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UPDATE
Das Thromboembolierisiko unter kombinierter hormonaler Verhütung
Aktuelle Daten und Empfehlungen
Das Thromboserisiko unter der kombinierten Pille ist seit Jahrzehnten ein stark diskutiertes Thema. Auch wenn die Reduktion der Hormondosis in der Pille auf ≤ 35µg (Mikropille) die Anzahl an thromboembolischen Ereignissen gesenkt hat, ist es weiterhin ein wichtiges Ziel, die völlig nebenwirkungsfreie Pille, möglicherweise sogar mit Benefits, anzubieten. Dieser Artikel resümiert die neuen Daten zum viel diskutierten Risikopotenzial.
GABRIELE MERKI-FELD
Hormonale Verhütungsmittel werden für Jahrzehnte angewandt. Neben der Minimierung von Risiken ist deshalb das Wohlbefinden unter Kontrazeption bei der Entwicklung neuer Präparate immer ein wichtiger zusätzlicher Aspekt.
Pathogenese der Thromboembolie
Die meisten Gerinnungs- und Fibrinolysefaktoren liegen in der Zirkulation in inaktivem Zustand vor, doch wird ein Teil der Proenzyme permanent aktiviert und inaktiviert. Es herrscht physiologisch ein Gleichgewicht zwischen den ständig ablaufenden Gerinnungs- und Fibrinolysevorgängen. Thrombosen entstehen, wenn die Gegenregulation der Gerinnung nicht mehr ausreichend ist, sodass Fibrinbildung und Thrombozytenaggregation fortschreiten. Vor allem die Östrogenkomponente (Ethinylestradiol) in der Pille kann das Gleichgewicht zwischen Gerinnung und Fibrinolyse durch ihren starken induzierenden Effekt auf Leberparameter stören. Thrombosen treten am häufigsten in den ersten Monaten nach Einnahmebeginn der kombinierten oralen Kontrazeptiva (KOK) auf, und zwar besonders bei diesbe-
züglich prädisponierten Frauen. Vermutlich spielt bei diesen Frauen eine Rolle, dass die Möglichkeit eingeschränkt ist, dem vorübergehend durch die Pillenhormone in der Neustartphase induzierten Ungleichgewicht in der Synthese von Gerinnungs- respektive Fibrinolysefaktoren durch gegenregulatorische Mechanismen entgegenzuwirken.
Neue Zahlen zum Risikopotenzial Neuere epidemiologische und Fallkontrollstudien zeigen ein Thromboserisiko von 3 bis 5 Ereignissen/ 10 000 Frauenjahren bei Frauen im Alter zwischen 25 und 45 Jahren; bei Pillenanwenderinnen besteht ein Risiko von 6 bis 10 Ereignissen/10 000 Frauenjahren (1–3). Diese Zahlen sind in allen neueren Studien höher als in den vor 15 bis 20 Jahren publizierten Studien. Mit grosser Sicherheit ist diese Tatsache auf die verbesserten diagnostischen Möglichkeiten zurückzuführen. Das ethinylestradiolbedingte Thromboserisiko kann durch die Zugabe unterschiedlicher Gestagene geringfügig modifiziert werden. Die im Vergleich zu den älteren Pillen niedrige
Tabelle 1:
Thromboserisiko unter den einzelnen EE-/Gestagen-Kombinationen zur Kontrazeption
Odds Ratio (OR) im Vergleich zu Nichtanwenderinnen
Studie/Präparat
Inzidenz ohne Pille
Lidegaard 2002 (4) 1–2/10 000
Lidegaard 2009** (8) 3/10 000
Van Vlieg 2009** (9) 1–2,3/10 000
Dinger 2007* (3)
4,7/10 000
EE/Levonorgestrel (OR) 1,6 2,0 5,0 8,0/10 000
*angegeben in dieser Studie sind nicht OR, sondern die Inzidenz/10 000 FJ ** Zahlen für Pillen mit Gestoden/Desogestrel werden gemeinsam angegeben
EE/Desogestrel (OR) 2,3 3,55 8,7 9,9/10 000
EE/Gestoden (OR) EE/Drospirenon (OR)
3,55 8,1 9,9/10 000
4,0 9,1 9,1/10 000
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Ethinylestradioldosierung in den heutigen Mikropillen hat zu einem deutlichen Rückgang der Thromboserate geführt. Eine weitere Reduktion der Dosis von Ethinylestradiol (EE) auf < 20 µg senkt das Thromboserisiko kaum noch zusätzlich. Klinisch sehr relevant ist, dass 10% der Thrombosen zu einer Lungenembolie führen. Von diesen Lungenembolien verlaufen 10% tödlich. Auch wenn in der Schweiz im Jahr 2007 auf 1 000 000 Einwohner im Alter von 15 bis 44 Jahren nur 3 tödliche Lungenembolien (unabhängig von der Anwendung der Pille) gemeldet wurden und die Sterblichkeit im gleichen Alter beispielsweise aufgrund eines Unfalls (55/1 000 000) erheblich höher ist, sollte man doch postulieren, dass moderne Antikonzeption so sicher sein muss, dass es zu keinen Todesfällen kommt. Hierzu gehört es einerseits Risikofaktoren für solche Ereignisse im Vorfeld zu erkennen und bei Frauen mit entsprechenden Risiken Alternativen zu KOK zu suchen, andererseits ist es wichtig, dass vom Arzt frühe Symptome für Thrombosen oder Lungenembolien wie Beinschwellung, Atemnot, Husten, plötzliche Brustschmerzen wahrgenommen werden und sofort die erforderlichen Massnahmen eingeleitet werden. Gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Präparaten? Wie aus Tabelle 1 ersichtlich ist, gibt es möglicherweise sehr geringe Unterschiede zwischen Pillen mit Levonorgestrel und Pillen der dritten Generation (mit Desogestrel resp. Gestoden) und solchen der vierten Generation (mit Drospirenon). Die Unterschiede sind gering und müssen abgewogen werden gegenüber dem möglicherweise arteriellen Risiko moderner Pillen wie auch gegenüber Benefits und der Verträglichkeit eines Präparats im individuellen Fall. Der Trend zu einem geringeren Thromboserisiko unter KOK-Präparaten mit 20 oder 30 µg EE ist so gering, dass man daraus keine therapeutischen Empfehlungen ableiten kann. Im ersten Einnahmejahr zeigen die Studien übereinstimmend ein deutlich höheres Thromboserisiko als unter Langzeiteinnahme (1–3). Tabelle 2: Wichtige Risikofaktoren für Thrombosen unter kombinierter oraler Kontrazeption (KOK) ■ thromboembolische Erkrankungen, Gerinnungstörungen ■ tiefe Venenthrombosen, Lungenembolien in der Familienanamnese ■ Gerinnungsstörungen in der Familie ■ Rauchen ■ arterielle Hypertonie (Blutdruck kontrollieren!) ■ BMI > 30 kg/m2 ■ Alter > 35 Jahre ■ Diabetes mellitus ■ Lupus erythematodes mit Gefässbeteiligung ■ zerebrovaskuläre Ereignisse ■ Migräne ■ bevorstehende Flugreisen oder Wahleingriffe ■ Post-partum-Periode
Erkennen und Ausschluss von Risikofaktoren
Klinisch wesentlich wichtiger als ein letztlich nicht ganz auszuschliessender kleiner Unterschied zugunsten der Präparate mit Levonorgestrel bezüglich des individuellen Thromboserisikos sind andere Parameter (1–4): ■ Alter > 40 Jahre (Risiko: 2- bis 3-fach) ■ BMI > 30 kg/m2 (Risiko: 3- bis 7-fach) ■ Rauchen (Risiko: 2- bis 3-fach). Da sich auch das Risiko für arterielle Ereignisse bei diesen Risikofaktoren erhöht, ist es besonders wichtig, Nutzen gegen Risiken einer hormonalen Verhütung in diesem Kollektiv abzuwägen. Alternativen zu kombinierten Pillen sind reine Gestagenmethoden und IUP. Tabelle 2 gibt eine Übersicht über die wichtigsten Risikofaktoren, die vor Hormonverschreibung ausgeschlossen werden sollten und auch regelmässig bei erneuter Verschreibung wieder zu überprüfen sind. Ein besonders wichtiger, noch nicht erwähnter Risikofaktor ist die Familienanamnese für thromboembolische Ereignisse, deren Erhebung heute als obligatorisch vor Verschreibung von Hormonen angesehen werden muss (s.u.).
Risikofaktor Familienanamnese
Bei einer positiven Eigenanamnese für eine Venenthrombose ist in den nächsten 5 Jahren bei 25% der Patientinnen mit einem erneuten Ereignis zu rechnen (5). Dieses Risiko kann durch äussere Faktoren wie beispielsweise Pilleneinnahme
noch einmal deutlich erhöht werden. Nur bei etwa 29,7% der Betroffenen mit einmaliger idiopathischer Thrombose findet sich eine genetische Störung, das heisst: Auch wenn die Gerinnungsabklärung keinen auffälligen Befund ergibt, haben solche Frauen ein erhöhtes Thromboserisiko und sollten keine KOK einnehmen. Eine positive Familienanamnese verdoppelt das Risiko für eine erstmalige idiopathische Venenthrombose (ohne Einschluss zusätzlicher Risiken wie Pilleneinnahme) (6). Es ist anzunehmen, dass bei positiver Familienanamnese und Pillenanwendung das Thromboserisiko nochmals deutlich ansteigt. Grundsätzlich ist es wichtig, zu definieren, was eine positive Familienanamnese ist. Zieht man in die Definition nur Verwandte ersten Grades ein, so ist das individuelle Thromboserisiko höher, als wenn auch Verwandte zweiten Grades eingeschlossen sind. Besonders klar erfasst man das Risiko, wenn man die Familienanamnese für Thromboembolie als positiv definiert bei Vorhandensein eines Verwandten ersten Grades mit Alter < 50 Jahre mit Thrombose. Tabelle 3 zeigt die Bedeutung der unterschiedlichen Definitionen einer positiven Familienanmnese. Konklusion und Empfehlungen Die wichtigsten Daten und Empfehlungen sind im Kasten Merkpunkte zusammengefasst. Auch unter modernen Verhütungspillen ist das Risiko für thromboembolische Er- GYNÄKOLOGIE 5/2010 21 UPDATE Tabelle 3: Familienanamnese und Thromboserisiko Familienanamnese Negativ Positiv*: ■ irgendein Verwandter Odds Ratio 1 (Referenz) 2,2 4. Lidegaard O, Edstrom B, Kreiner S: Oral contraceptives and venous thromboembolism: a five-year national case-control study. Contraception 2002; 65(3): 187–96. 5. Eichinger S, Heinze G, et al.: Risk assessment of recurrence in patients with unprovoked deep vein thrombosis or pulmonary embolism: the Vienna prediction model. Circulation 2010; 121(14): 1630–36. 6. Bezemer ID, van der Meer FJ, et al.: The value of family history as a risk indicator for venous thrombosis. Arch Intern Med 2009; 169(6): 610–15. ■ 1 Verwandter Alter < 50 Jahre ■ > 1 Verwandter ■ > 1 Verwandter und davon einer < 50 Jahre Modifiziert nach (6); * mindestens 1 Verwandter 1. Grades 2,7 3,9 4,4 7. Jick S, Kaye JA, Li L, Jick H: Further results on the risk of nonfatal venous thromboembolism in users of the contraceptive transdermal patch compared to users of oral contraceptives containing norgestimate and 35 microg of ethinyl estradiol. Contraception 2007; 76(1): 4–7. 8. Lidegaard O. (The National Patient Registry – again): Ugeskr Laeger. 2009; 171(6): 397. eignisse erhöht. Eine gute Anamnese und das Beachten von Risikofaktoren tragen dazu bei, die Inzidenz dieser Ereignisse niedrig zu halten. Daneben müssen 3. Dinger JC, Heinemann LA, Kuhl-Habich D: The safety of a drospirenone-containing oral contraceptive: final results from the European Active Surveillance Study on oral contraceptives based on 142 475 women-years of observation. Contraception 2007; 75(5): 344–54. 9. van Vliet HA, Frolich M, Christella M, et al.: Association between sex hormone-binding globulin levels and activated protein C resistance in explaining the risk of thrombosis in users of oral contraceptives containing different progestogens. Hum Reprod 2005; 20(2): 563–68. natürlich auch arterielle Risiken beachtet werden. Alternative Verhütungsmöglichkeiten mit niedrigem Pearl-Index für merkpunkte Frauen mit erhöhtem thromboemboli- schem Risiko sind Gestagenmethoden oder IUP. ■ ■ Gestagenpräparate sind nach heutigem Wissen nicht mit einem erhöhten Thromboserisiko assoziiert. ■ Kombinierte orale Kontrazeptiva (KOK) erhöhen das Thromboserisiko auf etwa das PD Dr. med. Gabriele MerkiFeld Abteilungsleiterin Kontrazeption und Adoleszenz Klinik für Reproduktions-Endokrinologie UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstrasse 10 8091 Zürich E-Mail: Gabriele.Merki@usz.ch Zweifache (6–10/10 000 Frauenjahre). ■ Die Unterschiede beim Thromboserisiko zwischen verschiedenen kombinierten Pillen sind gering. ■ Wichtig: Vor Erstverschreibung ist eine vollständige Anamnese im Hinblick auf Risiko- faktoren zu erheben. Im Anschluss ist je nach Risiken (v.a. Höhe des Thromboserisikos) zu entscheiden, ob ein KOK verschrieben werden kann. ■ Auch bei unauffälliger Gerinnungsabklärung ist eine positive Familienanamnese eine Kontraindikation für KOK. ■ Gestagenpräparate und IUP sind sichere Verhütungsalternativen für Frauen mit erhöh- Quellen: 1. Lidegaard O, Lokkegaard E, et al.: Hormonal contraception and risk of venous thromboembolism: national follow-up study. BMJ 2009; 339: b2890. 2. van Hylckama Vlieg A, Helmerhorst FM, et al.: The venous thrombotic risk of oral contraceptives, effects of oestrogen dose and progestogen type: results of the MEGA case-control study. BMJ 2009; 339: b2921. tem Thromboserisiko. ■ Kombinationspflaster und Verhütungsring sind mit dem gleichen Risiko für Thrombo- embolien assoziiert wie KOK (7). ■ Für KOK mit Estradiol und Estradiolvalerat liegen bis anhin keine Daten zum Thrombose- risiko vor, das Gerinnungssystem wird aber auch aktiviert. Deshalb müssen die gleichen Risikofaktoren beachtet werden. 22 GYNÄKOLOGIE 5/2010