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Titel
Arsenicum: Ruhe sanft und kurz
Untertitel
Ruhe sanft und kurz
Lead
Keine tödliche Seuche, kein Massenmörder haben unser Städtchen heimgesucht. Trotzdem herrsche Platzmangel auf unserem Friedhof, so die Behörden. Darum hätten sie die Aufhebung 20-jähriger Gräberfelder verfügen müssen. Schluss mit Requiescat in pace – Gebeine und Urnen werden ausgegraben. Störung der Totenruhe ist kein Straftatbestand, wenn sie von Amtes wegen erfolgt. Sanfte Ruhe haben die Hinterbliebenen seither auch nicht mehr.
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Rubriken — ARSENICUM
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Ruhe sanft und kurz

K eine tödliche Seuche, kein Massenmörder haben unser Städtchen heimgesucht. Trotzdem herrsche Platzmangel auf unserem Friedhof, so die Behörden. Darum hätten sie die Aufhebung 20-jähriger Gräberfelder verfügen müssen. Schluss mit Requiescat in pace – Gebeine und Urnen werden ausgegraben. Störung der Totenruhe ist kein Straftatbestand, wenn sie von Amtes wegen erfolgt. Sanfte Ruhe haben die Hinterbliebenen seither auch nicht mehr. Zwar könnten sie gegen Entrichtung von einer kleinen Gebühr – zirka 200 Franken – den Grabstein und die versiegelte Urne abholen oder gegen eine deutlich höhere Geldsumme die Knochen der Verblichenen umbetten lassen. Aber das entspricht nicht dem, was sie sich und ihren Verstorbenen wünschen. Ewiger Frieden sollte länger als 20 Jahre währen – das ist ja noch nicht mal der Zeitraum, den man einer Generation zuordnet. Die Welle der Empörung über die kommunalen Grabschänder erreichte auch mich, den Hausarzt. Eigentlich fühle ich mich mehr den noch Lebenden verpflichtet. Tue mein Bestes, sie dem Tod von der Schippe zu reissen. Und kenne mich gar nicht mit dem Bestattungs-Business aus – wobei sogar ich merke, dass es ein beinhartes Geschäft ist. Patientin A. beschwert sich: «Um zwölf Jahre haben sie Vater betrogen! 20 Jahre Liegezeit stand im Vertrag des Friedhofamtes. Er hat gerade mal acht Jahre gelegen – und jetzt wird sein Grab aufgehoben!» «Aber das geht doch nicht!», ereifere ich mich. «Doch!», schluchzt sie. «Mutter ist vorher gestorben, sie liegt seit 22 Jahren. Vater starb 14 Jahre später, und seine Urne wurde zu ihrer beigesetzt.» Ich erfahre nach und nach die ganze Tragödie. Patientin A. hatte auch noch einen Bruder, der im Ausland lebte und sich suizidierte, nach dem Tod der Mutter, aber zu Lebzeiten des Vaters. Der Vater verbat sich, dass die Urne mit der Asche des Sohns zur schon verstorbenen Mutter/Ehefrau kam. «Dabei war es ein Drei-Urnen-LochGrab!», schluchzte Frau A. «Was sagen Sie dazu, der eigene Vater, der nicht ganz unschuldig am schrecklichen Schicksal des Sohns war, verstösst ihn nach seinem tragischen Tod! Dabei hätte der 18 Jahre lang ruhen können.» Ich überlegte, ob der Gedanke, dass ihre Mutter zwei Jahre gratis lag, Frau A. trösten könnte. Doch sie war schon beim Praktischen angelangt. «Bester Jurakalk!», schwärmte sie über den Grabstein und fragte: «Aber wie transportiere ich den ab?» «Vielleicht mit einem Koffertrolley? Einer Sackkarre?», schlug ich

vor und sinnierte, was Frau A. mit dem Stein dann anfangen wollte. Diese Frage beschäftigte auch die Familie B., die Bedenkzeit brauchte und daher das Ding – mit deutlich lesbarer Gravur – im Vorgarten deponierte, zum Erstaunen vorbeischlendernder Passanten. Vermutlich kommt daher der Spruch «jemandem einen Stein in den Garten werfen». Da Gräber zweizeitig aufgehoben werden, werden sie in drei Wochen nochmal zum Friedhof fahren, um die Urnen der Eltern von Frau B. abzuholen. In der Sippe B. findet nun ein JeKaMi statt: Jeder hat eine Idee, was mit den Überresten der teuren Vorfahren geschehen soll. Über dem Vierwaldstättersee verstreuen, schlägt die Innerschweizer Verwandtschaft vor. In einem Friedenshain begraben, wünschen sich die Älteren. Bei Glatteis streuen, witzelt der pubertierende Sohn der B.s zum Entsetzen aller. «Keine weiteren Kosten!», fordert Vater B. «Du hast noch nie etwas für meine Eltern übriggehabt!», zischt seine Frau und bestellt Unterlagen, wie man aus der Asche von lieben Verstorbenen Kunstdiamanten herstellen lassen kann. Die verstorbene Frau B. war eine langjährige Patientin von mir, eine bescheidene, praktische Frau, die in ihrem Leben ständig umziehen musste. Sie hielt gar nichts von Totenkult. Vermutlich hätte sie es echt witzig gefunden, dass sie selbst posthum noch zügeln muss und was für kreative Ideen die Hinterbliebenen betreffend ihrer Asche haben. Als Patient C., immer schon zum Esoterisch-Übernatürlichen neigend, mir weinend mitteilte, dass ihm sein toter Vater nachts erschienen sei und alle die verflucht habe, die ihn in der ewigen Ruhe gestört hätten, fasste ich einen Entschluss. «Ich vermache meinen Körper der Anatomie!», sagte ich am Mittagstisch. «Nach der Sektion wird man gratis kremiert und anonym beigesetzt. Und ein paar zukünftige junge Kollegen können mal sehen, was gut trainierte Muskeln sind!» «Angeber!», zischte meine Frau. «Die nehmen dich nicht. Es herrscht kein Leichenmangel mehr.» «Und wir wollen doch ein schönes Begräbnis», forderte meine Tochter. «Eichensarg, Blumenschmuck, Ständchen vom Gesangverein, nachher einen üppigen Leichenschmaus und dann ein granitgedecktes Familiengrab mit Statue, vielleicht ein weinender Engel.» «Spinnst du?», röhrte mein Sohn. «Was soll denn das kosten? Das geht doch alles von unserem Erbe ab!» Ich seufzte. Man ist noch nicht mal tot, und sie streiten sich schon. «Nur über meine Leiche!», rief ich.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 3 ■ 2013