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ERNÄHRUNG
Nahrungsmittel-Label und ihre Konsequenzen für die Gesundheit
Die Ernährungsberaterin Julia Oeschger hat im Rahmen ihres Masterstudiums an der ZHAW in Winterthur eine Studie zum Thema «Der Effekt von Nahrungsmittel-Labels auf die korrekte Einschätzung der Produktgesundheit» durchgeführt. Dabei hat sie den Zusammenhang zwischen der Entstehung chronischer Krankheiten und Ernährung behandelt und auch das derzeit umstrittene Ampelsystem Nutri-Score statistisch getestet. Im Interview gibt sie Auskunft, welchen Nutzen Nahrungsmittellabels für den Konsumenten tatsächlich bringen.
SZE: Nach welchen Kriterien entscheiden Konsumenten über den Kauf von Nahrungsmitteln? Julia Oeschger: In unserer Gesellschaft ist ein zunehmendes Interesse an Informationen zur Produktherkunft, Qualität und Unterstützung lokaler Anbieter bemerkbar. Gerade in der Schweiz spielt die nachvollziehbare Regionalität eine essenzielle Rolle. Die Konsumenten fordern eine höhere Transparenz hinsichtlich eines fairen Handels und der Inhaltsstoffe der jeweiligen Nahrungsmittelprodukte. Auch die CO2-Bilanz der Lebensmittel mit Mehrwert gewinnen immer mehr an Bedeutung. Das Preiskriterium ist zwar bei einigen Bevölkerungsschichten noch relevant, jedoch hat dessen Bedeutung gesamthaft abgenommen. Konsumenten unserer Gesellschaft sind generell bereit, mehr Geld für qualitativ hochwertige Produkte auszugeben, wenn das gefühlte Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Jedoch ist hierbei anzumerken, dass die Preissensibilität je nach Herkunft und Lebenseinstellung variieren kann. Auch das Biokriterium ist gerade bei gesundheitsbewussten Konsumenten entscheidend. Allerdings zeigen die neuesten Erkenntnisse, dass Regionalität vor Bio steht, was unter anderem durch den ökologischen Fussabdruck und die höheren Preise der Bioprodukte erklärbar ist.
Wie unterscheiden Konsumenten zwischen gesunden und ungesunden Produkten? Oeschger: Aufgrund der grossen Lebensmittelvielfalt, der überfüllten Supermarktregale und der Marketingtrends fällt es den meisten Konsumenten schwer, sich zu entscheiden, welche Produkte als gesund einzuordnen sind. Konsumenten recherchieren deshalb häufig im Internet oder fragen ihren Arzt um Rat, jedoch ist die Schulmedizin nicht ausreichend auf Ernährung fokussiert, sodass die Ärzteschaft hinsichtlich Ernährungsfragen nicht über die notwendigen Kenntnisse verfügt, um Patienten schulen zu können. Bei der Internetrecherche stossen Konsumenten zudem auf unzählige unterschiedliche Resultate, was zu einer grossen Verwirrung führt. Für die meisten Menschen ist Gesundheit das höchste Gut, jedoch führt die Diskussion über gesunde Produkte oft zu Missverständnissen, da die Definition von Gesundheit je nach Individuum und Rahmenbedingungen divergent ist.
Deshalb verlassen sich die meisten Konsumenten auf Qualitätssiegel, Marketing-Claims und die Nährwerttabelle. Diesbezüglich vor allem auf die Angabe von Kilokalorien auf den Produktverpackungen. Jedoch bedeutet weniger Kalorien nicht gleich gesünder. Produkte, die beispielsweise viele gesunde Fette enthalten, wie Nüsse oder Avocados, haben oft mehr Kalorien, obwohl sie für den menschlichen Organismus gesünder sind als Diätprodukte mit Emulgatoren und Geschmacksverstärkern. Marketing-Claims wie «regional» oder «vegan» sind oft nicht rechtlich geschützt, und auch Qualitätssiegel lassen viel Interpretationsspielraum offen. Demnach ist festzuhalten, dass bei fehlendem ernährungswissenschaftlichem Know-how die Konsumenten sich auf die sogenannten Front-of-Packages-Labels (FoPLs) und Nahrungsmittel-Labels verlassen müssen.
Würden Nährwertkennzeichnungen dabei helfen, dass Konsumenten bessere und einfachere Entscheidungen treffen könnten? Oeschger: Ja. Die Evidenz deutet klar darauf hin, dass FoPLs den Konsumenten dabei helfen, die Produktgesundheit besser zu differenzieren, und dabei unterstützen, gesündere Kaufentscheidungen am Point-ofSale zu treffen. Die Sortimentsverwirrung und die Produktvielfalt sind weiterhin eine Herausforderung für die Konsumenten, weshalb verständliche Nährwertkennzeichnungen notwendig sind, um Klarheit zu schaffen.
Welche Art von FoPL würde dabei am effektivsten die Einschätzung der Produktgesundheit verbessern und weshalb? Was schreckt Konsumenten eher ab oder irritiert sie? Oeschger: Einfach verständliche FoPLs mit farblichen Kennzeichnungen und wenigen zahlenbasierten Informationen, die eine Gesamtevaluation zu der Gesundheit des Produkts enthalten, würden die Einschätzung der Produktgesundheit am effektivsten verbessern. Weshalb? Mehrere Studien dokumentieren, dass Konsumenten Schwierigkeiten haben, quantitative, zahlenbasierte Informationen zu verstehen, besonders wenn Fakten zur täglichen Tageszufuhr gegeben werden, wie es derzeit der Fall ist. Quantita-
Julia Oeschger
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1|2020 23
ERNÄHRUNG
Abbildung: Flowchart der Randomisierung dieser experimentellen Studie. Das Gesamtsample beinhaltete 958 Teilnehmer, die den Umfragelink angeklickt haben. 774 Teilnehmer beendeten die Umfrage (Beendigungsquote 80,70%). Innerhalb des Gesamtsamples überwog der Frauenanteil mit 62 Prozent. Die grösste Altersgruppe war zwischen 21 und 30 Jahre alt (54,26%). Die meisten Probanden stammten aus der Schweiz (n = 467), danach folgen Deutschland (n = 297), Frankreich (n = 6), Österreich (n = 2) und andere Nachbarländer (n = 2).
tive Deklarationen, wie die sogenannten ReferenceIntakes-(RI-)Labels, schrecken den Konsumenten eher ab und irritieren sie.
Wie sollte die Beschriftung auf dem Produkt bestenfalls aussehen? Oeschger: Die FoPLs sollten wenige bis keine zahlenbasierten Angaben enthalten. Evidenzbasierte Studien und systematische Reviews bestätigen, dass Nahrungsmittellabels mit Ampelfarben von den Konsumenten am besten verstanden werden: je grüner die Kennzeichnung, umso gesünder das Produkt. Des Weiteren sollte die Kennzeichnung gross genug, klar ersichtlich und auf der Vorderseite der Produktverpackung platziert sein, damit sie überhaupt wahrgenommen wird.
Experten sagen, dass die Einführung von Nährwertkennzeichnungen wie Nutri-Score im besten Fall dazu führen wird, dass die Industrie die Rezepturen ihrer Produkte ändert, damit diese gesünder werden. Einen grossen Beitrag für eine ausgewogenere Ernährung sollte man sich aber von Nährwertkennzeichnungen nicht erhoffen. Sind Sie der gleichen Ansicht? Oeschger: Ich befürworte, dass die Industrie durch die Einführung des Nutri-Scores unter Druck steht und man zu einer Optimierung der Rezepturen gedrängt wird, um gesunde Deklarationen zu erhalten. Einen Beitrag zur ausgewogenen Ernährung kann nur gewährleistet werden, wenn die Konsumenten sich nicht einseitig ernähren, sondern versuchen, ihr Nährwertprofil mit unterschiedlichen Produkten abzudecken. Ich denke, dass der Nutri-Score eine gesündere Ernährungsweise fördern kann, jedoch nicht die Ausgewogenheit innerhalb der Ernährung tangiert. Somit unterstütze ich die Ansicht und möchte darauf hinweisen, dass das Wissen hinsichtlich einer ausgewogenen Ernährung mehr in das Bildungsprogramm unserer Gesellschaft implementiert werden sollte.
Wie war Ihre Forschungsarbeit aufgebaut? Was macht diese aussagestark? Oeschger: Meine experimentelle Studie untersuchte anhand kontrollierter Randomisierung und eines Between-Subject-Studiendesigns den Effekt der FoPLs Nutri-Score und Reference-Intakes auf die korrekte Einschätzung der Produktgesundheit. Eine NoLabel-Gruppe wurde als Kontrolle verwendet. Das Experiment wurde mittels eines Onlinefragebogens durchgeführt. Um die Einschätzung der Produktgesundheit zu operationalisieren, wurden drei Produkte einer homogenen Produktkategorie, deren Nährstoffprofile jedoch stark variieren, den Probanden mittels eines Onlinefragebogens präsentiert. Diese wurden daraufhin gebeten, die Produkte nach ihrer Produktgesundheit (Nährstoffqualität) einzuordnen. Einleitend informiert meine Forschungsarbeit ebenfalls über die kontroverse Welt der Nährwertkennzeichnungen und den Zusammenhang zwischen der Entstehung chronischer Krankheiten und Ernährung. Neben der Darlegung der empirischen Methodik, den Forschungsergebnissen und der Diskussion beinhaltet die Forschungsarbeit Handlungsempfehlungen für Industrie, Politik und Konsumenten. Im Vergleich zur bisherigen Evidenz macht die Studie deutlich, dass nicht nur eine statistische Datenauswertungsoption gewählt wurde, sondern zwei in der Theorie bedeutende Anwendungsverfahren, die Varianzanalyse und die OLS-Regression, bei der statistischen Auswertung integriert wurden. Die Arbeit leistet einen grossen Beitrag hinsichtlich der Schliessung der noch derzeitigen Evidenzlücke des Nutri-Scores. Die derzeitige Evidenz zum Nutri-Score wurde nicht nur zusammengefasst, sondern auch kritisch analysiert, sodass ich Schwachstellen und Priming-Effekte bei bisherigen Studien identifizieren konnte, wobei ich versuchte, diese bei meiner Studie zu vermeiden. Um jedoch zu entscheiden, ob der Nutri-Score in der Praxis als einheitliche Kennzeichnung etabliert werden soll, sind weitere Evaluationen notwendig, welche ebenfalls die Kosten einer Einführung mitberücksichtigen.
Frau Oeschger, wir danken Ihnen für das Interview. Das Interview wurde schriftlich geführt.
Korrespondenzadresse: Julia Oeschger MSc Business Administration Health Economics & Health Care Management Langackerstr. 11 CH-4142 Münchenstein oeschger.julia@gmx.net Geschäftsstellenmanagerin für Schweizer Ärztegesellschaften bei IMK (Institut für Medizin und Kommunikation, Basel). Mitglied: foodsharing e.V., Schweizerische Gesellschaft für Ernährung (SGE)
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