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Ein Landarzt motivierte den «Grünen Heinrich»
Wo Gottfried Keller geprägt wurde
Wer Gottfried Keller sagt, denkt an Zürich, wo der grosse Dichter und Denker
Von Heini Hofmann
wertes erfahren. Zudem finden das ganze Jahr hindurch kleinere und grössere Veranstaltungen
gelebt und gewirkt hat. Hier wird sein
statt. Höhepunkt war im Mai eine dreitägige
Gedenkjahr intensiv zelebriert. Doch es gibt noch
Würdigungsfeier mit Dorffest und der Freilichtaufführung von
einen zweiten Hotspot: Glattfelden, das schmucke
«Kleider machen Leute» des Theaters Kanton Zürich, mit Pre-
Bauerndorf «im äussersten Winkel des Landes ... in
miere in Glattfelden und anschliessender Tournee.
einem grünen Wiesentale» unweit des Rheins, wo
der «Grüne Heinrich» seine Wurzeln hat.
Jahrgänger von Alfred Escher
Gottfried Keller (19. Juli 1819–15. Juli 1890) ist einer der be-
Daher ist auch Glattfelden in Feierstimmung zum 200. Ge-
deutendsten Erzähler und Dichter des 19. Jahrhunderts. Auf-
burtsag eines der Grossen der deutschen Literatur. Mitten
gewachsen ist er, als Bürger von Glattfelden, am Rindermarkt
im Dorfkern mit seinen alten Riegelbauten, in einem vorbild-
in der Zürcher Altstadt, wo, nur einen Katzensprung entfernt,
lich restaurierten Haus bei der Kirche aus dem Jahr 1526, ist
im Neuberg am Hirschengraben, sein Jahrgänger, der später
seit 1985 das Gottfried-Keller-Zentrum beheimatet. Eine
ebenfalls berühmte Zürcher Alfred Escher, seine Jugendjahre
Gottfried-Keller-Strasse, ein Grünheinrich-Weg und -Dorf-
verbrachte.
brunnen sowie eine Judithsäule halten die Erinnerung wach,
Zu Kellers Ahnen mütterlicherseits zählen Söldnerführer, Hel-
und vom Gemeindehaus grüsst ein grosses Wandbild des
den der Burgunderkriege, Berner Patrizier sowie Waadtlän-
Dichters.
der und Neuenburger Geschlechter. Auch die Keller-Vorfah-
Weg des Dichters – Dichterweg
ren in Glattfelden gehörten zu den Einflussreichen des Dorfs, in deren Ahnengalerie sich Rittergeschlechter finden. Eine
In solch historischem Ambiente fühlt sich der Besucher dem
Urahnin war die Nichte Rudolf Bruns, des ersten Bürgermeis-
Gefeierten doppelt nahe. Die permanente Ausstellung im
ters von Zürich. Der älteste Genealogienachweis deutet so-
Zentrum mit Leihgaben der Zentralbibliothek Zürich zeigt die
gar auf Kaiser Karl den Grossen hin.
Bedeutung Glattfeldens (wo seine Eltern aufwuchsen) für des Dichters Lebensweg, und die Sonderausstellung «Vom Leben zum Werk» würdigt, zusammen mit einem Videofilm, sein Schaffen. In der Zentrumsbibliothek (samt Lesestube)
Gottfried Keller im Alter von 23, 46 und 66 Jahren.
Sein Vater Hans Rudolf Keller, Drechslermeister und ein Mann hoher humanitärer Ideale, starb, als klein Gottfried erst fünf Jahre alt war. Seine Mutter, Elisabeth, hiess ledig Scheuchzer. Sie war Arzttochter, Enkelin eines Schneiders
liegen alle Werkausgaben samt Forschungsliteratur auf. Der
und Urenkelin eines Goldschmieds, war charakterstark und
ehrwürdige Grünheinrich-Saal dient für Events, und das char-
hat sechs Kinder geboren, vier davon begraben und zwei
mante «Kafi Judith» ist benannt nach einer platonischen
allein erzogen. Gottfrieds drei Jahre jüngere Schwester
Liebe des jungen Gottfried Keller.
Regula war Schneiderin mit handwerklichem Geschick. Sie
Auf einem landschaftlich reizvollen Dichterweg ab Station
opferte sich selbstlos für die vaterlose Familie auf. So kamen
Glattfelden via Paradiesgärtli kann man zudem die Streifzüge
sie über die Runden.
des «Grünen Heinrich» nacherleben und dabei viel Wissens-
Glattfeldener Landarzt als Motivator
Viele Exponate der Glattfeldener Gedenkstätte wie Schriften,
Warum «grüner» Heinrich?
Weshalb eigentlich nannte Keller seinen jungen Helden den «grünen» Heinrich? Weil dieser noch unreif, grün hinter den Ohren war? Oder weil er die Natur liebte? Der Dichter gibt die – banale – Antwort gleich selber, und sie hängt zusammen mit der nach dem frühen Tod des Vaters in Armut lebenden Familie: «Die Kleidung, welche ich damals erhielt, war grün, da meine Mutter aus den Uniformstücken des Vaters eine Tracht für mich schneidern liess.»
HH
Bilder und Gebrauchsgegenstände erinnern an diese Zeiten, so etwa Taufhäubchen und Säuglingsflasche der Keller-Kinder, Vaters ererbte Sackuhr aus Wien, die von ihm dort als Drechsler-Prüfungsarbeit angefertigten Schachfiguren aus Elfenbein, Silberlöffel aus Mutters Brautausstattung oder Schwester Regulas Kaschmirschal. Im Zentrum steht natürlich Gottfried Kellers Bezug zu Glattfelden. Hier, in seinem Heimatdorf, fand er in den Wirrnissen seiner Jugendzeit und
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Das Gottfried-Keller-Zentrum in Glattfelden in einem vorbildlich restaurierten Haus von 1526.
Der Grünheinrich-Saal im Gottfried-Keller-Zentrum Glattfelden, in welchem Events stattfinden.
Gotische Lesestube mit einer Gipsbüstenstele des Dichters und einem Winterthurer Kachelofen.
den dunklen Jahren innerer Reifung durch die «Flucht zu Mutter Natur» Kraft und Ruhe. Im heute nicht mehr existierenden Scheuchzerhaus, einer ehemaligen Seidenzwirnerei unterhalb der Kirche am Mühlbach, wohnte er jeweils bei der Familie des einzigen Bruders seiner Mutter. Dieser väterliche Onkel und Vormund, Johann Heinrich Scheuchzer, war Landarzt und nebenbei Bauer und passionierter Jäger. Er war es auch, der den Drang seines Schützlings, Künstler zu werden, unterstützte. Den Weg von Zürich nach Glattfelden legte der junge Gottfried mehrmals auf Schusters Rappen zurück und verbrachte hier viele glückliche Wochen und Monate, die ihn nachhaltig prägten.
Kellers Oheim und Ersatzvater,
Johann Heinrich Scheuchzer,
war Landarzt in Glattfelden.
Dies schlug sich später nieder in Kellers grösstem Wurf, dem autobiografischen Entwicklungsroman «Der grüne Heinrich», in welchem er meisterhaft seine eigene Jugend beschrieb und sich dabei sein Suchen und Irren von der Seele schrieb. Diese glücklichen Momente in seinem Heimatdorf in schwierigen Lebensphasen bilden die reizvollsten Kapitel im «Grünen Heinrich», und sie tauchen auch im Novellenzyklus «Die Leute von Seldwyla» auf.
Die Stationen seines Lebens Wegen eines Bagatellvergehens wird der 15-jährige Gottfried Keller aus der Mittelschule gewiesen. Er wendet sich der Landschaftsmalerei zu und reist 1840 in die Künstlermetropole München. Doch nach zwei Jahren gibt er auf und kehrt zur Mutter zurück. Ab seinem 24. Lebensjahr glaubt er sich zum Dichter berufen. Es folgen Studienjahre in Heidelberg und Berlin als Stipendiat der Zürcher Regierung, unter ande-
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Zürich. Dass man sich seiner nun auch in Glattfelden so engagiert erinnert, würde ihn bestimmt freuen.
Glattfelden ist stolz auf seinen berühmten «Kumpel»: Gottfried-Keller-Bildnis am Gemeindehaus.
rem dank seines Freundes Alfred Escher. Hier gelingt ihm der Durchbruch mit seinem Jahrhundertwerk, dem vierbändigen Roman «Der grüne Heinrich», und den ersten Novellen zu «Die Leute von Seldwyla». 1855 kehrt er nach Zürich zurück. Sein Auskommen sucht er als zeitkritischer Publizist, pflegt Austausch mit Künstlern und Geistesgrössen und macht sich politisch bemerkbar. Die unerwartete Wahl zum Staatsschreiber des Kantons Zürich 1861 beendet seine materiellen Sorgen. 1876 tritt er, 57-jährig, vom Amt zurück, um sich wieder vollumfänglich als Schriftsteller zu betätigen. Keller bleibt unverheiratet, wird aber von Mutter und Schwester umsorgt, solange diese leben. Doch er verehrt verschiedene bemerkenswerte Frauen, so die selbstbewusste Rheinländerin Betty Tendering, die Bernerin Louise Scheidegger (seine Verlobte, welche sich tragischerweise 1866 das Leben nimmt) und die geistvolle Wienerin Marie Frisch-Exner. Über all das informiert das Gottfried-Keller-Zentrum in Glattfelden, zudem über seine zahlreichen Ehrungen (Dr. h.c. Uni Zürich, Bürgerrecht Stadt Zürich, bundesrätliche Urkunde, Gottfried-Keller-Strassen in zig Städten) sowie die vielen Porträtgemälde und Denkmäler bekannter Künstler. 1890 stirbt Gottfried Keller 71-jährig auf der Höhe seines Ruhms in
Des Junggesellen Kellers Stützen: Mutter Elisabeth (geb. Scheuchzer) und Schwester
Regula.
Glattfelden und Gottfried Keller
Ausstellungs-Zentrum: Gottfried-Keller-Str. 8, 8192 Glattfelden Tel. 044-867 22 32, www.gkz.ch Führungen auf Anfrage jederzeit; Dichterweg: ganzjährig; Führungen auf Wunsch; Jubiläum: www.gkeller-200.ch
Korrespondenzadresse: Heini Hofmann Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist Hohlweg 11 8645 Jona
Alle Bilder: © Gottfried-Keller-Zentrum
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Dort ein Star, hier ein Kumpel Während das urbane Zürich für sein berühmtes Aushängeschild zu dessen 200. Geburtstag mit der grossen Kelle anrührt, tut dies das Bauerndorf Glattfelden bescheiden, aber herzlich. Dort wird er als Star zelebriert, hier als Kumpel gefeiert, als «einer von uns». Denn hätte damals der junge Gottfried in seiner jugendlichen Zerrissenheit nicht immer wieder aus der Stadt hinaus in die Glattfeldener Natur entfliehen und hier beim verständnisvollen Oheim und Ersatzvater, bei Verwandten und Dorfleuten, die ihn so nahmen, wie er war, auftanken und dadurch seinen Weg und seine Bestimmung finden können, hätte Zürich heute vielleicht keine VIP-Feier. Glattfelden hatte eine magische Anziehungskraft auf den jungen Gottfried: Es liegt im untersten Teil des Glatttals, bevor die Glatt in den Rhein mündet, und war damals geprägt von Landwirtschaft und Textilindustrie. In einer Talmulde gelegen, von Hügelflanken abgeschirmt und abseits grosser Heerstrassen, blieb das beschauliche Bauerndorf ein Ruhe verströmender Kraftort – das richtige Umfeld für einen suchenden jungen Menschen. Hier entstanden wohl auch Denkweisen wie «Achte jedes Menschen Vaterland, aber das deinige liebe!» («Das Fähnlein der sieben Aufrechten»).
Ein Dichter mit Maleraugen Diese vom «Grünen Heinrich» in vollen Zügen genossene Naturidylle zieht sich, auch wenn er Glattfelden nie namentlich erwähnt, durch Kellers dichterische Werke, wobei er allerdings – bei der Beschreibung von Landschaftsdetails oder Dorfcharakteren – Wirklichkeit und Phantasie ineinander verwob. Und notabene: Der Umweg über die Landschaftsmalerei zur Dichtung war keine verlorene Zeit, wie er selber meinte, im Gegenteil: Keller wurde dadurch zu einem sehr speziellen, mit Maleraugen formulierenden Dichter. Geprägt fürs Leben wurde Gottfried Keller eindeutig in Glattfelden. Jedoch, der kleine Wermutstropfen in dieser «geografischen Liebesbeziehung»: Während Keller seit 1878 Ehrenbürger von Zürich war, verzichtete er – kurz vor seinem Tod – auf das Bürgerrecht von Glattfelden. Warum, weiss niemand. Es ist bloss eine Vermutung, dass dies geschah, weil ihn der Wahlkreis Bülach 1866 nach einer Amtsdauer nicht mehr in den Kantonsrat bestellte. Dies tut jedoch heute der Freude über den berühmt gewordenen «Kumpel» keinen Abbruch.
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