Transkript
FORTBILDUNG
Schmerztherapie mit Opioiden
Keines eignet sich für alle
Opioide sind aus der Therapie akuter und chronischer Schmerzen nicht mehr wegzudenken. Inzwischen steht eine ganze Palette hochwirksamer Substanzen zur Verfügung. Aber auch mögliche Nebenwirkungen sind zu bedenken. Zudem weisen die Substanzen unterschiedliche pharmakokinetische Eigenschaften auf, die bei ihrem Einsatz zu berücksichtigen sind.
Eberhard Albert Lux
Als Opiate bezeichnen wir Substanzen mit morphintypischen Wirkungen, die der Rohsubstanz des Opiums entspringen oder durch chemische Prozesse verändert sind. Opioide gelten als chemische Syntheseprodukte mit Bindungen an entsprechende Opioidrezeptoren. In diesem Beitrag wird für sie durchgängig der Begriff «Opioide» verwendet. Die Entdeckung von Endorphinen hat unser Verständnis über Opioidrezeptoren, welche G-Protein-gekoppelt auf die prä- und die postganglionäre Signalübertragung Einfluss nehmen, vertieft. Die Wirkung von Opioiden lässt sich heute durch µ- (MOR), - (KOR-) und ␦-Opioidrezeptoren (DOR) mit ihren individuellen Variationen besser verstehen. Die Bedeutung der jeweiligen Opioidrezeptoren ist allerdings bis heute nicht in allen Einzelheiten geklärt. Durch die Vermittlung von Analgesie, aber auch Atemdepression steht der µ-Rezeptor im Fokus unseres Interesses, zumal alle Opioidanalgetika über diesen Rezeptor ihre schmerzlindernde Wirkung entfalten. Zwar sind unsere Vorstellungen von der analgetischen Wirksamkeit der Opioide inzwischen weit fortgeschritten, ihre zentralen Wirkungen wie die Einflussnahme auf das Immunsystem und den Hormonhaushalt, das Hervorrufen von Juckreiz, Antidiurese und Mikrozirkulation bleiben jedoch weitgehend offen. Der Nutzen oder der Schaden für das Individuum ist somit letztlich nicht geklärt. Die peripheren und zentralen Opioidwirkungen zeigt Tabelle 1.
MERKSÄTZE
Opioide sind peripher und zentral wirksame Substanzen, die analgetisch wirken, allerdings eine Vielzahl weiterer therapeutisch gewünschter und nicht gewünschter Wirkungen entfalten.
Bei ihrem Einsatz sollten pharmakodynamische und -kinetische Eigenschaften bedacht werden, damit eine wirksame und sichere Behandlung stattfinden kann.
Opioidrezeptoren finden sich vor allem im Bereich des Zentralnervensystems. Allerdings sind derartige Rezeptoren auch in der Körperperipherie nachweisbar, dies umso mehr, als nozizeptive Reize andauern. Gerade im entzündeten Gewebe ist die Opioidrezeptorendichte hoch. Sie stimmt auch mit unserer Alltagserfahrung hinsichtlich der Wirksamkeit lokal applizierter Morphinlösung überein, etwa im Rahmen der Mundspüllösung bei Entzündungen der Schleimhäute im Mund- und Rachenbereich (Mukositis; z.B. infolge einer Chemotherapie). Aufgrund der unterschiedlichen Ausstattung jedes Menschen mit Opioidrezeptoren und besonders deren Subtypen wirken die einzelnen Substanzen individuell durchaus unterschiedlich. Auf dieser Kenntnis beruht auch der Rat zum Opioidwechsel bei unzureichender Wirkung oder vermehrten Nebenwirkungen. Bei der Umstellung von einem Opioid auf ein anderes sind die Äquivalenzdosen zu beachten (Tabelle 2). Es stellt sich die Frage, inwieweit wir heute auf der breiten Klaviatur verfügbarer Substanzen spielen müssen. Opioide unterscheiden sich zunächst in ihrer Pharmakokinetik. Während moderne Opioide wie Fentanyl und Alfentanil sehr effektiv, aber dennoch nur kurz am µ-Rezeptor binden, liegen die Halbwertszeiten der sonstigen Opioide bei etwa 4 bis 6 Stunden. Die Wirkdauer konnte erst durch das Prinzip der Retardierung ausgedehnt werden. So weisen zum Beispiel Fentanyl- oder Buprenorphinpflaster eine träge Kinetik auf. Manche oralen Zubereitungen setzen Wirkstoffe verzögert frei aufgrund unterschiedlich grosser beziehungsweise sich verzögert auflösender Substanzkügelchen oder aufgrund einer Hartkapsel, aus der durch Flüssigkeitszufuhr die Substanz (hier: Hydromorphon; Palladon®, Jurnista®, Hydromorphoni HCl Streuli®) über viele Stunden herausgepresst wird. Inzwischen gibt es Retardtabletten und -kapseln mit einer Halbwertsdauer von 8 bis 24 Stunden. In der Tumorschmerztherapie sollte der Patient einerseits eine kontinuierliche morphintypische Wirkung zur Schmerzlinderung erhalten, andererseits aber auch effektiv ultrakurz wirksame Medikamente (z.B. Fentanyl) gegen Schmerzattacken, welche die ansonsten befriedigende Schmerzreduktion
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Tabelle 1:
Periphere und zentrale Opioidwirkungen und damit verbundene Nebenwirkungen
L Analgesie L Obstipation L Sedierung L Euphorie oder Dysphorie L Atemdepression L Abschwächung des Hustenreflexes L Übelkeit und Erbrechen L Miosis L Kontraktion der glatten Muskulatur (Sphinkteren) L Antidiurese L Abhängigkeit/Sucht/Toleranzentwicklung L Harnverhalt L Hypotension
Tabelle 2:
Äquivalenzdosierungen der Opioide (oral bzw. transkutan)
Tramadol Tilidin Tapentadol Oxycodon Hydromorphon Fentanyl Buprenorphin
Wirkstärke zu Morphin
0,1 0,1 0,4 2 6–8 100 80–100
durchbrechen. Da allerdings das schnelle Erreichen hoher Blutspiegel beziehungsweise deren rasanter Abfall abhängig machen kann, sollte die Kombination von retardierten und nicht retardierten Opioiden nur Patienten im Rahmen der Tumorschmerztherapie in einer Palliativsituation vorbehalten bleiben. Pharmakokinetische Überlegungen müssen bei der Vielzahl vorhandener Substanzen auch hinsichtlich ihrer Metabolisierung angestellt werden. Bei eingeschränkter Leberfunktion werden oral aufgenommene Opioide effektiver wirken, da die Verstoffwechselung im Rahmen des First-Pass-Effekts in der Leber geringer ausfällt. Eine fortschreitende Niereninsuffizienz verhindert das Ausscheiden der Substanzen oder deren aktiver Metabolite, wobei die Wirkung beziehungsweise die Nebenwirkungen hierdurch erhöht sind. Dies wird besonders am Beispiel des Morphins deutlich: Die Ausscheidungskapazität der Niere für Morphin-3- und Morphin-6Glucoronid ist begrenzt und bei eingeschränkter Nierenfunktion (glomeruläre Filtrationsrate, GFR) schnell überschritten. Damit kumulieren die Substanzen mit dem Effekt zunehmender Sedierung und Ateminsuffizienz beim Patienten. Morphin ist deshalb bei Niereninsuffizienz kontraindiziert.
Substanzen und Differenzialindikationen
Morphin ist die Substanz, an deren Wirkung und Nebenwirkungen sich alle anderen Opiatanalgetika im Sinne eines Goldstandards messen lassen müssen. Ein negativer Einfluss auf unser Immunsystem scheint bei Morphin zu bestehen, ohne dass derartige Wirkungen klinisch ins Auge stechen. Bei Niereninsuffizienz darf Morphin, wie erwähnt, nicht gegeben werden. Oxycodon haben Freund und Speyer 1916 in Frankfurt synthetisiert. Es wurde, wohl nicht zuletzt durch das Pharmakomarketing in den USA, zum Opioid Nummer eins, wobei seine Wirkungen und Nebenwirkungen diesen Siegeszug kaum begründen. Die etwas geringere Rate opioidbedingter Übelkeit sowie die verbesserte Wirksamkeit bei neuropathischem Schmerz gegenüber Morphin sind möglicherweise durch die zusätzliche Wirkung am -Rezeptor bedingt. Bei zunehmender Niereninsuffizienz muss man die Dosis von Oxycodon reduzieren. In der Kombination Oxycodon/Naloxon (Targin®) wird eine Verringerung opioidbedingter Obstipation erreicht. Patienten mit Leberinsuffizienz sollte man diese Zubereitung nur mit Vorsicht geben. Denn es ist nicht auszuschliessen, dass Naloxon nicht vollständig metabolisiert wird und es zu einem Wirkverlust oder zu Entzugssymptomen kommen kann. Hydromorphon, das schon 1920 in Deutschland synthetisiert und vier Jahre später eingesetzt wurde, hat in der Bundesrepublik seit Mitte der Neunzigerjahre nicht ohne Grund grosse Verbreitung gefunden. So kann es auch bei ausgeprägter Niereninsuffizienz gegeben werden, da aktive Metaboliten nicht bekannt sind. Hydromorphon wird in der Leber alternativ zu vielen anderen Substanzen verstoffwechselt und nur im geringen Mass an Transporteiweisse gebunden. Interaktionen mit anderen Medikamenten sind dadurch geringer ausgeprägt. Hydromorphon kann einmal täglich oral eingenommen werden und zeigt eine gute 24-Stunden-Galenik (Palladon®, Jurnista®, Hydromorphoni HCl Streuli®). Methadon (1937 durch Bockmühl und Ehrhart in Deutschland synthetisiert) und L-Methadon (L-Polamidon®) sind Reserveopioide. Neben der Bindung an den Opioidrezeptoren blockieren sie weitere, die Schmerzwahrnehmung beeinflussende Rezeptoren (z.B. NMDA-Rezeptoren). Gerade bei neuropathischen Schmerzen sind diese Substanzen vorteilhaft. Als Reserveopioide sollten sie insofern gelten, als ihre Pharmakokinetik nicht banal ist. Mit ihrer Einnahme strömen diese Substanzen zunächst als lipophile Opioide in die unterschiedlich vorhandenen Fettspeicher ab. Nach anfänglich regelmässiger Gabe wird deshalb eine Dosisreduktion nötig, um eine Kumulation zu vermeiden. Bei einzelnen Patienten zeigt sich allerdings eine extrem lange Halbwertszeit. Beide Substanzen sind in der Therapie neuropathischer Schmerzen jedoch einen Behandlungsversuch wert. Inwieweit Methadon auch antineoplastische Eigenschaften aufweist, werden Studien in den kommenden Jahren offenlegen. Die Behandlung unter derartiger Erwartung sollte kritisch mit dem Patienten diskutiert werden, zumal gerade Methadon unter dem Verdacht steht, QT-Zeit-Verlängerungen am Herzen mit der Folge tachykarder Herzrhythmusstörungen auslösen zu können. Fentanyl (1960 durch Paul Janssen in Belgien synthetisiert) ist ein reiner µ-Agonist. Die schnell anflutende und nur kurz wirksame Substanz ist in der Tumordurchbruchschmerzbe-
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handlung inzwischen etabliert und aus der Anästhesie und dem Rettungsdienst nicht mehr wegzudenken. Seinen Durchbruch erlangte das Präparat in der Schmerztherapie aufgrund der transkutanen Applikation. Die Substanz kann bei mittelgradiger Niereninsuffizienz angewendet werden. Aktive Metaboliten sind nicht bekannt. Buprenorphin ist ein halbsynthetisches Opioid, das aus dem Alkaloid Thebain gewonnen und 1969 von Reckitt und Colman eingeführt wurde. An seinem Beispiel lernen schon Medizinstudenten den sogenannten Ceiling-Effekt – ein Phänomen, bei dem mit steigender Dosierung ab einem bestimmten Punkt die Wirkung nicht weiter zu-, sondern abnimmt. Die Substanz wird deshalb auch als partieller µ-Agonist bezeichnet. Buprenorphin hat ein deutlich verstärktes Verhalten zur Bindung am Opioidrezeptor. Das Antagonisieren der Substanz mit Naloxon bedarf deshalb einerseits höherer Naloxondosen, andererseits führt Buprenorphin bei der Hämodialyse weniger schnell zu einer Schmerzzunahme (durch Entfernung aus dem Plasma) gegenüber anderen, durch die Dialyse entfernten Analgetika. Buprenorphin hat bei neuropathischen Schmerzen seine Wirksamkeit zeigen können. Ein negativer Einfluss auf das Immunsystem wird ihm nicht zugeschrieben. Die Substanz ist als Sublingualtablette verfügbar. In der transkutanen Applikation sind in Deutschland Pflaster mit einer bis zu siebentägigen Wirksamkeit (Norspan®; nicht im Arzneimittelkompendium der Schweiz) im Handel. Im Vergleich zu Fentanylpflastern werden leider höhere Raten lokaler allergischer Reaktionen sowohl vom Sofort- als auch vom Spättyp beobachtet, weshalb der Arzt die beklebten Hautareale der Patienten über Wochen beobachten muss. Tapentadol wurde 2006 patentiert. Im Rahmen der Opioide hat es eine Sonderstellung. Eine neue Substanzklasse, die Tapentadol neben den Opioiden einnimmt (sogenannte MORNRI [noradrenalin reuptake inhibitor]), hat an Bedeutung gewonnen. Die starke analgetische Wirkung der Substanz entfaltet sich wirksam durch eine Kombination von nur mässig effektiver Bindung am µ-Rezeptor und gleichzeitiger Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung. Hierdurch fallen in der Anwendung – bei vergleichbarer analgetischer Potenz – die opioidtypischen Nebenwirkungen (u.a. Übelkeit, Benommenheit, Verstopfung) deutlich geringer aus. In der Therapie neuropathischer Schmerzen ist die Substanz wirksam, bei mittelstarker Niereninsuffizienz kann Tapentadol noch angewandt werden. Nach dem WHO-Stufenschema der Tumorschmerztherapie trennen wir starke von mittelstark wirksamen Opioiden. Beispiele für mittelstarke Substanzen sind Tramadol, Tilidin, Codein und Dihydrocodein. Allen ist gemeinsam, dass sie sogenannte Prodrugs sind: Die wirksame Substanz entsteht erst nach Metabolismus in der Leber. Codein und Tramadol wirken bei rund 10 Prozent der Patienten wenig, da diese Personen über eine unzureichende Enzymausstattung mit CYP2D6 (poor metabolizer) verfügen und damit die Syn-
these der wirksamen Metaboliten ausbleibt. Viel seltener
trifft der Arzt auf sogenannte «ultra rapid metabolizer», die
Tramadol und Codein besonders schnell verstoffwechseln
und damit Überdosierungen provozieren. Durch die zusätzli-
che Wirkung auf die Serotonin-Wiederaufnahmehemmung
ist die Wirksamkeit von Tramadol bei neuropathischen
Schmerzen bedingt.
Tramadol steht im Verdacht, in Kombination mit SSRI und
SNRI sowie MAO-(Monoaminooxidase-)Hemmern das
lebensbedrohliche Serotoninsyndrom (u.a. Angst, Halluzina-
tionen, Tachykardie, Unruhe, Muskelzuckungen, gesteigerte
Reflexe, Schwitzen, Tremor) hervorrufen zu können. Tilidin
wird in der Leber zur wirksamen Substanz Nortilidin ver-
stoffwechselt. Somit ergibt sich eine verminderte Wirksam-
keit bei Patienten mit Leberinsuffizienz. Vorteilhaft für Tili-
din ist, dass man es bei Niereninsuffizienz geben kann. In
Deutschland ist Tilidin in geringem Mass dem Opioidant-
agonisten Naloxon mit dem Ziel zugesetzt, bei nicht sachge-
rechter Anwendung eine ansonsten tödliche Ateminsuffi-
zienz zu vermeiden. Tilidintropfen haben ein hohes Abhän-
gigkeitspotenzial und sollten nur kurzfristig eingesetzt
werden. Aufgrund vielfältiger Missbrauchsfälle und Abhän-
gigkeit hat der deutsche Gesetzgeber diese Zubereitung der
Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung unterstellt. L
Dr. med. Eberhard Albert Lux Klinik für Schmerz- und Palliativmedizin St.-Marien-Hospital Lünen D-44534 Lünen
Interessenlage: Dr. Lux hat Zahlungen für Vortragstätigkeit und Beratung von folgenden Firmen erhalten: Biogen, Grünenthal, Hexal, Indivior, Janssen-Cilag, Kyowa Kirin, Mundipharma, OMT, TAD, TEVA.
Literatur: 1. Freye E.: Opioide in der Medizin. 7. Aufl. 2008: Springer, Heidelberg. 2. Fallon M et al.: Efficacy and safety of fentanyl pectin nasal spray
compared with immediate-release morphine sulphate tablets in the treatment of breakthrough cancer pain: a multicentre, randomised, controlled, double-blind, double-dummy, multiple-crossover study. J Support Oncol 2011; 9: 224–231. 3. Löwenstein O et al.: Efficacy and safety of combined prolonged-release oxycodone and naloxone in the management of moderate-to-severe chronic non-malignant pain: results of a designed pooled analysis of two randomized, double-blind clinical trials. BMC Clin Pharmacol 2010; 10: 12. 4. Spiekermann S, Lux EA: L-Polamidon – das vergessene Opioid? Schmerzmedizin 2013; 29, Heft 1. 5. Hiltscher H, Lux EA: Methadon – neben analgetischen auch antineoplastische Eigenschaften? Schmerzmedizin 2016; 32, Heft 1, 37–39. 6. Bausewein C et al.: Arzneimitteltherapie in der Palliativmedizin. 1. Auflage, 2005: Urban & Fischer, München, S. 184–185. 7. Mercandante S: The role of tapentadol as a strong opioid in cancer pain management: a systematic and critical review. Curr Med Res Opin 2017; 33: 1965–1969.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeninarzt» 39/2017. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor; Angaben zu Medikamenten in der Schweiz wurden von der Redaktion von ARS MEDICI eingefügt.
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