Transkript
FORTBILDUNG
Hypertensive Krise und hypertensiver Notfall
Worauf ist in der Praxis zu achten?
Der arterielle Blutdruck ist ein wichtiger Parameter. Einerseits beschreibt er das chronische klinische Risiko sehr genau, andererseits kann ein hoher Blutdruck zu einer akuten Gefährdung des Patienten mit Organschädigung bis hin zum Tod führen.
Markus G. Mohaupt
In jeder Altersgruppe steigt das Risiko für einen tödlichen Schlaganfall, der wichtigsten Endorganbeteiligung, mit steigenden systolischen beziehungsweise diastolischen Blutdruckwerten sehr stark an. So ist dieses Risiko bei einem systolischen Blutdruck von 140 mmHg gegenüber 120 mmHg sowie diastolisch von 80 mmHg gegenüber 90 mmHg etwa doppelt so hoch (1). Dies hilft auch zu verstehen, warum gemeinhin 140/90 mmHg als Grenzwert zur Hypertonie definiert wird – weil sich das Risiko für den harten Endpunkt Apoplexmortalität verdoppelt. Eine schwere arterielle Hypertonie wird zumeist dann diagnostiziert, wenn der Blutdruck 180/110 mmHg oder mehr erreicht. Dann hat sich das Risiko, an einem Apoplex zu versterben, bereits um das 16-Fache gesteigert.
MERKSÄTZE
O Bei einem hypertensiven Notfall sollte der Blutdruck in den ersten Stunden in der Regel um ≤ 25 Prozent und auf < 160/100 mmHg nach mehreren Tagen gesenkt werden.
O Die Blutdrucksenkung sollte behutsam erfolgen; sie darf bei hämorrhagischem Apoplex intensiver sein, bei Vorliegen eines Aneurysmas ist eine aggressive Senkung gerechtfertigt.
O Fehlt eine spezifische Indikation, werden zumeist ACEHemmer als orale Erstlinienmedikation eingesetzt.
O Die intravenöse Blutdrucksenkung sollte dem Spital vorbehalten bleiben.
O Schwangere mit Blutdruckwerten ab >150/100 mmHg sollten ins Spital eingewiesen werden, da eine Präeklampsie, ein HELLP-Syndrom oder eine Eklampsie drohen kann.
Krise oder Notfall?
Man unterscheidet zwei unterschiedliche klinische Zustandsbilder: die hypertensive Krise (urgency) und den hypertensiven Notfall (emergency). Bei einer hypertensiven Krise liegen keine Zeichen oder Symptome einer Endorganbeteiligung vor, ausser häufig leichten Kopfschmerzen, bei dem hypertensiven Notfall besteht eine akute Endorganschädigung. Während bei isolierten systolischen beziehungsweise kombinierten systolisch-diastolischen Blutdruckerhöhungen zirka in einem Viertel der Fälle eine hypertensive Krise vorliegt, treten bei isolierten diastolischen Druckerhöhungen über 120 mmHg hypertensive Notfälle in den Vordergrund, obwohl der mittlere arterielle Blutdruck bei den Patienten mit kombinierten Blutdruckerhöhungen sogar deutlich höher war.
Klinische Symptome des hypertensiven Notfalls
Die Wahrnehmung der klinischen Endorganbeteiligung ist stark von der Fachrichtung des behandelnden Arztes geprägt. Während Kardiologen das akute Koronarsyndrom am häufigsten begleitend finden, geben Internisten Schwindel als Leitsymptom an (2). In Tabelle 1 sind die genannten Symptome in abnehmender Häufigkeit zusammengestellt. Welche Endorgansymptomatik kann einfach in der hausärztlichen Praxis detektiert werden? Sicherlich ist ein Apoplex, eine TIA oder ein Fundus hypertonicus mit Blutungen beziehungsweise einem Papillenödem (Fundus hypertonicus 3 bzw. 4) zu diagnostizieren. Ebenso kann ein akutes Koronarsyndrom und, mit wenigen Hilfsmitteln, ein Myokardinfarkt erkannt werden. Eine Herzinsuffizienz beziehungsweise eine -dekompensation mit Lungenödem ist ebenfalls ohne weitergehende Diagnostik erkennbar. Etwas schwieriger sind eine Aortendissektion und eine renale Beteiligung zu erkennen. Während Letztere eine Labordiagnostik benötigt, die vielleicht nicht vor Ort möglich ist, muss die Dissektion doch mittels CT ausgeschlossen werden. Kommt ein Patient mit einem hypertensiven Notfall in die Praxis, so sollte die Blutdrucksenkung die Endorganbeteiligung berücksichtigen. Besteht noch eine ausreichende Nierenfunktion, so führt ein stark erhöhter Blutdruck zu einer Drucknatriurese, da die Autoregulationsfähigkeit der Nieren überschritten wird. Dies trifft insbesondere für akut aufgetretene Blutdruckentgleisungen zu. Dabei kommt es über einen Anstieg des Renins durch die Volumenkontraktion zu einer Stimulation der Angiotensin-II- und der Aldosteronbildung. Das macht unter anderem verständlich, warum Volumengabe paradoxerweise häufig zu einer Stabilisierung des Blutdrucks führt.
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Unterschiedliche Wahrnehmung der Leitsymptome nach Facharztrichtung
Internisten Schwindel Angina pectoris Palpitationen Dyspnoe Erbrechen Kopfschmerzen Verschiedenes
Kardiologen akutes Koronarsyndrom Herzinsuffizienz akutes aortales Syndrom Schlaganfall Nierenschädigung
Tabelle 2:
Ursachen für einen hypertensiven Notfall
essenzielle Hypertonie renoparenchymatöse Erkrankung renovaskuläre Erkrankung ZNS-Erkrankungen Schwangerschaft Endokrinopathie Xenobiotika Medikamentenadhärenzstörung autonome Hyperreaktivität
Ursachen
Die Ursachen für einen hypertensiven Notfall können mannigfaltig sein (siehe Tabelle 2). Interessanterweise wiesen in Studien mehr als 70 Prozent dieser Patienten eine Schlafapnoe auf, wobei nicht charakterisiert wurde, ob möglicherweise eine sekundäre Ursache hierfür zugrunde lag. Da zirka 14 Prozent der Patienten mit einem hypertensiven Notfall eine Störung der Aldosteronhomöostase hatten und ein primärer Hyperaldosteronismus mit einem verdoppelten Risiko für eine Schlafapnoe einhergeht, ist ein solcher Zusammenhang denkbar. Mehr als drei Viertel der Patienten hatten mindestens eine sekundäre Hypertonieursache (2, 3). Eine Medikamentenadhärenzstörung bei bereits bestehender antihypertensiver Therapie sollte zwingend bedacht werden, da diese bei bis zu 40 Prozent der Patienten mehr oder weniger stark ausgeprägt vorzuliegen scheint.
Sonderfall Schwangerschaft
In einer Schwangerschaft sollte nach der 20. Schwangerschaftswoche zeitnah in der Praxis auf eine Proteinurie getestet werden und bei Blutdruckwerten bereits ab > 150/100 mmHg eine Spitaleinweisung stattfinden, da eine Präeklampsie, ein HELLP-Syndrom oder sogar eine Eklampsie drohen können. Bei Schwangeren sind Grenzen für eine hypertensive Krise (>140/90 mmHg) beziehungsweise einen hypertensiven Notfall (>170/110 mmHg) nach unten verschoben. Das ist durch
die gesteigerte vaskuläre Vulnerabilität begründet. So ist bei allen Patientinnen mit einem Schlaganfall in der Schwangerschaft ein systolischer Blutdruck von ≥ 155 mmHg beobachtet worden. Während eine Blutdrucksenkung günstig für die Mutter erscheint, nimmt das Geburtsgewicht der Kinder bei sinkendem Blutdruck ab.
Massnahmen
Diese oben genannte Risikoabwägung für Schwangere trifft in etwas anderer Form auch für Nichtschwangere mit einem hypertensiven Notfall zu. Randomisierte, kontrollierte Studien zur optimalen Therapie des hypertensiven Notfalls existieren nicht (4), ausser für den akuten hämorrhagischen beziehungsweise ischämischen Schlaganfall. Die meisten Experten sind sich aufgrund ihrer klinischen Erfahrung beim hypertensiven Notfall einig, dass der Blutdruck um ≤ 25 Prozent in den ersten Stunden und auf <160/100 mmHg nach mehreren Tagen gesenkt werden sollte. Die Blutdrucksenkung sollte nicht akut aggressiv sein. Die Patienten sollten in einem ruhigen Raum mit leicht erhöhtem Oberkörper liegend gelagert werden. Bei Medikamentenadhärenzproblemen sollte möglichst die Vorbehandlung wieder aufgenommen werden, ansonsten ist der Beginn einer oralen Erhaltungstherapie empfehlenswert. Eine wichtige Ausnahme stellen insbesondere rupturgefährdete bekannte Aneurysmata dar. Die intravenöse Blutdrucksenkung sollte dem Spital vorbehalten bleiben. Spezialfälle der Blutdrucksenkung stellen das akute Lungenödem, bei dem sich nitrathaltige Präparate sowie Scheifendiuretika bewährt haben, und die Angina pectoris beziehungsweise der Myokardinfarkt und die Aortendissektion mit einer Betablockerbehandlung dar. Bei bekanntem Phäochromozytom, bei Verdacht auf ein solches oder bei sonst erhöhter sympathischer Aktivität bieten sich Nitrate und Alphablocker an. Beim ischämischen Apoplex gibt es keine Evidenz für eine besondere Blutdrucksenkung (5), wohingegen eine Blutdrucksenkung mit einem systolischen beziehungsweise mittleren Zielblutdruck von 180 respektive 130 mmHg beim hämorrhagischen Infarkt notwendig ist. Eine Senkung unter 140 mmHg systolisch kann die Mortalität nicht, eventuell aber das funktionelle Ergebnis etwas verbessern. Dabei sollte ein mittlerer zerebraler Perfusionsdruck von 60 mmHg, das heisst die Differenz zwischen mittlerem arteriellem Blutdruck und intrazerebralem Druck, nicht unterschritten werden (6). Daraus ist bereits ersichtlich, dass die Blutdrucksenkung bei zentralen Ereignissen insgesamt nicht zu tief sein sollte. In der oben genannten Studie wurde ein systolischer Zielblutdruck von 140 mmHg angestrebt und erreicht. Fehlt eine spezifische Indikation, werden zumeist ACE-Hemmer als orale Erstlinienmedikation eingesetzt, unabhängig davon, ob es sich um eine hypertensive Krise oder einen hypertensiven Notfall handelt (2).
Vorgehen in der Praxis
In der Praxis bietet sich folgendes einfaches Vorgehen bei einem hypertensiven Notfall an: eine automatische Blutdruckmessung in einer ruhigen Umgebung, eine Wiederholung der Messung und Messungen an beiden Armen und möglichst auch an der unteren Extremität, insbesondere bei jüngeren Patienten, um eine Aortenisthmusstenose zu
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erkennen. Der Status sollte fokussiert erfolgen und einen orientierenden neurologischen Status einbeziehen. Eine Funduskopie ist sehr hilfreich in dieser Situation. Ein intravenöser Zugang sollte vorhanden sein, um gegebenenfalls mit etwas Kochsalzlösung eine allenfalls bestehende intravasale Volumendepletion zu korrigieren. Ein EKG sollte erfolgen, ein Urinstatus kann einen ersten Hinweis auf eine renale Ätiologie beziehungsweise Beteiligung geben. Zusammen muss unterschieden werden, ob es sich um einen hypertensiven Notfall oder eine hypertensive Krise handelt, indem die Endorganbeteiligungen wie oben beschrieben klinisch charakterisiert werden. Die Blutdrucksenkung sollte zumeist behutsam gemäss klinischer Einschätzung erfolgen, wobei eine stärkere Senkung bei hämorrhagischem Apoplex und die aggressivste Senkung beim Vorliegen eines Aneurysmas erfolgen sollten. Neben der Medikamentennonadhärenz sollte an eine sekundäre Hypertonieursache gedacht werden. Für den Hypertoniespezialisten ist ein primärpräventives Vorgehen natürlich viel erfreulicher, als erst im Stadium der Sekundärprävention involviert zu werden. Dabei gilt unser Augenmerk nicht mehr unimodal der Hypertonie als alleinigem Risikofaktor. Vielmehr findet eine Gesamtanalyse statt, die dann im besten Fall in eine aktive Verhaltensmodifikation
des Patienten in Ergänzung zur eher passiven medikamentösen Risikobeeinflussung mündet.
O
Prof. Dr. med. Markus G. Mohaupt
Universitätsklinik für Nephrologie und Hypertonie
Inselspital
3010 Bern
E-Mail: markus.mohaupt@insel.ch
Interessenlage: Es wurden keine Interessenkonflikte deklariert.
Referenzen: 1. Lewington S et al.: Age-specific relevance of usual blood pressure to vascular mor-
tality: a meta-analysis of individual data for one million adults in 61 prospective studies. Lancet 2002; 360: 1903–1913. 2. Borgel J et al.: Unrecognized secondary causes of hypertension in patients with hypertensive urgency/emergency: prevalence and co-prevalence. Clin Res Cardiol 2010; 99(8): 499–506. 3. Yu SH et al.: Malignant hypertension: aetiology and outcome in 83 patients. Clin Exp Hypertens A 1986; 8(7): 1211–1230. 4. Mancia G et al.: 2013 ESH/ESC Guidelines for the management of arterial hypertension: The Task Force for the management of arterial hypertension of the European Society of Hypertension (ESH) and of the European Society of Cardiology (ESC). J Hypertens 2013; 31(7): 1281–1357. 5. He J et al.: Effects of immediate blood pressure reduction on death and major disability in patients with acute ischemic stroke: the CATIS randomized clinical trial. JAMA 2014; 311(5): 479–489. 6. Anderson CS et al.: Rapid blood-pressure lowering in patients with acute intracerebral hemorrhage. N Engl J Med 2013; 368(25): 2355–2365.
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