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Titel
Arsenicum: Sex in der Praxis
Untertitel
-
Lead
Bitte keine falschen Assoziationen bei diesem Titel … (Anmerkung des Layouters: Wurde nur gewählt, damit sich Ars medici besser verkauft!) Dem Hausarzt wird ein weiteres Tabuthema aufgehalst, welches er nach Tarmed-Tarif in wenigen Minuten lösen soll. Nicht genug damit, dass er Alkohol- und Cannabiskonsum erfragen, Kindheitsgeschichte, psychische Leiden in der Familie sowie Stuhlgang- und Urininkontinenz erheben muss – nun muss er auch noch Sexperte sein. Der Hausarzt darf nicht nur, sondern er muss sogar einen Blick in die Schlafzimmer seiner Patientinnen und Patienten tun, sagen die Psychiater. Ohne dies sei keine ganzheitliche Behandlung möglich.
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Sex in der Praxis

arsenicum
B itte keine falschen Assoziationen bei diesem Titel … (Anmerkung des Layouters: Wurde nur gewählt, damit sich Ars medici besser verkauft!) Dem Hausarzt wird ein weiteres Tabuthema aufgehalst, welches er nach Tarmed-Tarif in wenigen Minuten lösen soll. Nicht genug damit, dass er Alkohol- und Cannabiskonsum erfragen, Kindheitsgeschichte, psychische Leiden in der Familie sowie Stuhlgang- und Urininkontinenz erheben muss – nun muss er auch noch Sexperte sein. Der Hausarzt darf nicht nur, sondern er muss sogar einen Blick in die Schlafzimmer seiner Patientinnen und Patienten tun, sagen die Psychiater. Ohne dies sei keine ganzheitliche Behandlung möglich. Das stellt das Verhältnis zwischen Arzt und PatientInnen auf eine harte Probe. Verschämte 18-jährige Jungfrauen outen sich als solche, was man angesichts ihres Nuttenstylings nie gedacht hätte, und bringen einem nahe, wie stark der Druck in der Peergroup ist. Sie wollen Lebenshilfe und erklärt bekommen, wo Erotik aufhört und Sex anfängt. Biedere Landfrauen gestehen, dass sie seit Jahren einmal pro Jahr zusammen mit Freundinnen aus dem Trachtenverein eine Flugreise nach Afrika oder Asien machen, um sexuell richtig etwas zu erleben. Der gutbürgerliche Hausarzt ist mit einer ganz neuen Variante von Sextourismus konfrontiert und holt sich Rat im Tropeninstitut, weil er die tropische sexuell übertragene Erkrankung der Bauersfrau nicht kennt. Dem guten alten Onkel Doktor gesteht der junge Dorfcasanova seine Ejaculatio präcox und das mittelalterliche Alphatier des Landkreises seine erektile Dysfunktion, obwohl dieser sich nur rudimentäres Wissen auf Urologen- und Andrologenkongressen angeeignet hat. Nicht selten bekommt der Hausarzt selbst rote Ohren, wenn sich eine gut ausgestattete Zwanzigjährige mit grosszügigem Dekolleté vorbeugt oder sich aus dem Tanga windet. Er zwingt sich, ihr nur in die Augen zu schauen, lässt sich die Regeln der therapeutischen Abstinenz (oder wie hiess das?) durch den Kopf gehen und gibt väterlich-gütige Ratschläge. Er grinst innerlich, wenn die Patientin erleichtert seufzt: «Ach, mit einem alten Mann wie Ihnen kann man diese Sachen so schön sachlich besprechen!» Wenn die wüsste, dass im alten Mann noch die Säfte kreisen … Die eigene Ehefrau weiss es und hat einen etwas metallischen Klang in der Stimme, als sie die nun wieder in einen Ledermini-

rock gekleidete Patientin zur Blutentnahme bittet. Der Hausarzt lernt viel von seinen Patienten, insbesondere von seinen schwulen. Offen geben sie Auskunft, zeigen oft eine Loyalität zum Partner, wie sie Heteros gerne vermissen lassen. Beim nächsten homosexuellen Patient glänzt der Doktor dann mit konkreten Intimpflegetipps, die sich sehen lassen können. Freundlich-gelassen hört der Hausarzt zu, wenn das Sadomaso-Ehepaar erklärt, warum er Sicherheitsnadeln in der Vorhaut und sie Spuren vom Auspeitschen auf dem Rücken hat. Er soll Tipps geben, wie beim Sex mit Plastiktüte über dem Kopf kein unbeabsichtigter Erstickungstod auftritt. Vom Alter her ist der Hausarzt nicht mehr ein 1968-er. Die sexuelle Revolution ging an seiner Kinderstube vorbei. In der Pubertät hat er Geige gespielt, in der Liga gekickt und war Klassenbester, anstatt einem ausschweifenden Sexualleben zu frönen. Und nun soll er etwas über den G-Punkt wissen. Die menschlichen Lieben und Lüste, mit denen er in der Praxis konfrontiert wird, haben wenig mit dem zu tun, was er im Studium gelernt hat und er fragt sich, ob er zu wenig Kontakt mit «bösen Buben von der Strasse» hatte. Noch rätselhafter sind die Sexualitätsprobleme von Frauen, weil ja Frauen ohne diese Probleme schon rätselhaft genug sind. Er sucht fachliche Hilfe bei der erfahrenen Psychotherapeutin, weil er nicht versteht, dass die junge Frau, die sich über sexuellen Missbrauch in der Familie beklagt, einen Lolita-Look trägt und erfährt viel über Verführung sowie Verführtwerden. Er fragt auch, warum die misshandelte ältere Frau immer wieder zu ihrem Peiniger zurückgeht und ihm wird ein kleiner Blick in den Abgrund der Gewalt ermöglicht. Die Bondage-Wunden des Ehepaars verbindet er, den Analabszess des jungen Strichers eröffnet er, gegen die Geschlechtskrankheiten verteilt er Antibiotika und allen gibt er Ratschläge, die er sich selber erst in der Fachliteratur anlesen musste. Abends sieht er seine gute alte Ehefrau beim Putzen der Praxis. Ein Mix aus Liebe und Lüsternheit packt ihn. Im Moment, in dem die Partnerin ihn packt, umarmt und küsst, wird die Sexualität, die ihm den ganzen Tag über Probleme machte, weil er wenig bis nichts davon versteht, ganz einfach …

46 ARS MEDICI 2 ■ 2009