Transkript
FORTBILDUNG
Modelle/Konzepte interdisziplinärer Betreuung von Schwangeren mit neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen
Das Projekt PSYGYN SRO wurde in enger Zusammenarbeit zwischen der geburtshilflichen und der psychiatrischen Abteilung des Berner Regionalspitals SRO in Langenthal entwickelt. Das Projekt läuft seit einem Jahr und will den Bedürfnissen der Frauen und Familien begegnen, die während der Schwangerschaft an einer vorbestehenden psychiatrischen Störung leiden oder vor, während und nach der Geburt von einer peripartalen Krise beziehungsweise einer Anpassungsstörung betroffen sind.
Foto: zVg
Dorothea Hefti
von Dorothea Hefti
Einleitung
S chwangerschaft, Geburt und Beginn der Elternschaft sind für die meisten Frauen und Männer eine tief greifende Erfahrung und Veränderung. Der Übergang in diese neue Lebensphase verlangt eine hohe Anpassungsfähigkeit und ist deshalb störungsanfällig. Vorbestehende psychische oder psychosoziale Belastungen erhöhen das Risiko für eine peripartale Krise (1). Die postpartale Depression ist die häufigste Diagnose, die nach der Geburt gestellt wird. Dennoch werden die Symptome häufig verkannt oder tabuisiert. Die fordernden ersten Wochen nach der Geburt können ermüdend sein und eine Erschöpfung bewirken. Eine Abgrenzung zu einer depressiven Entwicklung ist nicht immer einfach. Erschwerend in der Diagnostik ist, dass Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft als freudiges Ereignis gelten. Ein Eingeständnis der jungen Mutter, dass Gefühle von Freudlosigkeit, Hilflosigkeit, Überforderung und Angst überwiegen, ist oft schwierig. Da solche Gefühle mit Scham und Schuld besetzt sind, werden sie selten geäussert. (2) Zudem kann eine Geburt früher erlittene Taumatisierungen reaktivieren. Laut der GFS-Bern-Studie, die Amnesty International 2018 in der Schweiz mit 4495 Frauen ab 16 Jahren durchführen liess (3), haben 12 Prozent der Frauen Geschlechtsverkehr gegen ihren eigenen Willen erlebt. Das sind insgesamt etwa 400 000 Frauen. Nur bei 697 kam es 2019 zu einer Anzeige. Bei dieser extrem hohen Dunkelziffer ist die Wahrscheinlichkeit gross, eine sexuell traumatisierte Frau in der Schwangerschaft und unter der Geburt zu begleiten. Es ist wichtig, das zu wissen und die Symptome zu erkennen, um diese Frauen fachgerecht betreuen zu können. Die nicht behandelte postpartale Depression kann jedoch zu schweren Bindungsstörungen zwischen dem Kind und der Mutter führen und in schweren Fällen mit Suizidalität einhergehen. Eine Sensibilisierung (Awareness) des Behandlungsteams ist essenziell (4), um sol-
che Entwicklungen zu erkennen und um supportiv wie auch prophylaktisch wirken zu können. Darüber hinaus braucht es massgeschneiderte Angebote und klare Konzepte für die Betreuung von Schwangeren mit manifester peripartaler Depression und vorbestehenden psychiatrischen Erkrankungen. Das Projekt PSYGYN SRO wurde entwickelt, um Betroffene situationsangepasst zu betreuen und bestmöglich zu unterstützen. Die Dringlichkeit für solche interdisziplinären psycho-gynäkologischen Projekte soll hier, ausgehend von beispielhaften Fallvignetten, deutlich gemacht werden.
Fall 1 Die ansonsten gesunde Muslima ist in der Schweiz aufgewachsen und gut gebildet. Sie wirkte aber eher introvertiert. Sie erlebte zwei problemlose Schwangerschaften und Geburten. In der Postpartalphase nach der zweiten Geburt traute sie sich nicht mehr, aus dem Haus zu gehen. Sie entwickelte eine angstdominierte depressive Störung. Die sehr engagierte niedergelassene Hebamme wurde aufmerksam. Sie setzte ihre supportive Betreuung mit einer verlängerten Wochenbettbetreuung fort und konnte die Patientin zu einer ambulanten Psychotherapie durch das psychiatrische Supportteam des PSYGYN SRO bewegen.
Fall 2 Schweizerin, beruflich etabliert als Controllerin in einem mittelgrossen Betrieb, verheiratet, Kinderwunsch. Die Schwangerschaft trat rasch ein und verlief bis auf Synkopen im letzten Trimenon unauffällig. Diese blieben sowohl neurologisch als auch vasomotorisch ungeklärt. Die Geburt verlief objektiv gut. Wegen einer Schmerzintoleranz wurde eine Periduralanästhesie (PDA) gelegt. Bei der Geburtsnachkontrolle nach 6 Wochen war alles unauffällig bis auf eine ausgeprägte Schlafstörung. Der Patientin wurde empfohlen, sich wieder zu melden, falls die Schlafproblematik anhalte, damit eine Entlastung erfolgen könne.
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Die Patientin meldete sich erneut, es kostete sie sehr viel Überwindung, über ihr Ergehen zu sprechen: Beim Legen der PDA, bei welcher der Kopf der Patientin festgehalten wurde, erlebte sie ein Flashback einer 15 Jahre zurückliegenden brutalen sexuellen Gewalterfahrung, die über Jahre nicht mehr in ihrem Bewusstsein war. Die Schlafstörung war verbunden mit Albträumen, einem Vermeidungsverhalten für alle Triggersituationen, und sie verlor Gewicht. In mehreren supportiven Gesprächen gelang es, die Patientin zu einer Psychotherapie zu motivieren. Eine lange traumatherapeutische Intervention folgte. Die Geburt des zweiten Kindes wurde gemeinsam mit der Hebamme im Rahmen eines runden Tisches besprochen. In dieser sehr schwierigen Situation gelang es durch vertrauensbildende Massnahmen, eine erneute Traumatisierung zu verhindern.
Fall 3 Die Patientin stellte sich mit Kinderwunsch vor. Bei ihr war eine Angststörung mit Somatisierung und Schlafstörung bekannt, sie wurde antidepressiv behandelt. Auf Wunsch der Patientin wurde die Medikation nach Rücksprache mit dem betreuenden Psychiater bei zu diesem Zeitpunkt stabilem Zustandsbild bereits präkonzeptionell abgesetzt (5). Mit phytotherapeutischer Unterstützung und supportiven Gesprächen wurde die Schwangerschaft gut erlebt, die Geburt verlief problemlos. Die vorbestehende Medikation wurde wenige Tage nach der Geburt wieder begonnen. Trotzdem entwickelte sich 4 Wochen postpartal eine schwere Depression. Eine entlastende Notfallaufnahme erfolgte in der Wochenbettabteilung. Von hier wurde die psychiatrische Hospitalisation in einer Mutter-Kind-Einheit organisiert. Ein mehrwöchiger Aufenthalt war nötig. Weil die Mutter initial nicht in der Lage war, das Kind zu versorgen, wurde es fremdbetreut. Sobald der Zustand der Mutter es zuliess, wurde intensiv an der Mutter-KindBindung gearbeitet. (6)
Das Projekt PSYGYN SRO ist ein Projekt, in dem protektive und prophylaktische Elemente vorrangig wirksam sind. Es beinhaltet zudem ein Krisenmanagement sowie ein psychoedukatives und psychotherapeutisches Angebot. Besonders kennzeichnend und wichtig für den Erfolg des Projekts ist die enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufsgruppen. Dazu zählen das Personal der Frauenklinik (Pflegepersonal, Hebammen, Ärzteschaft), das gynäko-psychiatrische Team der ambulanten psychiatrischen Dienste sowie der psychiatrische Liasiondienst. Zum Kernteam gehören der Stv. Chefarzt der Psychiatrie mit Oberärztin und Psychologinnen, die leitende Hebamme und die Stv. Chefärztin der Frauenklinik (Kasten). Die Vernetzung mit niedergelassenen Hebammen und Mütter-Väter-Beratung, Pädiatern, niedergelassenen Frauenärzten, Psychiatern, Hausärzten, umliegenden Mutter-Kind-Einrichtungen und der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des Projekts.
1. Runder Tisch Der runde Tisch dient dazu, für vorbestehende Probleme ein bestmögliches Management zu definieren.
Frau in
peripartaler Krise
Hebamme
MutterVaterBeraterin
Gynäkologe
Pädiater/ Hausarzt
Pflegeteam Wochenbett
PSYGYN SRO Support-Team Frauenklinik Support-Team Psychiatrie
Runder Tisch
Stationäre Krisenintervention
Frauenklinik
Ambulante Psychotherapie
MOAB
Psychiatrische Hospitalisierung
MutterKindHäuser
Sozialarbeiter
Familien Hebamme
Betreuender Psychiater/ Hausarzt
MutterVaterBeraterin
Abbildung: Ablaufschema des PSYGYN-SRO-Projekts (Quelle: D. Hefti)
Die Zuweisung erfolgt, wenn möglich präpartal, durch den betreuenden Frauenarzt, die betreuende Hebamme oder auch den Psychiater.
Die Zuweisungsgründe umfassen: l vorbestehende psychiatrische Erkrankung l Status nach traumatisch erlebter Geburt l psychosoziale Belastungssituationen l Substanzmissbrauch l Abklärung einer Kindsgefährdung
An den runden Tisch werden die Patientin, ihr Partner, die leitende Hebamme und je nach Fragestellung ein Vertreter des gynäko-psychiatrischen Teams, ein Geburtshelfer, ein Pädiater, ein Vertreter der sozialen Dienste oder der KESB eingeladen. Die Beschlüsse werden protokolliert, und erforderliche Massnahmen werden in die Wege geleitet.
2. Krisenmanagement Tritt bei einer Frau in der Schwangerschaft oder innerhalb der ersten 6 Wochen nach der Geburt eine psychi-
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sche Krise mit akutem Handlungsbedarf auf, ist eine Hospitalisation in der Frauenklinik des SRO möglich. Nach der Geburt erfolgt die Hospitalisation mit dem Kind. Das Ziel der kurzfristigen Hospitalisation ist die schnelle Entlastung der Patientin. Innerhalb einer Woche sollte gemeinsam mit dem gynäko-psychiatrischen Team eine Lösung für die Krise gefunden werden. Das kann eine psychiatrische Hospitalisation oder ein psychiatrisches Hometreatment (MOAB), die Unterbringung in einer Mutter-Kind-Einrichtung, eine ambulante psychiatrische Betreuung oder auch eine Intensivierung der Unterstützung durch das soziale Umfeld umfassen.
3. Ambulante Psychotherapie Ein spezieller Schwerpunkt liegt auf den Anforderungen an die Umstellung, die durch die Mutterschaft beziehungsweise Elternschaft entstanden sind. Ziele sind die Ressourcenidentifikation und -aktivierung, Stressmanagement und die Gestaltung der Mutter-Kind-Beziehung. Neben der ambulanten Psychotherapie im üblichen Setting besteht auch die Möglichkeit, die mobilen ambulanten psychiatrischen Dienste (MOAB) hinzuzuziehen. Dieses psychiatrische Hometreatment wird von Müttern mit Säuglingen sehr geschätzt.
Schulung des Personals Zur Sensibilisierung des Personals der Frauenklinik (Ärzte, Hebammen, Pflegende) wurden bisher drei Schulungen à 90 Minuten vom PSYGYN-Team durchgeführt. In einem vorrangig somatisch ausgerichteten Fach ging es darum, das Erkennen von Hinweiszeichen für eine peripartale psychische Störung zu fördern und die Angst vor Suizidalität zu reduzieren. Als Hilfestellung zur Identifizierung von postpartalen Depressionen wurden dem Team initial folgende zwei Fragen nach Whooley (7) mitgegeben. 1. Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niederge-
schlagen, traurig, bedrückt? 2. Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust
und Freude an Dingen, die Sie sonst gern tun? Es ist geplant, dass diese Schulungen weiterhin zweimal im Jahr von den Kollegen der Psychiatrie durchgeführt werden, mit dem Ziel einer weiteren Kompetenzentwicklung, aber auch zur Supervision in der Betreuung von Patientinnen. In Planung sind weitere Massnahmen, welche insbesondere prophylaktisch wirksam sein sollen (8): l Die Vorstellung der EPDS (Edinburgh Postpartum
Depression Scale) (9) im Team sowie die Implementierung im Austrittsmanagement der Wöchnerin l Thematisieren der peripartalen Krise im Geburtsvorbereitungskurs Geburtsvorbereitungskurse sind beliebte Einrichtungen, die vor allem von Erstgebärenden besucht werden. Neben Geburtsablauf, Wehenverarbeitung und Babypflege soll in diesen Kursen auch ein prophylaktisches Verhalten für Erschöpfungszustände und die Entstehung von postpartalen Depressionen thematisiert werden. Dazu gehören Aspekte wie Selbstpflege, Stressmanagement, Ressourcenaktivierung und Umgang mit überhöhten Ansprüchen an die eigene Person. Eine Schulung der Hebammen durch das gynäko-psychiatrische Team ist noch in Planung.
Zahlen Im Spital SRO Langenthal erfolgten im vergangenen Jahr 685 Geburten. Im ersten Jahr des Projekts PSYGYN SRO wurden 12 runde Tische durchgeführt, bei 33 Patientinnen wurde eine ambulante psychotherapeutische Behandlung begonnen, und 4 Frauen wurden wegen einer peripartalen Krise vorübergehend hospitalisiert. Somit wurden insgesamt 6 Prozent der geburtshilflichen Patientinnen im Rahmen einer peripartalen psychischen Krise betreut.
Ausblick
Nach dem ersten Jahr, in dem das Angebot auf Reso-
nanz und Nachfrage gestossen ist, soll es mit zweimal
jährlich stattfindenden Fortbildungen für das Spitalper-
sonal, aber auch für niedergelassene Hebammen, Müt-
ter-Väter-Beraterinnen und Ärzte weiter etabliert
werden. Zudem soll eine Vernetzung über die Region
hinaus stattfinden, sodass Einrichtungen, die ein Betreu-
ungsangebot für Frauen und Familien in einer Krise in
der Peripartalzeit haben, bekannt werden und genutzt
werden können.
In den Frauenkliniken der Zentrumsspitäler sind Betreu-
ungsangebote für die peripartale Krise etabliert.
Ein kantons- oder schweizweit vernetztes Angebot,
ähnlich der «Frühen Hilfe» in Deutschland, das auch Kur-
aufenthalte für erschöpfte Mütter beinhaltet, existiert in
der Schweiz nicht. Die Möglichkeit für einen Erholungs-
respektive Kuraufenthalt fehlt in der Schweiz gänzlich,
wobei dadurch in vielen Fällen eine Pathologisierung
und eine psychiatrische Hospitalisierung verhindert
werden können. Vor dem Hintergrund, dass 10 bis 15
Prozent aller Frauen im Peripartum in eine Krise geraten,
scheint es indiziert, ein spezifisches schweizweites Ver-
sorgungskonzept zu entwickeln (10).
l
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Dorothea Hefti
Stv. Chefärztin Frauenklinik
Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe
Schwerpunkt psychosomatische Medizin SAPPM
Spital SRO
4900 Langenthal
E-Mail: d.hefti@sro.ch
Kasten:
Kernteam des Projekts PSYGYN SRO
Dr. med. Manuel Moser, Chefarzt Psychiatrie Dr. med. Patrick Nemeshazy, Stv. Chefarzt Psychiatrie Dr. med. Irene Hertig, Oberärztin Psychiatrie Laura Mettler, Daniela Schmied, Franziska Meier, Psychologinnen Ruth Erhard, Leitende Hebamme Dr. med. Daniele Bolla, Chefarzt Frauenklinik Dr. med. Dorothea Hefti, Stv. Chefärztin Frauenklinik
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Referenzen: 1. M. Hofecker Fallahpour, Ch. Zinkernagel, U. Frisch, C. Neuhofer, R.-D.
Stieglitz, A. Riecher-Rössler: Was Mütter depressiv macht...und wodurch sie wieder Zuversicht gewinnen. Ein Therapiehandbuch, Verlag Hans Huber 2005. 2. Anke Berger et al.: Perinatal mental disorders in Switzerland: prevalence estimates and use of mental-health services, Swiss Med Wkly. 2017;147:w14417. 3. Gsf, Bern, Mai 2019, Sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt an Frauen sind in der Schweiz verbreitet. 4. Howard LM et al.: Non-psychotic mental disorders in the perinatal period. Lancet 2014; 384: 1775–1788. 5. Surbek D: Pränatalmedizinisch-geburtshilfliche Aspekte bei der Betreuung von psychisch kranken Schwangeren. In: Riecher-Rössler A (ed) Psychische Erkrankungen in Schwangerschaft und Stillzeit. Karger, Freiburg und Basel, 2012, S.17-27. 6. Schipper-Kochems S et al.: Postpartale depressive Störungpsychosomatische Aspekte. Geburtshilfe Frauenheilkd 2019; 9:375– 381. 7. Whooley MA et al.: Case-finding instruments for depression. Two questions are as good as many. J Gen Intern Med, 1997. 12(7): 439– 445. 8. Accott EE: It is time for routine screening for perinatal mood and anxiety disorders in obstetric and gynecology settings, Obstet Gynecol. Survey, 2017, Sept 72(9);553-568. 9. https://postpartale-depression.ch/images/media/pdf/downloads/ EPDS_deutsch.pdf 10. Ankica Ging, Postpartale Depression Symptomatik, Prävention, Therapie, Gynäkologie 1/2016.
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