wie empfohlen. Schlagzeilen in den Medien widerspiegeln auch immer wieder die Tatsache, dass das Stillen Schwierigkeiten bereiten, ja sogar eine schlimme Erfahrung sein kann und dass manche Frauen unter dem Druck leiden, stillen zu müssen. Gute Voraussetzungen zum erfolgreichen Stillen sind Spontangeburt, keine Trennung von Mutter und Kind, kein Migrationshintergrund und gute Unterstützung daheim. Nachgewiesenermassen erhöht ist das Risiko für Stillschwierigkeiten bei sehr jungen Müttern, Müttern über 37 Jahren, kurzer Ausbildung, we-

nig Unterstützung durch Angehörige, Migrationshintergrund, Adipositas, Gestationsdiabetes, Flach- und Hohlwarzen, Brustanomalien, operativen, nicht termingerechten oder schweren Geburten, hohem Blutverlust, Anästhesie, negativer Stillerfahrung, zu geringer Milchmenge oder Nicht-Stillen des ersten Kindes, bei Trennung von Mutter und Kind, Problemen beim Milcheinschuss, bei Rhagaden der Mamillen oder einer baldigen Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit. Von kindlicher Seite her ist das Risiko erhöht bei tiefem Geburtsgewicht, Gewichtsverlust über 7 Prozent, oralen Auffälligkeiten, neurologischen Problemen, Schwierigkeiten beim Fassen der Brust und Hyperbilirubinämie – eine wie es scheint nicht enden wollende Risikoliste. Damit der Start in eine erfolgreiche und zufriedene Stillzeit gelingt, sind folgende Punkte wichtig: (1) Stillen muss bereits während der Schwangerschaft Thema sein. Gezielte Informationen fördern die vorhandene Motivation der Frau und ihrer Familie und helfen über Anfangsschwierigkeiten hinweg; (2) Bonding nach der Geburt, so früh und so lange wie möglich (Förderung der Eltern-Kind-Bindung); (3) positive Vorbilder und adäquate Unterstützungsangebote, aber kein Druck; (4) schnelle Hilfe bei Stillschwierigkeiten. Hebammen, Ärztinnen und Ärzte und alle beteiligten Fachpersonen müssen sich vernetzen, damit alle Frauen die nötige Unterstützung und einheitliche Informationen bekommen.
Andrea Lutz, Stillberaterin IBCLC, St. Gallen
Mythen und Fakten rund um die Ernährung in den ersten 3 Lebensjahren
Die Ernährung in den ersten 1000 Lebenstagen prägt unser Essverhalten für das gesamte Leben. Familiäre Gewohnheiten, Kulturen, viele Mythen und wenig evidenzbasierte Fakten beeinflussen den Ernährungsalltag. In diesem Vortrag wurden die wichtigsten Empfehlungen der WHO, der ESPAGHAN und der Ernährungskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie, welche auf Evidenz basieren, dargestellt. Vom 4. bis zum 6. Lebensmonat soll ausschliesslich mit Muttermilch oder, falls dies nicht möglich ist, mit Säuglingsanfangsnahrung ernährt werden. Zwischen dem 5. und 7. Lebensmonat soll die Ernährung mit Muttermilch oder einer Säuglingsanfangsnahrung respektive Folgenahrung, zusammen mit Beikost, durchgeführt werden. Das Einführen der Beikost kann im Gegensatz zu den bisherigen Empfehlungen früher gestartet werden. Dabei soll es keine Restriktionen mehr geben. Früchte, Gemüse, unterschiedliche Getreidesorten, Fleisch, Fisch, Eier, Öle und Fette können bereits zu Beginn des

5. Lebensmonats eingeführt werden. Milchprodukte können ab Beginn des 7. Lebensmonats und Vollmilch ab dem 1. Lebensjahr angeboten werden. Um das Zeitfenster der immunologischen Toleranz auszunutzen, wird empfohlen, glutenhaltige Produkte ab dem 5. Lebensmonat überlappend mit dem Stillen einzuführen. Diese Empfehlungen gelten für alle Säuglinge, auch für diejenigen mit erhöhtem familiären Atopierisiko. Pro- und Präbiotika, welche in den Anfangsund Folgemilchen vermehrt vorkommen, zeigen bis jetzt keine eindeutig positiven Auswirkungen, sodass keine Empfehlungen für die Anreicherung von Säuglingsnahrung mit Pro- oder Präbiotika abgegeben werden. Was die Ernährung nach dem 1. Lebensjahr angeht, so sollte man speziell auf die Eisen- und Kalziumzufuhr achten. Die sogenannten «Juniorenmilchen» werden bei gesunden Kindern primär nicht empfohlen.
Dr. med. George Marx, Anneco Dintheer-ter Velde und Dr. med. Pascal Müller,
Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen
Essen, (k)ein Kinderspiel
Ernährung beschäftigt junge Eltern mindestens fünf- bis zehnmal pro Tag. Gibt es viele Unsicherheiten und Sorgen in diesem Kontext, dann leidet die Eltern-Kind-Beziehung. Fachleute, insbesondere solche, die sich auf eine Meinung einigen, können auf diesem Gebiet sehr viel Wissen, Beruhigung und Entlastung in den Familienalltag bringen. Die Mütter- und Väterberatung wird von den Eltern zu einem hohen Prozentsatz wegen Ernährungsfragen konsultiert. Fragen zur Bewegung sind eher selten, und die Mütterberaterin nimmt das Thema in der Beratung meist von sich aus auf, kann sie doch häufig beobachten, wie Säuglinge und Kleinkinder in ihrem Bewegungsverhalten eingeschränkt werden. Im Beratungsgespräch geht es darum, die individuellen Bedürfnisse der Kinder wahrzunehmen und mit den Eltern zu besprechen, was, wann, wie und in welcher Menge umgesetzt werden kann. Eltern brauchen Informationen über die kurz- und längerfristigen Hunger- und Sättigungszeichen, Anregungen für die Gestaltung einer Mahlzeit und die Sicherheit, dass ihr Kind gut gedeiht. Die Beratungen können am Telefon, auf Hausbesuchen, in der Beratungsstelle, an einem Mittagstisch oder in Kursen erfolgen. Vor allem Übergänge (Brust – Beikost – Familientisch) lösen vermehrten Beratungsbedarf aus. Es gilt, zusammen mit den Eltern praktikable Regeln zu finden, die sie in ihrer individuellen Situation im Alltag umsetzen können. Kohärenzgefühl ist im Kontext von Ernährung und Bewegung besonders wichtig, damit die Eltern flexibel auf die sich laufend verändernden Bedürfnisse ihrer Kinder reagieren können.

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KONGRESSBERICHT

Dank diverser Projekte stehen den Mütterberaterinnen auch Informationsmaterial in vielen verschiedenen Sprachen und ein Dolmetscherdienst zur Verfügung.
Rosa Plattner, Väter-Mütter-Beratung, St. Gallen
7 x 2 Minuten für die Ernährung
Wie können wir Kinderärzte das Thema Ernährung in den 7 Vorsorgeuntersuchungen zwischen 1 und 24 Monaten so positionieren, dass einer Fehl- beziehungweise Überernährung möglichst vorgebeugt oder sie zumindest frühzeitig erkannt wird? Bei diesen zeitlich begrenzten Konsultationen sind neben der Ernährung auch die allgemeine psychomotorische und körperliche Entwicklung, das Schlafverhalten sowie erzieherischen Fragen wichtige Themen. Zudem werden von uns aktive Empfehlungen erwartet zu Impfungen, Allergieprophylaxe, Vitamin-D- und Vitamin-K-Prophylaxe, SIDS-Prävention, Zahnpflege und Unfallverhütung. Für eine Ernährungsberatung haben wir also zwar viele Gelegenheiten, aber jeweils nur wenig Zeit. Zudem gehen alle neuen Empfehlungen, die in die Vorsorgeuntersuchungen eingebaut werden müssen, auf Kosten der anderen Themen. Daher gilt es auch, individuell Schwerpunkte zu setzen. Im ersten Lebensjahr geht es zunächst vor allem um die Art der Ernährung. Die Mutter wird im Stillen bestärkt, erfährt aber auch Entlastung in Fällen, wo das Stillen nicht möglich ist. Die Eltern lernen die Hunger-, Sättigungs-, Kontaktund Müdigkeitssignale ihres Kindes richtig zu verstehen und entsprechend darauf zu reagieren. Regulationsstörungen können diese Lebensphase stark belasten und stehen dann ganz im Zentrum der Gespräche, welche sich naturgemäss immer auch um Ernährungsfragen drehen. Stillberaterinnen sowie Mütter- und Väterberatungsstellen können in schwierigen Situationen zusätzlich in die stützende Begleitung miteinbezogen werden. Die Einführung der Beikost und die parallele Reduktion der Milchnahrung, der Übergang zur Erwachsenenkost und zur Kuhmilch im zweiten Lebensjahr sowie das Essverhalten sind im weiteren Verlauf Anlass für Fragen und Beratungen. Auch hier soll die Ernährung nie losgelöst von anderen Themen betrachtet werden. Selbstständigkeitsentwicklung, Eltern-Kind-Interaktionen, Gewöhnung und Werthaltungen sind eng damit verbunden und müssen bei angestrebten Veränderungen mitberücksichtigt werden. Das Kind bestimmt über die Essensmenge, die Eltern übernehmen die Verantwortung für ein ausgewogen zusammengesetztes Ernährungsangebot. Neben den Gesprächen ist dem Führen der Perzentilenkurve ein grosses Gewicht beizumessen. Bei ungenügendem Gedeihen muss die Ernährungssituation des Kindes genauer be-

leuchtet werden, auch wenn das Kind zufrieden wirkt. Im ersten Lebensjahr ist ein Überschreiten der Perzentilen nach oben keine Seltenheit und löst bei einem gesunden und in sinnvollem Rhythmus mit den richtigen Nahrungsmitteln ernährten Säugling keine Massnahmen aus. Wenn Probleme vorliegen, hilft der Kurvenverlauf aber bei der Beratung. Beobachten wir im zweiten Lebensjahr einen Perzentilenwechsel nach oben, können wir damit eine Übergewichtsentwicklung in einem Moment erkennen, wo der Habitus des Kindes noch kaum auffällig ist (Abbildung). Durch kleine Veränderungen der Ess- und vor allem auch der Trinkgewohnheiten (Milchmenge max. 500 ml täglich) lässt sich zu diesem frühen Zeitpunkt oft wieder eine Normalisierung des weiteren Gewichtsverlaufs erreichen. Solche kleinen Erfolge zeigen uns, dass es sich auch tatsächlich lohnt, sich immer wieder beratend für die Vermeidung von Übergewicht einzusetzen.
Dr. med. Hanna Kuster Kinderärztin, St. Gallen
Ernährung und Allergieprävention
Im ersten Lebensjahr sind atopische Dermatitis und Nahrungsmittelallergien die häufigsten allergischen Erkrankungen. Während diese beiden Erkrankungen bis zum Schulalter kontinuierlich abnehmen, nimmt die Prävalenz von Asthma bronchiale und allergischer Rhinokonjunktivitis zu. Das Risiko, eine atopische Erkrankung zu entwickeln, hängt wesentlich von der familiären Atopiebelastung ab. So liegt das Allergierisiko bei Kindern ohne positive Familienanamnese bei zirka 15 Prozent, sind jedoch beide Eltern Allergiker, bei 50 bis 80 Prozent. Im Säuglingsalter ist die allergische Sensibilisierung über den Gastrointestinaltrakt ein charakteristischer Sensibilisierungsweg. Dementsprechend kommt dem Kostaufbau bei allergiegefährdeten Säuglingen eine besondere Bedeutung für die Allergieprävention zu. Nach heutigem Wissensstand gilt in der Allergieprävention Folgendes: Die Mutter sollte während der Schwangerschaft und Stillzeit keine Diät durchführen. Es wird empfohlen, mindestens vier Monate zu stillen. Wenn Stillen nicht/nicht vollständig möglich ist, können hydrolysierte Säuglingsmilchen HA eingesetzt werden. Allerdings konnte in grossen Studien nur ein gewisser präventiver Effekt der HA-Nahrung für Neurodermitis gezeigt werden, nicht jedoch für Asthma bronchiale und allergische Rhinitis. Nach dem Alter von 6 Monaten gibt es keine Hinweise auf einen allergiepräventiven Effekt von HA-Produkten. Sojabasierte Säuglingsnahrungen werden nicht empfohlen, da Sojaprotein als potentes Allergen selber Allergien auslösen kann und keinen protektiven Effekt hat. Ziegen-, Schafs- und Stutenmilch sind aufgrund der Allergenität und der un-

Abbildung: Milchlastige Ernährung zwischen 12 und 24 Monaten; normalisierter Gewichtsverlauf nach Reduktion der Milchmenge auf ein Maximum von 500 ml pro Tag.
genügenden Anpassung des Nährstoffprofils im ersten Lebensjahr kontraindiziert. Die Beikost sollte nach dem 4. Lebensmonat eingeführt werden. Es gibt keinen Hinweis auf einen Nutzen der verzögerten Einführung von Beikost oder Meiden bestimmter Nahrungsmittel im ersten Lebensjahr.
Dr. med. Sandra Senteler Ostschweizer Kinderspital St. Gallen
Vitamin D für alle – muss das sein?
Es ist durch randomisierte, kontrollierte Studien auch im Kindesalter bewiesen, dass ein VitaminD-Mangel (unter 30–50 nmol/l) nicht nur langfristig das Muskel- und Skelettsystem schädigt (Myopathie, Osteoporose, Erhöhung der Frakturrate), sondern auch insbesondere im Säuglings- und Kleinkindesalter zu schwereren Atemwegsinfektionen führt und Ursache einer chronischen Müdigkeit sein kann. Epidemiologische Studien legen eine Prävention des Typ-1Diabetes beziehungsweise von Autoimmunerkrankungen und eine Verbesserung des kardiovaskulären Risikos bei Adipositas auch im Kindes- und Jugendalter nahe. Demgegenüber wurde 2008 die bisherige Vitamin-D-Prophylaxe nicht einmal bei zwei Drittel aller Schweizer Kinder wirklich durchgeführt. Die gegenwärtige Empfehlung des Bundesamtes für Gesundheit, über die 400 Einheiten der Vitamin-D-Prophylaxe des ersten Lebensjahres hinaus auch während des gesamten Lebens mindestens 600 Einheiten täglich zuzuführen, ist deswegen besonders wichtig, weil 2012 ein Vitamin-D-Mangel bei fast 80 Prozent der Schweizer Bevölkerung in den Wintermonaten nachgewiesen wurde.

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KONGRESSBERICHT

Das hohe Melanomrisiko in der Schweiz erfordert, dass die Sonnenschutzmassnahmen insbesondere bei Kleinkindern strikt einzuhalten sind, was jedoch die zusätzliche Gabe von Vitamin D bis zum 3. Geburtstag dringend erforderlich macht. Weitere Risikogruppen, die ohne zusätzliche Laboruntersuchungen einer Prophylaxe bedürfen, sind Dunkelhäutige, Verschleierte, Menschen mit schwerer Zerebralparese und chronisch Kranke. Supplemente oder Vitamin-D-reiche Nahrungsmittel (fetter Seefisch, Ei, Avocado, sonnengetrocknete Pilze) und der regelmässige Konsum von 0,5 Liter Milch bei Kleinkindern können die Vitamin-D- und Kalziumzufuhr optimieren. Da die Vitamin-D-Gabe unter einer Tagesdosis von 2500 IE im 1. bis 4. Lebensjahr nebenwirkungsfrei ist, sind Ärzte, Ernährungsberater, Mütter- und Väterberater und andere im Präventionsbereich Arbeitende aufgerufen, für die Umsetzung der Vitamin-D-Prophylaxe aktiv einzutreten.
Prof. Dr. med. Dagmar l’Allemand Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen
Vom Stillen zur Beikost – Was gilt es bei einer veganen Ernährung zu beachten?
Aus gesundheitlichen und ethischen Gründen ist strikt zwischen einer selbst gewählten Entscheidung eines erwachsenen Menschen zur Folge einer bestimmten Diät und den Auswirkungen durch eine solche Entscheidung für ein abhängiges Kind zu differenzieren. Ein nutritiver Vitamin-B12-Mangel wurde ursprünglich in Ländern grosser Armut wie in Südindien gesehen und hat nun reiche Länder wie die Schweiz erreicht. Im Kinderspital St. Gallen wurden während der letzten drei Jahre 8 Kleinkinder mit einer schweren Entwicklungsstörung auf der Grundlage eines Vitamin-B12-Mangels bei veganer oder streng vegetarischer Fehlernährung betreut. Die Kinder fielen durch ein deutliches Untergewicht, Verhaltensauffälligkeiten mit Nahrungsverweigerung sowie durch eine psychomotorische Bewegungsstörung auf. Laborchemisch konnte bei allen Kindern der Vitamin-B12Mangel durch eine erhöhte Methylmalonsäure im Urin und durch ein erniedrigtes Cobalamin im Serum bestätigt werden. Auffällig waren grenzwertig niedrige Werte für Vitamin D3 und Zink. Bei 80 Prozent der Kinder konnte eine makrozytäre Anämie festgestellt werden. Die beobachtete Störung der psychomotorischen Entwicklung erklärt sich durch das verminderte intrazelluläre Angebot von Methylcobalamin und Adenosylcobalamin, welche unter anderem bei der Bildung der Myelinscheide der Nervenstränge eine entscheidende Rolle spielen. Zusätzlich wird bei Vitamin-B12-Mangel die Aminosäure Methionin zu wenig und das poten-

ziell toxische Homocystein zu viel gebildet. Die DNA-Synthese ist aufgrund einer Störung des Folsäurestoffwechsels zusätzlich gestört. Der Tagesbedarf eines Kleinkindes an Vitamin B12 liegt bei 0,8 μg und steigt für die schwangere Frau bis zu einem Wert auf 2,5 μg pro Tag. Dieser Bedarf kann durch Milch und fleisch- beziehungsweise fischhaltige Nahrung gesichert werden, pflanzliche Produkte können kein ausreichendes Vitamin B12 liefern. Nach Diagnosesicherung eines nutritiven Vitamin-B12-Mangels, sollte über mindestens drei Tage eine intramuskuläre Gabe von Cyanocobalamin (1 mg = 1 ml) erfolgen und sichergestellt werden, dass eine nachhaltige Nahrungsumstellung unter Einschluss von Fleischprodukten oder durch Vitamin-B12-ergänzte Nahrungsmittel erfolgt. Bei einer oralen Substitution durch Tabletten oder Spray muss die inverse Relation zwischen der Substitutionsmenge und der intestinalen Resorption durch die begrenzte Kapazität des intrinsischen Faktors beachtet werden. So werden beispielsweise bei einer Tagessubstitution mit 500 μg Methylcobalamin in Tablettenform lediglich 2 Prozent entsprechend 10 μg resorbiert. Den betroffenen Eltern sollte vermittelt werden, dass Sojanahrung, ebenso wie das häufig von Vegetariern verzehrte Tofu, Tempeh, Seitan oder Quorn, kein Vitamin B12, zu wenig Eisen und im Vergleich zu fleischhaltiger Nahrung zu wenig gesättigte Fettsäuren enthält. Der Eiweissbedarf ist bei einer vegetarischen Diät im Vergleich zu einer fleischhaltigen Nahrung um zirka 20 Prozent erhöht. Da bei den von uns betreuten Familien auffiel, dass der Kontakt zu medizinischen Institutionen, zum Beispiel für die regelmässigen Impfungen, die Vorsorgeuntersuchungen und die Vitamin-D- und -K-Prophylaxe bewusst vermieden wurde, ist eine langfristige und engmaschige Betreuung der betroffenen Familie notwendig, um die Einhaltung einer kindgerechten Diät zu sichern.
Dr. med. Oswald Hasselmann Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen
Leistungssportler oder Stubenhocker: Wie viel Bewegung braucht mein Kind?
Bewegungsmangel ist in den Ländern mit hohem Einkommen mittlerweile zum viertwichtigsten Mortalitätsfaktor geworden und folgt damit direkt hinter dem Rauchen, der arteriellen Hypertonie und Übergewicht/Adipositas. Das Bundesamt für Sport hat erstmals 2006 Bewegungsempfehlungen für Kinder und Jugendliche erarbeitet, die Aussagen darüber machen, welche Formen und welches Ausmass an Bewegung und Sport in den verschiedenen Altersgruppen als gesundheitsförderlich zu betrachten sind. Im letzten Jahr hat sich eine Experten-

gruppe getroffen, diese Empfehlungen gemäss der neusten Evidenz angepasst und auch Vergleiche mit anderen Ländern wie den USA, Australien, Kanada und Österreich angestellt. Diese neuen Empfehlungen werden voraussichtlich im Mai 2013 veröffentlicht werden. Kinder und Jugendliche sollen sich gegen Ende der Schulzeit täglich mindestens eine Stunde mit mittlerer (leicht beschleunigter Atem) oder höherer Intensität (ausser Atem kommen, schwitzen) bewegen; jüngere Kinder sollen sich noch mehr bewegen. Die Bewegung kann im Alltag erreicht werden (Schulweg zu Fuss oder mit dem Velo, Spielen zum Beispiel auf Spielplätzen, Treppenlaufen) oder beim Sport mit Freunden oder der Familie (Schwimmen, Fussballspielen, Streetdance …). Innerhalb der oben genannten einen Stunde Bewegung pro Tag sollen möglichst oft verschiedene Bewegungselemente enthalten sein, die beispielsweise Herz und Kreislauf stärken, die Beweglichkeit erhalten, die Muskeln kräftigen, die Geschicklichkeit verbessern oder die Knochen stärken. Für jüngere Kinder (0–5 Jahre) gibt es wenig Evidenz in Bezug auf Bewegungsempfehlungen, aber auch hier gibt es Ansätze (z.B. Australien) für konkrete Empfehlungen. Bereits Säuglingen soll eine bewegungsfreundliche, aber sichere Umgebung angeboten werden (Spielen/Bewegen auf dem Boden). Kinder zwischen ein und drei Jahren sollten sich insgesamt pro Tag mindestens drei Stunden bewegen. Kinder sollen nicht länger als eine Stunde am Stück ruhiggehalten werden (ausser im Schlaf). Ein zunehmendes Problem ist, dass sich unsere Kinder zu einer «sitzenden Generation» entwickeln. Jugendliche in Europa verbringen zirka 70 Prozent ihrer Wachzeit sitzend, das sind zirka neun Stunden pro Tag. Ein Problem dabei ist der steigende Gebrauch elektronischer Medien. Kinder unter zwei Jahren sollten nicht TV schauen oder andere elektronische Medien (z.B. DVD, PC, Games) nutzen. Bei Kindern von zwei bis fünf Jahren sollten TV und andere elektronische Medien auf weniger als eine Stunde pro Tag limitiert sein.
Dr. med. Daniela Marx-Berger Oberärztin Sportmedizin
Ostschweizer Kinderspital
Das 3. KIG-Symposium fand am 7. März 2013 in St. Gallen statt. KIG steht für «Kinder im Gleichgewicht». Die Präsentationen der Referenten finden Sie zum Download unter: http://www.kispisg.ch/?modus=archiv oder unter http://www.kispisg.ch Rubrik: Aus-, Weiter-, Fortbildung Unterrubrik: Ärztinnen, Ärzte

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