Transkript
21. Schweizerische Tagung für Phytotherapie, Baden, 23. November 2006
Phytotherapeutika
Mittel und Mittler zwischen kompetenten Patienten und ihren Ärzten
Gerd Nagel
Hintergrund
Seit einigen Jahren setzt sich im Gesundheitswesen der Begriff «Patientenkompetenz» durch. Er stammt aus der Sprachwelt von Patienten und bezeichnet auch eine neue Generation von Patienten.
In diesem Beitrag soll erläutert werden, was unter Patientenkompetenz zu verstehen ist, und was der Trend zu mehr Patientenkompetenz, speziell auch hinsichtlich der heute neu definierten Komplementärmedizin, bedeutet. Phytotherapeutika und Mikronährstoffe stehen an der Schnittstelle der unterschiedlichen Denkstile von Patienten und Therapeuten. Es wird dargelegt, dass sie hier trennend, aber auch verbindend sein können.
Patientenkompetenz:
Begriffsbestimmung
Der Begriff «Patientenkompetenz» ist eine Weiterentwicklung früherer Rollenbeschreibungen von Patienten im Gesundheitswesen. In Abbildung 1 wird die historische Entwicklung dieser Begriffe dargelegt. Jeder neue Begriff stellt jeweils die Erweiterung des vorangegangenen dar.
Die Begriffe vom informierten, mündigen, autonomen Patienten beziehen sich im Wesentlichen auf das Verhältnis des Patienten zu seinem Umfeld, dem Arzt, der Gesetzgebung und den Institutionen im Gesundheitswesen (1).
Der Begriff vom kompetenten Patienten, der sich etwa seit dem Jahr 2000 durchsetzt, befasst sich hingegen mit der Rolle des Patienten gegenüber sich selbst. Im Vordergrund steht die Frage: «Was kann ich selbst für mich tun, um mit oder trotz der Erkrankung ein möglichst normales Leben zu führen?» (2).
Medizin und Psychologie definieren Patientenkompetenz etwas umfänglicher (3)(Abbildung 2).
Kompetente Patienten erkennt man an drei typischen Fragen: ● Wie orientiere ich mich im Informa-
tionsdschungel? ● Wie finde ich meinen eigenen Weg? ● Was kann ich selbst für mich tun?
Bedeutung der Patienten-
kompetenz
Die zunehmende Patientenkompetenz hat zahlreiche positive Aspekte (4).
Besonders bedeutend ist die gute Compliance der Patienten, da diese in der Regel die medizinischen Behandlungsentscheide besonders gut nachvollziehen und die im Rahmen der gemeinsamen Entscheidungsfindung von Arzt und Patient getroffenen Massnahmen besser mittragen können.
Wenn der Arzt die Patientenkompetenz respektiert, nehmen aber auch seine Bindung an den Patienten und seine Compliance zu. Beide Partner werden zu intensiverer Kommunikation über die Erlebniswelt des Patienten fähig.
Von kompetenten Krebspatienten wissen wir, dass sie durch ihre Eigeninitiativen und das Selbstmanagement weniger Angst haben, sicherer im Le-
Abbildung 1: Vom bevormundeten zum kompetenten Patienten: Stichworte zu Patientenrollen in den letzten 50 Jahren.
ben stehen, eine positivere Grundeinstellung finden und über eine bessere Lebensqualität verfügen als passivere Patienten (2). Kompetente Patienten sind auch überzeugt, dass sich ihr Einmischen in die eigenen Angelegenheiten positiv auf die Krankheitsbewältigung und den Krankheitsverlauf auswirken kann. Schliesslich sind kompetente Patienten auch viel eher als wenig interessierte Patienten bereit, Selbstverantwortung zu übernehmen und komplementäre Therapien, von deren Nutzen sie überzeugt sind, selbst zu bezahlen.
Man hört aber auch das Argument, die zunehmende Patientenkompetenz habe unerwünschte Folgen. Vor allem wird behauptet, kompetente Patienten seien zeitraubende Patienten, die immer das Neueste und Teuerste wollen. Dies mag für eine kleinere Gruppe von Patienten zutreffen. Wie sich am Beispiel Diabetes zeigen lässt, ist dies aber nicht die Regel. Ein gekonntes Selbstmanagement des geschulten Diabetikers hat ganz klar weniger Arztbesuche, weniger Therapiekomplikationen und weniger Sekundärerkrankungen zur Folge als Ignoranz des Patienten gegenüber den eigenen Angelegenheiten.
Patientenkompetenz und
Komplementärmedizin
Wurde die Komplementärmedizin noch bis vor kurzem oft als eine Sonderform der sogenannten Alternativmedizin behandelt, setzt sich heute eine neue Bewertung derselben durch. Diese geht auch von einer neuen Definition der Komplementärmedizin aus. Diese formuliert: Die Komplementärmedizin rechtfertigt sich weniger aus der Wirklichkeit der ärztlich-therapeutischen Sicht von Krankheiten als aus der komplementären Wirklichkeit des Patienten, also aus seinem persönlichen Krankheitserleben. Dieses Krankheitserleben führt zu bestimmten Grundüberzeugungen und Handlungsmustern von Patienten, wozu komplementärmedizinische Therapien, wie die Phytotherapie oder die Anwendung von Mikronährstoffen, sehr gut passen (5).
Diese komplementären Wirklichkeiten von Arzt und Patient und die da-
phytotherapie Nr. 1 • 2007
33
21. Schweizerische Tagung für Phytotherapie, Baden, 23. November 2006
Patientenkompetenz ist die Fähigkeit des Patienten
● sich den Herausforderungen der Erkrankung zu stellen, ● sich auf die eigenen und fremden Ressourcen zur Krankheitsbewältigung zu be-
sinnen, ● diese Ressourcen zu nutzen, ● dabei auch persönliche Bedürfnisse zu berücksichtigen, ● eigene Zielvorstellungen zu verfolgen und ● Autonomie zu wahren.
Abbildung 2: Die medizinische Definition von Patientenkompetenz. Patienten selbst betonen besonders den Aspekt der Selbsthilfe.
«äusserer Arzt»
logievorstellungen von Krankheiten, das heisst salutotrop, zu handeln und dazu komplementäre Therapien der eigenen Präferenz anzuwenden. Das Recht des kompetenten Patienten, selbst etwas für sich tun zu wollen, anerkennend, kann der Arzt mit komplementären Mitteln liberal umgehen. Seine Aufgabe ist in diesem speziellen Therapiefall, weniger nach Wirksamkeit als nach Sicherheit der komplementären Therapie zu fragen.
Phytotherapeutika sind, wie Mikronährstoffe, ideale Mittler zwischen den Denkstilen von Arzt und Patient. Einerseits finden sie grosse Akzeptanz bei Patienten, weil sie deren naturheilkundlich begründetem Therapiekonzept entsprechen, andererseits finden sich immer Präparate, die ohne besondere Risiken in die schulmedizinischen Standards integriert werden können.
«innerer Arzt»
Abbildung 3: Das Modell der zwei Ärzte zur Krankheitsbewältigung. Diese Auffassung entspricht dem lateinischen Sprichwort: «Medicus curat, natura sanat.»
hinter stehenden Denkstile seien am Beispiel des sogenannten 2-Ärzte-Modells von Krebspatienten erläutert (Abbildung 3).
Das Modell der zwei Ärzte besagt, dass es zur Überwindung einer Krebserkrankung zwei Ärzte braucht. Der äussere Arzt, die Medizin, will die Krankheit mit ihren Mitteln von aussen beeinflussen, der innere Arzt versucht dies von innen mit den Kräften der körpereigenen Abwehr. Die Medizin geht krankheitszentriert, pathotrop vor. Der Denkstil des Patienten hingegen ist auf die Stärkung gesundmachender Kräfte, also salutotrop ausgerichtet. Beide Denkstile haben ihre Berechtigung und Richtigkeit. Sie ergänzen einander, sind komplementär.
Die sich aus dem komplementären Denkstil des Patienten definierende Komplementärmedizin dient dem Zweck der Unterstützung körpereigener Ressourcen, in der Phytotherapie zum Beispiel zur Regeneration der Funktionen einer krankheits- oder therapiebedingten Leberschädigung.
Dies hat sich im Jahr 2006 im Rahmen der sogenannten PUK-Diskussion besonders krass gezeigt. In dieser Diskussion wurde von schulmedizinischer Seite immer wieder argumentiert, es fehle an klinischen Studien, welche die Wirksamkeit von komplementärmedizinischen Mitteln gegen bestimmte Krankheiten beweisen würden. Beispiel: das Phytotherapeutikum Mistel gegen Krebs. Die Komplementärmedizin wurde praktisch ausschliesslich im pathotropen Konzept bewertet. Salutotrope Denkansätze und deren Stellenwert in der modernen Medizin kamen so gut wie nicht zur Sprache.
Die Phytotherapie folgt in naturheilkundlich-medizinischer Tradition aber eben nicht dem pathotropen, sondern dem salutotropen Paradigma. Da dieses aber oft als Angriff auf den schulmedizinischen Denkstil verstanden wird, wird die Komplementärmedizin zur Barriere zwischen Arzt und Patient.
Phytotherapeutika: Mittler
zwischen Arzt und Patient
Phytotherapeutika: Mittel zwischen Arzt und Patient
Komplementäre Therapiewünsche von Patienten werden von vielen Ärzten auch heute oft noch abgewehrt.
Die Phytotherapie muss aber nicht etwas Trennendes zwischen Arzt und Patient sein. Sie kann auch vermitteln und verbinden. Bedingung ist allerdings, dass der Arzt das Recht des Patienten respektiert, nach eigenen Ätio-
Schlussfolgerungen
Die zunehmende Patientenkompe-
tenz ist ein gesellschaftlicher Trend, der
nicht aufzuhalten ist und an den sich
unser Gesundheitswesen anpassen wird.
Da Patientenkompetenz und Komple-
mentärmedizin untrennbar miteinan-
der verbunden sind, werden auch
bestimmte Formen und Mittel der Kom-
plementärmedizin vermehrt in schul-
medizinische Standards integriert wer-
den. Wegen ihrer guten Akzeptanz bei
Patienten sowie der in vielen Fällen
hervorragenden Dokumentation von
Qualität und Sicherheit eignen sich
Phytotherapeutika besonders gut zur
Verbindung der komplementären Wirk-
lichkeiten von Arzt und Patient.
■
Anschrift des Referenten: Prof. Dr. med. Gerd Nagel Stiftung Patientenkompetenz Haldensteig 10 8708 Männedorf E-Mail: g.nagel@patientenkompetenz.ch
Literatur:
1. Scheibler F.: Shared Decision Making: Von der Compliance zur partnerschaftlichen Entscheidungsfindung. Hans Huber Verlag Bern 2004.
2. Bopp A., Nagel D., Nagel G.: Was kann ich selbst für mich tun – Patientenkompetenz in der modernen Medizin. Verlag Rüffer&Rub Zürich 2005.
3. Nagel G., Theobald S., Neusetzer B., Audörsch I.: Patientenkompetenz: Begriffsbestimmung und prognostische Relevanz bei Krebs. Ergebnisse einer Umfrage. D. Z. Onkologie 36 110–117 (2004).
4. Weis J., Giesler J.M.: Patientenkompetenz in der Onkologie. In: Bartsch H.H., Weis J. Hrsg. Gemeinsame Entscheidungsfindung in der Krebstherapie. Karger Verlag Freiburg 2004.
5. Nagel G.: Unkonventionelle Mittel in der Krebstherapie – Plädoyer für eine offene Medizin. Karger Verlag Freiburg 1998.
34 phytotherapie Nr. 1 • 2007