Transkript
LANDARZTGLOSSE
Zu wenig oder zu viel Haare?
von Dr. med. Jürg Weber*
K aum etwas lässt heute darauf schliessen, dass die Coiffeure und wir Landärzte im Beruf des einstigen Feldschers eine gemeinsame Vergangenheit haben. In einer dreijährigen Ausbildung beim Barbier erlernten die des Schreibens und Lesens meist unkundigen «Handwerksärzte» eher nebenbei, wie man schröpft, amputiert, Gliedmassen einrenkt und Kugeln entfernt. Denn im Heer waren sie auch für das Rasieren der Offiziere zuständig. In der Hierarchie standen sie hinter den Trommlern und Pfeifern. Zwischenzeitlich haben sich ihre Wege getrennt. Die Coiffeure stehen im täglichen Kampf gegen das unablässige Nachwachsen der 100 000 Hornfäden aus Keratin, die sich durchschnittlich auf dem Kopf befinden. Wir Landärzte hingegen befassen uns in der Sprechstunde vornehmlich mit Haaren, wenn Patienten kommen, die befürchten, sie hätten eine Hormonstörung oder einen Mangelzustand. Medizinisch von Bedeutung sind zu viele oder zu wenig Haare allerdings nur selten, etwa als Begleiterscheinung einer Krankheit oder bei einer Schädigung der Haarwurzeln. Doch gilt der Grundsatz: Wer das Gefühl hat, mit seiner Behaarung stimme etwas nicht, hat Anspruch auf Abklärung und Beratung. Während sich die einen nach Ausschluss einer krankhaften Ursache zufrieden geben, machen sich andere auf die Suche nach der idealen Methode, um den subjektiv empfundenen Missstand in die gewünschte Richtung zu korrigieren.
Die grosse Bedeutung der Haartracht kommt auch darin zum Ausdruck, dass eine
Kahlrasur wie auch eine Perücke auf die gesellschaftliche Position oder den Beruf des Trägers hinweisen können. Aus medizinischer Sicht begegnen uns Perücken heute nur noch in Zusammenhang mit den glücklicherweise meist vorübergehenden Auswirkungen bei Krebstherapien. Während mancher Professor seine Glatze mit Stolz pflegt und trägt, unterziehen sich andere Kahlköpfige einschneidenden Massnahmen wie Haartransplantationen, um den vermeintlichen Makel des ungebührlich früh eingetretenen Alterungsprozesses zu vertuschen. Wer sich hingegen noch einer Haartracht erfreut, pflegt sie meist entsprechend, aber man kann natürlich auch mit einem Minimum an Aufwand durchkommen. Para-
debeispiel hierfür ist der Struwwelpeter, dessen gesellschaftliche Inakzeptanz von seinem Erfinder in erzieherischer Absicht mit den Worten «garstig» und «pfui»
kommentiert wurde. Die Haare und alles, was damit zusammenhängt, beschäftigen uns, täglich und selbstverständlich, ein Leben lang. Bei der Einfahrt in unser Dorf wird mir ein möglicher Grund klar, weshalb ich in der Praxis so selten mit ernsthaften Haarproblemen konfrontiert werde. Unten am Silo der Schälmühle, mit dem Zwerg und der Ähre im Logo, prangt ein Plakat für Hirse. Diese soll, reich an Mineralstoffen, einen wertvollen Beitrag für gesundes und volles Haar leisten. Der Begriff «Hirse» wird übrigens auf das alt-
germanische «hirsi» zurückgeführt, was sättigend und nahrhaft bedeutet. Dass bei Frauen ein Zuviel an Behaarung als Hirsutismus bezeichnet wird, hat aber nichts mit der Hirse zu tun und ist ein Zufall, stammt doch dieser Begriff von hirsutus (haarig) ab. Wie wir gesehen haben, ist das Spektrum, was in Bezug auf Haare als normal, schön und akzeptabel angesehen wird, sehr gross und die Grenzen sind fliessend. Meine Aufgabe ist es, dies unnötig besorgten Patienten darzulegen.
*Jürg Weber ist Hausarzt mit einer Praxis in Wigoltingen (TG).
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ILLUSTRATION WA-DESIGN